Heute in den Feuilletons

Kompliziert ausgearbeiteter Dachschaden

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2010. Phantomschmerzen über Jugoslawien begutachtet die Welt. Wenn es weh tut, verstößt es gegen die Menschenrechte, erklärt Natan Sznaider in der FR. In der FAZ sieht Bernard-Henri Levy die drohende Hinrichtung Sakineh Ashtianis als Test für den Westen und den Iran. In der SZ erklärt Claus Leggewie "Islamophobie" zum neuen Antisemitismus. Und Thomas Steinfeld klärt Alice Schwarzer auf: Nicht die Frauen, der Kapitalismus hat den Feminismus ermöglicht.

TAZ, 10.11.2010

Bei der Lektüre der typografisch gesetzten Ausgabe von Arno Schmidts "Zettel's Traum", die jetzt bei Suhrkamp erschienen ist, empfand Stephan Wackwitz eine Mischung aus Bewunderung und Widerwillen, die ihm noch von seiner Schmidt-Lektüre in den Achtzigern vertraut war: "Je weiter man liest, desto undeutlicher wird einem, ob man ein Kunstwerk vor sich hat oder ein Symptom. Die Wahrheit über Schmidts Spätwerk besteht wahrscheinlich darin, dass es, viel deutlicher als die meisten anderen inkommensurabel großen Bücher, beides zugleich ist. Große Kunst und kompliziert ausgearbeiteter Dachschaden."

Außerdem: Rudolf Walter versteht nicht, warum der Zentralrat der deutschen Juden nicht einverstanden ist mit Alfred Grosser als Redner zum Gedenken an den 9. November 1938. Katharina Granzin schreibt den Nachruf auf die Übersetzerin Swetlana Geier.

Und Tom.

Welt, 10.11.2010

Sonja Vogel war auf einer Wiener Konferenz über Jugoslawien, dessen Verschwinden noch immer heftige Phantomschmerzen bereitet. So erinnerte sich der Autor Dzevad Karahasan an ein Telefonat mit einem Freund in Vancouver: "Auch der hat Sarajevo verlassen. Doch jeden Morgen beginnt er mit dem Blick auf den bosnischen Wetterbericht, 'ganz so, als könnte sein Tag nicht wirklich beginnen, wenn er nicht wisse, wie das Wetter in Sarajevo sei'. Karahasan hat mit dieser Allegorie das Thema der Veranstaltung eingefasst. Der Freund, der Sarajevo nicht verlassen kann, steht für alle, die in Jugoslawien gelebt hatten. Im Begleittext zu 'Jugoslavija revisited' schreibt die Kuratorin Alida Bremer, man habe einer sich einschleifenden Lüge entgegenwirken wollen, 'nach der es Jugoslawien nie gegeben hat'."

Weiteres: Gerhard Gnauck berichtet von einer sehr erfolgreichen Lesereise Herta Müllers in Polen. In der Glosse macht sich Harald Peters wenig Sorgen darum, ob der postum erschienene Michael-Jackson-Song "Breaking News" wirklich von Michael Jackson ist. Bruce Springsteens Album von 1978 "Darkness on the edge of town" wird neu veröffentlicht plus 21 damals verworfene Songs, meldet Arne Willander. Hgr. schreibt zum Tod der Schauspielerin Jill Clayburgh, bru. schreibt zum Tod der Sopranistin Shirley Verrett.

Besprochen wird Sofia Coppolas Film "Somewhere" (dem Hanns-Georg Rodek etwas mehr Drama gewünscht hätte).

FR, 10.11.2010

In der Artikelserie zu den Menschenrechten (mehr hier und hier) schreibt heute der israelische Soziologe Natan Sznaider. Ihm ist es herzlich egal, ob und wie die Menschenrechte mit dem Islam, dem Christentum oder dem Judentum vereinbar sind: "Nicht um die akademische Debatte des mehr oder weniger gescheiterten Multikulturalismus geht es hier, sondern um eine geteilte und gefühlte Welt, die von der Verwundbarkeit des Körpers ausgeht, der in der Tat universeller ist als die Debatten um die Vereinbarkeit. Natürlich ist es wichtig, dass die Menschenrechte vereinbar sind mit der Sprache der Menschen, die sie verstehen sollen. Aber man sollte diese Vereinbarkeit auch nicht zur Grundlagendebatte machen. Die Sprache der Menschenrechte gibt uns einen kognitiven und emotionalen Rahmen, der uns sagt, warum es uns nicht egal sein kann, wenn fremde Menschen grausam von Staatsautoritäten behandelt werden."

Weiteres: Michel Houellebecq hat den Prix Goncourt nicht nur verdient, weil er der "stärkste und radikalste" Gegenwartsautor Frankreichs ist, meint Martina Meister: "In Wahrheit ist Houellebecq ein Prophet."

Besprochen werden Sofia Coppolas Celebrity-Porträt "Somewhere", Tschaikowskys Oper "Mazeppa" im Bremer Theater, die Ausstellung der im Berliner Bauschutt wiederaufgefundenen modernen Plastiken im Neuen Museum, ein Gastauftritt von CocoRosie in Frankfurt.

Online berichten Matthias Arning und Claus-Jürgen Göpfert von einer ganz einvernehmlichen Gedenkfeier mit Alfred Grosser in der Paulskirche: "Am Ende reichten sich Alfred Grosser, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 1975, und Dieter Graumann, Vize-Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Hand. Auch Graumann hatte am Ende von Grossers Rede applaudiert."

NZZ, 10.11.2010

Ramon Schack befragt den konservativen amerikanischen Publizisten Daniel Pipes zu geopolitischen Fragen im Mittleren Osten und den Islam im Westen: "Die aktuelle Islam-Debatte im Westen ist primitiv. Unsere Probleme bestehen doch nicht aus Moscheebauten, Minaretten oder Kopftüchern. Es handelt sich um eine Phantomdebatte, an den eigentlichen Problemen wird vorbeidiskutiert. Wir müssen Maßnahmen ergreifen, um die unbestrittenen, einmaligen Vorzüge der westlichen Zivilisation zu verteidigen, und dabei die Herzen der moderaten Muslime gewinnen, nicht aber Hysterie und Misstrauen streuen."

Die Literaturwissenschaftlerin Ursula Amrein erinnert anlässlich der Studie zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amts an die Ausbürgerung Thomas Manns und die Rolle, die Ernst von Weizsäcker als deutscher Botschafter in der Schweiz dabei spielte.

Besprochen werden Dominique Menthas Inszenierung von Mozarts "Zauberflöte" am Luzerner Theater, H. D. Kittsteiners Studie "Die Stabilisierungsmoderne", Gerald A. Cohens' Plädoyer "Sozialismus" und Richard Yates' Roman (Leseprobe hier) "Ruhestörung" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 10.11.2010

Auf seine Weise nähert sich Bernard-Henri Levy dem Fall der wegen angeblichen Ehebruchs zum Tode verurteilten Iranerin Sakineh Ashtiani. Erst fasst er zusammen, was er über sie in Erfahrung bringen konnte. Und dann erklärt er die Besonderheit dieses im Ganzen des iranischen Unrechtssystems eigentlich gar nicht so besonderen Falls: "Sie ist eine Heldin wider Willen geworden. Aber woher kommt das weltweite Engagement für diese einfache Frau? Warum hat der französische Staatspräsident - wie er mir noch mal telefonisch versicherte - aus dem Schicksal dieser Frau einen Test gemacht, von dem er nicht mehr abgehen wird? Das fragen sich natürlich die Iraner. Das macht sie wütend. Sie verstehen nicht (oder nur zu gut), dass dieser Fall ein Test unserer Entschlossenheit ist, dem Regime standzuhalten - so, wie wir es umgekehrt als einen Test ihrer Fähigkeit sehen, zuzuhören und umzuschwenken."

Weitere Artikel: Den von Alice Schwarzer gegen Kristina Schröder in Form eines im Print von der Bild dokumentierten offenen Briefes vorgebrachten Vorwurf, sie sei eine "Agentin 'rechtskonservativer Männerbünde und ihrer Sympathisanten'", hält Christian Geyer in der Glosse für Unsinn. Jordan Mejias war dabei, als nun auch in Washington die Ergebnisse der Historikerkommission zur Rolle des Auswärtigen Amts im Dritten Reich vorgestellt wurden. Karen Krüger meldet, dass die wegen ihres Kopftuchs stets noch umstrittene türkische Präsidentengattin Hayrünnisa Gül sich dagegen ausspricht, dass Mädchen schon in der Grundschule Kopftuch tragen (mehr dazu hier). Urs Heftrich schreibt zum Tod der Übersetzerin Swetlana Geier.

Auf der DVD-Seite empfiehlt Michael Althen die Blu-Ray-Versionen von Walt Disneys "Fantasia" und dem Sequel "Fantasia 2000", weil letztere exklusiv auch den Kurzfilm "Destino" enthält, der (sehr viel später) den Entwürfen von Salvadore Dali für einen mit Disney entwickelten Film folgt. Empfohlen werden außerdem Johnnie Tos "Vengeance" mit Johnny Hallyday, eine Edition der Filme des Dokumentarfilmers Nicolas Philibert und eine Jubiläumsbox zu 50 Jahren Atlasfilm.

Besprochen werden Udo Lindenbergs "Bunte Republik Deutschland"-Konzert, zu dem sich das sehr gehobene Bürgertum (inklusive Bundespräsident) im brandenburgischen Schloss Neuhardenbarg einfand, Sofia Coppolas neuer Film "Somewhere" (Verena Lueken klingt nicht sehr begeistert) und Bücher, darunter eine Ausgabe der Briefe von Rahel Levin Varnhagen (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 10.11.2010

Der linke Politologe Claus Leggewie sieht es auf Seite 2 der SZ ähnlich wie neulich der kulturkonservative FAZ-Redakteur Patrick Bahners in den Blättern (mehr hier): Islamophobie ist der Antisemitismus des 21. Jahrhunderts: "Das Bürgertum mobbt heute Einwanderer und vermeintliche Multikulti-Phantasten; das ist das Ergebnis der Sarrazin-Debatte. Nach der verweigerten Integration der Juden in den Alltag der deutschen Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert versagt es damit - ausgerechnet von der 'christlich-jüdischen Leitkultur' schwadronierend - womöglich ein zweites Mal, nun bei der Anerkennung des säkularen Islams als Teil Deutschlands."

Im Feuilleton klärt Thomas Steinfeld den Streit zwischen Kristina Schröder und Alice Schwarzer über Verdienste und Versäumnisse des Feminismus, der, wie Steinfeld mit überlegener Intelligenz darlegt, nur der unbewusste Agent übermächtiger Kräfte der Geschichte war: "Vielmehr blühte diese weibliche Volksbewegung erst auf, als die Politik ihr längst entgegenkam, als die Wirtschaft auf diese Ressource an Arbeitskraft nicht mehr verzichten wollte, als der freie Wettbewerb alle ständischen, geschlechtlichen und kulturellen Unterschiede längst aufzulösen begonnen hatte. Und doch glauben nach wie vor viele Frauen aus der ersten Generation der voll berufstätigen und selbständigen Frauen - und zu ihnen gehört Alice Schwarzer -, dass der gesellschaftliche Wandel, der sich an ihnen darstellt, von ihnen allein durchgesetzt worden sei." (Wenigstens die Chefetagen der SZ haben sich diesen kapitalistischen Verwertungsinteressen bis heute tapfer entgegengestellt!)

Weitere Artikel: Lothar Müller berichtet, dass Martin Walser die Deutschen bei der Übergabe des "Preises der Deutschen Gesellschaft für Verdienste um die deutsche und europäische Verständigung" zum Rückzug aus Afghanistan aufforderte. Kia Vahland glossiert die Tendenz der allerneuesten Kunst zu großen Hallen. Till Briegleb plädiert für die "unaufgeregte" Arbeit des umstrittenen Intendanten Sebastian Hartmann in Leipzig. Martin Ebel, Literaturredakteur des Zürcher Tages-Anzeigers, antwortet auf eine Polemik des Literaturkritikers Helmut Böttiger, der der aktuellen Literaturkritik populistische Tendenzen vorgeworfen hatte.

Besprochen werden Sofia Coppolas neuer Film "Somewhere" (mehr hier), die große Bonnard-Ausstellung in Wuppertal, eine neue "Life and Times"-Episode des Nature Theater of Oklahoma am Wiener Burgtheater, eine New Yorker Ausstellung mit bisher unbekanten Fotos von Robert Capa (mehr hier), eine "Walküre" in Frankfurt und Bücher, darunter ein Band mit Zeugnissen über Alfred Döblins Zeit als Militärarzt in Lothringen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).