Heute in den Feuilletons

Erwünschte Meinungen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2010. Die NZZ resümiert den Streit zwischen Herta Müller und rumänischen Intellektuellen über die Rolle der letzteren unter Ceausescu. Im Perlentaucher analysieren Jens-Martin Eriksen und Frederik Stjernfelt die Symptome des Kulturalismus auf der Linken wie der Rechten. Die taz interviewt den Historiker Moshe Zimmermann zur Rolle des Auswärtigen Amtes in der Nazizeit. Die SZ rät angesichts bodenloser Zustände zum Urban Gardening. Deutsche Debatten? Zum Gähnen, findet Hans Ulrich Gumbrecht in der Welt.

NZZ, 27.10.2010

Heute morgen war die NZZ noch nicht online, hier unser Resümee erst einmal unverlinkt.

Herbert Gruenwald schildert, wie beleidigt die rumänischen Intellektuellen auf Herta Müllers Vorwürfe reagieren, sie hätten sich unter Ceausescu in einen apolitischen Eskapismus geflüchtet und jede Kritik am Regime fehlen lassen. Die Reaktion des rumänischen Philosophen Gabriel Liiceanu spricht Bände: "Sein Dialog mit der Nobelpreisträgerin Herta Müller auf der Bühne des rumänischen Athenäums, des Bukarester Kulturtempels schlechthin, sei gar nicht authentisch gewesen, denn er habe es sich verkneifen müssen, 'all das zu sagen, was ihm durch den Kopf ging', um den Geboten der Höflichkeit als Gastgeber und Verleger der Autorin zu genügen."

Weitere Artikel: Joachim Güntner begrüßt den Bericht der Historikerkommission zur Rolle des Auswärtigen Amts im Nationalsozialismus. Uwe Stolzmann freut sich über die Wiederentdeckung des argentinisch-uruguayischen Klassikers Horacio Quiroga. Gabriele Detterer setzt für die Zukunft Mailands auf den Architekten und Stadtplaner Stefano Boeri, den Bürgermeisterkandidaten des Mitte-Links-Bündnisses.

Besprochen werden eine Plakat-Ausstellung im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, Barbara Goldsmith' Biografie der Physikerin Marie Curie und Nava Semels Kurzgeschichten "Liebe für Anfänger" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Perlentaucher, 27.10.2010

Die beiden dänischen Autoren Jens-Martin Eriksen und Frederik Stjernfelt analysieren die Symptome des Kulturalismus, also einer Ideologie, die heute in Reaktion auf den Islam in beiden politischen Lagern den Blick verstellt - auf der Rechten, die eine "Leitkultur" will wie auf der Linken, die fürs Kopftuch eintritt: "Dieser schrille Wechselgesang von Partikularismen, bei dem das Erstarken des linken Kulturalismus der kulturalistischen Rechten weitere Wähler in die Arme treibt und umgekehrt, sollte jedoch niemanden zu dem Schluss verführen, die wesentliche Konfliktlinie der heutigen Politik verlaufe zwischen den Kulturalismen der Linken und der Rechten. Im Gegenteil, der eigentliche Konflikt besteht zwischen Aufklärung und Kulturalismus."

Aus den Blogs, 27.10.2010

Gawker warnt vor Firesheep: "A new Firefox extension lets anyone sharing an open wireless network at your neighborhood cafe or workplace easily access your Facebook, Twitter and myriad other online accounts. It's a terrifying tool designed to highlight a longstanding problem." Mehr dazu auch bei zeit.de.
Stichwörter: Gawker, Sharing, Twitter, Firefox, Tool

Welt, 27.10.2010

Deutsche Debatten? Zum Gähnen, findet der Kulturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht im Interview. Nie eine Überraschung und dann immer diese Rechthaberei! "Nehmen Sie das, wie die Kanzlerin zum Fall Sarrazin gesprochen hat: Das sei 'nicht hilfreich' und eine 'unerwünschte Meinung'. Großartig! Wenn es mal einen Austausch gibt, dann bitte nur mit erwünschten Meinungen. Wenn du die Meinung artikulierst, die unerwünscht ist, verlierst du deinen Job. Das ist genau das, worüber wir hier sprechen: das Symptom der 'erwünschten Meinung'."

Außerdem: Klaus Wowereit möchte eine Beweisausstellung organisiert bekommen, die der Welt vorführt, dass die in Berlin lebenden Künstler toll sind. Kuratoren werden sein Klaus Biesenbach, Hans-Ulrich Obrist und Christine Macel, meldet ack.. Besprochen werden der Film "Jackass 3D", Nicholas Carrs Klagearie über die Auswirkungen des Internets auf unser Hirn "Wer bin ich, wenn ich online bin ..." (die Peter Praschl ziemlich wehleidig findet) und einige CDs.

FR, 27.10.2010

Im Interview mit Joachim Frank spricht die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger über die neue Wucht des Religiösen: "Die religiöse Aufladung gesellschaftlicher Probleme hat in jüngster Vergangenheit massiv zugenommen: Vor 20 Jahren haben die türkischen Frauen hierzulande keine Kopftücher getragen, heute tun sie es - und zwar um ihren Glauben zu demonstrieren. Das führt umgekehrt dazu, dass sich jetzt Leute auf die jüdisch-christlichen Wurzeln unserer Gesellschaft berufen, die eigentlich alles andere als religiös sind. Da schaukelt sich etwas in gefährlicher Weise auf."

Weitere Artikel: Die Soziologin Alexandra Manzei erklärt auf zwei Seiten, warum der Hirntod als entscheidendes Todeskriterium in Frage gestellt wird. Christian Schlüter durchkämmt den CDU-Programmentwurf zur Leitkultur.

Besprochen werden Paolo Contes neues fellineskes Album "Nelson", Oksana Sabuschkos Buch "Museum der vergessenen Geheimnisse" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 27.10.2010

Im Interview macht der Historiker Moshe Zimmermann, Mitautor des Berichts "Das Amt und die Vergangenheit", noch einmal ganz klar, dass das Auswärtige Amt im Dritten Reich keineswegs ein Hort passiven Widerstands gegen Hitler war: "Als das systematische Morden begann, waren deutsche Diplomaten überall in Europa daran beteiligt. Sie organisierten und koordinierten die Deportation in die Lager. Das gilt für ganz normale Botschafter, Gesandte, ihre Mitarbeiter, etwa in Bulgarien, Griechenland oder der Slowakei." Überrascht hat Zimmermann, "wie viel schon seit dem Wilhelmstraßenprozess 1947 bekannt war und wie viel einfach nicht wahrgenommen wurde. Weil der Mythos vom sauberen Auswärtigen Amt bleiben musste."

Der bosnisch-kroatische Autor Edo Popovic, dessen 24 Jahre alter Debüroman "Mitternachsboogie" gerade auf Deutsch erschienen ist, erzählt im Interview, dass er während der Jugoslawienkriege als Journalist gearbeitet, diesen Job aber später sehr gern aufgegeben hat. "Gute, also aufrichtige Literatur zu schreiben heißt, alles zu vergessen, vor allem das Interesse. Um das Interesse, das auch immer irgendwie mit Politik verbunden ist, kreist der Journalismus. Die Literatur aber ist ausschließlich dem Leser gegenüber verantwortlich. Der Journalismus in Kroatien ist am wenigsten dem Leser gegenüber verantwortlich, sondern den großen Werbeanzeigen, politischen und anderen Interessengruppen, Kriminellen und sogenannten Businessmen."

Besprochen werden Wolfgang Herrndorfs Roadnovel "Tschick", Alex Robinsons Comic "Unvergessene Zeiten" und der Film "Jackass 3D" ("Von der Digitaltechnologie geht für das Menschenbild keine neue Klassik aus", notiert Thomas Groh).

Schließlich Tom.

SZ, 27.10.2010

Alex Rühle führt mit dem Geologen David R. Montgomery, Autor des Buchs "Dreck - Warum unsere Zivilisation den Boden unter den Füßen verliert" ein interessantes Gespräch über die Zerstörung einer Ressource, die uns wenig bewusst ist: des Bodens. Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung, so Montgomery, bleibt am Ende nur das Urban Gardening: "Es wird Ihnen gar nichts Anderes übrigbleiben als Tomaten zu ziehen. Gerade weil allein in den letzten 20 Jahren fast ein Viertel der globalen Landmasse degradiert ist. Und weil die konventionelle Landwirtschaft mit Kunstdüngern und langen Transportwegen auf Öl beruht. Noch nichts davon gehört? Das geht zur Neige."

Weitere Artikel: Es ist schlimm - der amerikanische Essayist Mark Lilla verglich die französischen Proteste für Rente mit 60 mit der amerikanischen Tea-Party-Bewegung (wir berichteten hier, hier ein weiterer Artikel Lillas über die "Tea Party Jacobins" und hier eine Reaktion auf Reaktionen). Andreas Zielcke ist empört über so viel von der SZ nicht approbierte Gedankenfreiheit, denn: "Die einen sind fremden-, schwulen- und wissenschaftsfeindlich und für ökologische Rücksichtslosigkeit, die anderen (zumindest ideologisch) auf der Gegenseite." (Aber welche meint er jetzt?) Jörg Häntzschel erzählt, wie es in den Museen von Los Angeles zugeht, die von ihren Geldgebern auch programmpolitisch abhängen.

Besprochen werden Peter Guyers und Norbert Wiedmers Dokumentarfilm "Sounds and Silence" (mehr hier) über den Musikproduzenten Manfred Eicher und sein Label ECM, Dennis Kellys Stück "Waisen" in Basel und Bücher, darunter die Memoiren des englischen Gitarristen Keith Richards.

FAZ, 27.10.2010

Die französische Regisseurin Claire Denis, der in Berlin gerade eine große Retrospektive gewidmet wurde, spricht im Interview über ihre Filme und ihren Wunsch nach einem echten Gegner vom Format eines Hollywoodmoguls: "Die Problematik, in unserer Art Filme zu machen, liegt darin, dass wir gegen uns selbst kämpfen. Wir haben keinen richtigen Boss. Das ist schrecklich. Wenn ich einen Traum hätte, dann würde ich gern als eine Art Don Siegel wiedergeboren werden."

Zum Beginn der Hofer Filmtage blickt Rüdiger Suchsland auf den alles andere als ermutigenden Stand der Dinge im deutschen Filmbetrieb. In der Regel gelte da heute: Geförderte Überproduktion stößt auf lähmendes Desinteresse des Publikums. Und für alles künstlerisch Avancierte gilt das leider erst recht, sagt ihm der Münchner Produzent Peter Heilrath: "Was die Privatsender mit der Erzählkultur und dem Geschmack angerichtet haben, ist vernichtend für die deutsche Kinokultur."

Weitere Artikel: Mark Siemons skizziert, wie die durch den Friedensnobelpreis für Liu Xiaobo wieder ganz aktuellen Thesen zum politisch-ethischen Sonderweg und also zur Haltung zum Westen derzeit in China diskutiert werden. Wiebke Hüster erklärt, warum es ein Skandal ist, dass in Belgien das Königliche Ballett von Flandern seine Selbstständigkeit verlieren soll - und sie warnt, dass die Situation in Deutschland fürs Ballett keineswegs rosig ist. In der Glosse ist auch Daniel Haas dank Twitter jetzt endlich auf den Trichter gekommen, dass Ernie und Bert - das offenste Geheimnis der Kinderprogrammsexualität - schwul sind. Bert Rebhandl nimmt noch einmal den Film "Wundkanal" des kürzlich verstorbenen Autors und Regisseurs Thomas Harlan in den Blick. Dieter Bartetzko schreibt zum Tod Andrzej Tomaszewskis, des ehemaligen Generalkonservateurs von Polen.

Besprochen werden die Kinderopernversion von Hans Christian Andersens "Schneekönigin" an der Komischen Oper Berlin, die Ausstellung "Verbotene Liebe: Kunst im Sog von Fernsehen" im Kölnischen Kunstverein und Bücher, darunter Jean Rolins Roman (Leseprobe) "Boulevard Ney" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).