Heute in den Feuilletons

Geschmackvoll beleuchtet der Stahlhelm

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.11.2010. Die FR rügt die Hartherzigkeit des Zentralrats der Juden gegenüber Israelkritiker Alfred Grosser. Matthias Küntzel wirft dem Auswärtigen Kulturausschuss des Bundestags Anbiederung an den Iran vor. In der FAZ schreibt Mina Ahadi über die möglicherweise bevorstehende Hinrichtung Sakineh Ashtianis. Clay Shirky erklärt Rupert Murdoch, warum die Paywall keine Lösung ist. Rue89 ist eindeutig: Jean-Luc Godard ist kein Antisemit, man versteht ihn nur miss.Die SZ wundert sich über die Gewerkschaft Ver.di, die Urheberrechtsverstöße so scharf ahnden will wie Kinderpornografie. In der NZZ erklärt Jean-Luc Godard: "Das Urheberrecht ist eine Fiktion."

FR, 09.11.2010

Christian Thomas räumt zwar ein, dass Alfred Grossers Kritik an Israel harsch, manchmal zu harsch ausfällt. Aber soll er deswegen nicht in der Paulskirche zum 9. November reden? "Wenn jetzt ein so besonnener Intellektueller wie der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Salomon Korn, Grosser in einem Fernsehinterview als 'nützlichen Idioten' bezeichnet hat (und dabei obendrein suggeriert, Grosser sei nicht nur funktionalisiert, sondern vorgeschickt worden), dann ist das von radikaler Hartherzigkeit und Hybris gegenüber einem Mitglied der Erlebnisgeneration, einem Frankfurter Exilanten. Allein die Hybris scheint Grosser in seinem Urteil zu bestätigen: 'Sobald einer die Stimme gegen Israel erhebt, heißt es sofort Antisemitismus.'" (Hier Richard Herzingers Vorwürfe gegen Grosser)

Ein wenig befremdlich findet Judith von Sternburg die große Jünger-Ausstellung im Marbacher Literaturachiv ("geschmackvoll beleuchtet der Stahlhelm") und Martin Walsers Eröffnungsrede: "Nun kann man vieles über Ernst Jünger sagen, ihn aber zu einem von der Welt schlecht Behandelten zu machen, ist schon witzig (und wem nicht nach Lächeln zumute wäre, müsste es ignorant nennen)."

Besprochen werden das Life-and-Times-Projekt des Nature Theatres of Oklahoma, die Ausstellung zum Internationalen Hochhauspreis im Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt, die Konzerte beim JazzFest Berlin 2010, James Blunts neues Album "Some Kind of Trouble" und Monika Marons Essays zur Einheit "Zwei Brüder" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 09.11.2010

Von Godard gibt es zwar eine Menge einschlägiger Äußerungen (mehr hier), aber ein Antisemit ist er nicht, das sei ein Missverständnis, meint Antoine de Baecque, Autor einer Biografie über Saint Jean-Luc in Rue89. "Dieses Gerücht ist ein falsches Klischee über einen Regisseure mit einem unvergleichlichen Werk und dient als ein Makel, der seine Filme, seine Schriften, sein Denken und die Person des Regisseurs beflecken soll." Um dann zu leugnen, dass Antisemitismus antisemitisch ist: "'Die Juden machen mit den Arabern, was die Nazis mit den Juden gemacht haben'", ruft Godard 1975 in 'Ici et ailleurs' aus. Ein Satz von extremer Gewalt, gewiss, aber absolut banal im Zusammenhang des propalästinensischen Engagements der französischen Linken nach dem Siebentagekrieg. ein Satz, der auch nicht auf 'den Juden' als Volk zielt sondern auf seine Inkarnation als Staat Israel." Mehr dazu in der New York Times (hier) und in der Los Angeles Times (hier).

Matthias Küntzel wirft auf seiner Wegbsite noch einmal einen Blick auf die Reise des Auswärtigen Kulturausschusses im Bundestag in den Iran, wo man sogar mit dem holocaustleugnenden Außenminister Manutschehr Mottaki sprach: "Während das Ahmadinejad-Regime somit überall da, wo es international kritisiert wird, der deutschen Delegation gegenüber hart blieb - ob beim Thema Atomprogramm, beim Thema Menschenrechte oder bei Israel - gab die deutsche Delegation bei all den Fragen, die für das Regime relevant sind - Spaltung des Westens, Schönfärbung der Theokratie, Ausbau der Zusammenarbeit - nach. 'Es geht nicht um eine Anbiederung an das Regime', beeilte sich Claudia Roth nach Abschluss dieser Reise zu erklären. Dabei war es eben genau das, was die Delegation tat."

Murdoch und Co, die ihre Zeitung hinter einem Paywall verschanzen, haben die Hoffnung, dass sie so ihr Geschäftsmodell unverändert ins digitale Zeitalter übertragen können. Aber Veränderungen gibt es so oder so, meint Clay Shirky: "Rather than simply shifting relative subsidy from advertisers to users for an existing product, they are instead re-engineering the Times around the newsletter model, because the paywall creates newsletter economics. ... This re-engineering suggests that paywalls don?t and can?t rescue current organizational forms. They offer instead yet another transformed alternative to it. Even if paywall economics can eventually be made to work with a dramatically reduced audience, this particular referendum on the future (read: the present) of newspapers is likely to mean the end of the belief that there is any non-disruptive way to remain a going concern."

NZZ, 09.11.2010

Auf der Medienseite widerspricht der Internet-Unternehmer Denis Nordmann Mathias Döpfners Vorstellungen vom Leistungsschutzrecht ("Wer liberal ist, verteidigt geistiges Eigentum"): "Wie die Leserschaft von NZZ Online nach der Publikation von Döpfners Votum schrieb, wurde Mozart - entgegen Döpfners Behauptung - nicht verarmt vor der Stadt verscharrt. Mozart hatte wie viele Künstler damals ein unregelmäßiges Einkommen, konnte sich jedoch eine Magd und den weiteren seiner gesellschaftlichen Stellung entsprechenden Luxus leisten. Er wurde dem damaligen Bestattungsbrauch gemäß im St. Marxer Friedhof beerdigt. Zudem wären Erträge aus einem Leistungsschutzrecht nicht ihm, sondern seinen Auftraggebern zugutegekommen."

Im Feuilleton macht uns Omar Gisler klar, dass das Tessin so beneidenswert nicht ist: Villenmangel, Bausünden und Filmstars machen ihm zu schaffen. Besprochen werden die Ausstellung "Lenin, Stalin und die Musik" in der Cite de la musique in Paris, Herfried Münklers Schrift "Mitte und Maß", Mundartromane von Pedro Lenz und Ermanno Cavazzonis Band "Das kleine Buch der Riesen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)

In der NZZ am Sonntag fand sich überdies ein Interview mit Jean-Luc Godard, der erklärt, warum er sich nicht für den Ehren-Oscar interessiert und sich auch zum Urheberrecht äußert: "Ich finde, man sollte für Arbeit bezahlt werden, nicht für die Verwertung seines Produktes. Dann wird es nämlich kompliziert: Wenn Ihre Zeitung ehrlich wäre, müsste sie mir für dieses Gespräch ein Honorar bezahlen, weil ich hier die hauptsächliche Arbeit leiste. Sie wird es nicht tun. Sie sehen also: Das Urheberrecht ist eine Fiktion."

Welt, 09.11.2010

Jünger-Biograf Heimo Schwilk wandert durch die Jünger-Ausstellung in Marbach und findet sie etwas heroisierend: "Dem aufmerksamen Besucher dieser Ausstellung will es scheinen, als wollten die Kuratoren Jüngers vielbeklagte 'Kälte' durch diese Verengung des 'militärischen' Blickes noch überbieten - wo doch Jünger seine aggressive Antibürgerlichkeit, wie sie sich in den Schriften 'Die totale Mobilmachung', 'Über den Schmerz' und 'Der Arbeiter' zeigte, durch den Rückzug in familiäre, ja geradezu biedermeierliche Schutzräume selbst ständig konterkarierte."

Weitere Artikel: Bei Grabungen in Berlin fand man elf Skulpturen der Klassischen Moderne, die den Nazis als "entartet" galten und die jetzt Neuen Museum ausgestellt werden, berichtet Gabriele Walde. Sascha Lehnartz gratuliert Michel Houellebecq zum Prix Goncourt. Laura Ewert gratuliert Bibi Blocksberg zum Dreißigsten. Elmar Krekeler schreibt zum Tod der gefeierten Dostojewski-Übersetzerin Svetlana Geier (hier ein wunderbares Foto von ihr).

Auf der Magazinseite erzählt Thomas Kielinger, wie sich eine Studentin des London King's College im Internet von dem muslimischen Hassprediger Anwar al-Awlaki inspirieren ließ, den Labour-Abgeordneten Stephen Timms niederzustechen.

TAZ, 09.11.2010

In der epischen Serie zur Lage der Popkritik berichtet Klaus Walter nach heftiger Kritik an den öffentlich-rechtlichen Radios über seine Arbeit beim Internetradio ByteFM: "Bei ByteFM läuft seit einigen Monaten der Versuch, ein halbwegs aktuelles tägliches Popkulturmagazin von zwei Stunden zu produzieren. Von dem Geld, das in diese zwei Stunden fließt, könnte ein Radiofeuilleton wie Deutschlandradio Kultur ungefähr zwei Minuten senden."

Besprochen werden eine Dramatisierung des "Zauberbergs" durch Sebastian Hartmann in Leipzig, Ereignisse der Duisburger Filmwoche und eine Jubiläumsshow von Romy Haag.

Schließlich Tom.

Tagesspiegel, 09.11.2010

Die Soziologin Saskia Sassen denkt über Potenziale des Netzes für bürgerliches Engagement nach: "Je stärker das Netz für zivilgesellschaftliche Gruppen an Bedeutung gewinnt, desto wichtiger ist es demnach, die Bedingungen zu verbessern, unter denen sie online zusammenarbeiten. Das heißt einerseits, die Netzwerke von innen möglichst effektiv zu gestalten. Das heißt aber auch, Technologien verfügbar zu machen, die auch unabhängig von kommerziellen Interessen funktionieren, Technologien, die in der Hand der Zivilgesellschaft sind."
Stichwörter: Sassen, Saskia

SZ, 09.11.2010

Dirk von Gehlen greift die von Irights.info angestoßene Debatte um ein Papier der Gewerkschaft Verdi auf, die drastische Maßnahmen gegen Urherrechtsverstöße fordert: "Verdi will das Gesetz nicht an die neue Realität anpassen, sondern vielmehr auch mittels harter Strafen, die neue Realität in die Muster des gelernten Denkens zwingen. Dazu schließt die Gewerkschaft auch Mittel nicht aus, die bisher vor allem in der Debatte um Netzsperren für kinderpornografische Angebote diskutiert wurden, und selbst da als problematisch eingestuft wurden. "

Weitere Artikel: Stephan Speicher erzählt, wie einige verloren geglaubte Skulpturen der Nazi-Ausstellung "Entartete Kunst" wieder aufgefunden und nun präsentiert wurden. Johannes Willms verzeichnet zwischen " Jubel und Hass schwankende Reaktionen" nach der Prix-Goncourt Entscheidung für Michel Houellebecq. Volker Breidecker resümiert die Frankfurter Römerberggespräche zur "Verarmung der Musen in Europa" (mehr hier). 'Michael Moorstedt testet Videospiele wie "Medal of Honor", die ein realistisches Bild vom Krieg vermitteln sollen. Hans-Jürgen Balmes schreibt zum Tod der großen Übersetzerin Swetlana Geier.

In der "Zwischenzeit" erinnert Gustav Seibt daran, dass sich Ernst von Weizsäcker auf ein Gutachten Reinhard Heydrichs stützte, als er empfahl, Thomas Mann die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen.

Besprochen werden Installationen der Künstler Elmgreen & Dragset im ZKM Karlsruhe, George Taboris "Mein Kampf" in der Inszenierung von Amelie Niermeyer in Frankfurt, ein eine Einblicksausstellung in das Stedelijk Museum, dessen Umbau noch längst nicht abgeschlossen ist, und Bücher, darunter Wojciech Kuczoks Roman "Lethargie" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 09.11.2010

Leicht gekürzt abgedruckt wird - nach der gestern publizierten Laudatio Alice Schwarzers nun auch Necla Keleks Dankesrede zur Entgegennahme des Freiheitspreises der Friedrich-Naumann-Stiftung. Kelek attackiert darin Renate Künast und den Hochmut kulturrelativistischer Intellektueller, verteidigt Thilo Sarrazin und wiederholt noch einmal ihre zentrale islamkritische These: "Der politische Islam - und ich meine damit zum Beispiel die 45 Staaten der Islamischen Konferenz - stellen die Menschenrechte unter den Vorbehalt der Scharia, ihres göttlichen Rechts. Auch die Islamverbände in Deutschland betonen den Scharia-Vorbehalt. Es ist deshalb schwer, Islam und Islamismus voneinander zu trennen, denn die Ablehnung der Säkularität und der Kultur des Westens hat nicht nur eine militante Variante, sondern ist Kern der Politik fast aller islamischen Institutionen."

Die Hinrichtung der wegen Ehebruchs verurteilten Iranerin Sakineh Ashtiani steht, wie es scheint, unmittelbar bevor. Mina Ahadi, Gründerin eines Kommittees gegen die Steinigung, beklagt, dass die internationalen Proteste zwar die Steinigung abwenden konnten, wohl aber nicht die Hinrichtung durch Erhängen. Von einem vergeblichen Kampf könne allerdings nicht die Rede sein: "Die Mullahs können den weltweiten Widerstand nicht ignorieren. Sie erleben, dass man ihnen zusieht und sie dafür verdammt."

Weitere Artikel: Mark Siemons meldet, dass die von Ai Weiwei angekündigte zensurkritische Party in Shanghai trotz seines Hausarrests stattfand: "Man sang Lieder mit dem Refrain 'In einer harmonischen Gesellschaft isst man Flusskrebse'" (mehr hier). Anlässlich aktueller Bürgerproteste denkt Jürgen Kaube über die hoch reflexive Haltung der Menschen gegenüber der Politik nach, die sich nicht zuletzt der "Schule des Misstrauens" verdankt, als die Kaube die immerwährende Fernseh-Talkshow begreift. Jürg Altwegg gratuliert den Enfants Terribles Michel Houllebecq (Goncourt) und Virginie Despentes (Renaudot) zur Arrivierung im französischen Literaturpreisbetrieb. Im Berliner Untergrund fand sich beim U-Bahn-Bau nun schon zum wiederholten Mal, berichtet Andreas Kilb, eine als verschollen geltende Skulptur eines einst als "entartet" diffamierten Künstlers, nämlich Otto Baums "Stehendes Mädchen". In der Glosse schildert Edo Reents den seltsamen Fall einer Frau aus Taiwan, die vor großem Publikum sich selbst geheiratet hat. Dieter Bartetzko begrüßt die Auszeichnung des menschenfreundlichen Wohnturms "The Met", der in Bangkok steht, mit dem Titel des besten Hochhausneubaus. Raphael Gross schreibt zum Tod von Georg Heuberger, Gründungsdirektor des Jüdischen Museums in Frankfurt.

Auf der Medienseite lädt im Vorabdruck aus einem von ihm herausgegebenen Band kein Geringerer als Hubert Burda den Philosophen Peter Sloterdijk zum Schwadronieren über die Bildmedien Fernsehen und Internet - Sloterdijk schließt mit der Frage: "Ist nicht die ganze gegenwärtige massenmediale Kultur eigentlich Loser-Therapie?"

Besprochen werden Klaus Weises Inszenierung von Franz Schrekers kaum noch bekannter Oper "Irrelohe" in Bonn (als "wegweisende Wiederaufführung" lobt Christian Wildhagen die Unternehmung) und Bücher, darunter Joumana Haddads Bericht über ihre Selbstbefreiung aus der frauenfeindlichen arabischen Ideologie mit Hilfe de Sades, Titel "Wie ich Scheherezade tötete" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).