13.11.2010. In der NZZ entdeckt Cees Nooteboom mit Francisco de Zurbaran die Beinahe-Wollust an körperlichen Torturen. Die FAZ fragt, wann dem Geschäftsmodell zeitgenössische Kunst eigentlich die Bedeutung abghanden gekommen ist. In der FR kratzt Ulrich Beck an der Übermacht globalisierter Märkte. Und Spiegel Online kolportiert Gerüchte, nach denen Facebook am Montag Google Mail den Todesstoß versetzen könnte.
Welt, 13.11.2010
Die Literarische Welt veröffentlicht einen Auszug aus
Uwe Tellkamps Band "Die Schwebebahn.
Dresdner Erkundungen".
Hier eine Passage aus dem Anfang: "Der Elbhang war ein Pflanzenkorb, vergiftet vom Fluss, der schwarzen Aorta der Stadt. Immer wieder ging es um
Infiltration,
erobernde Kräfte. Die herrschten, wollten in die Köpfe derer, die beherrscht wurden - die beherrscht wurden, wollten das, was in ihre Köpfe wollte, aus ihren Köpfen heraushalten; dadurch begannen auch sie zu herrschen, auf die dubiose, unerklärliche Weise, die den Gejagten Züge der Jäger verleiht. Insofern ist
Macht eine Geisteswissenschaft."
Weiteres: Ulrich Weinzierl
betrachtet mit Abscheu die Klassentrennung zwischen
VIPs und
Nobodys bei der Verleihung des "Nestroy"-Preises im sozialdemokratisch regierten
Wiener Rathaus. Hannes Stein
unterhält sich mit
W.
Michael Blumenthal über dessen Memoiren. Tilman Krause
schreibt zum 100. Todestag
Wilhelm Raabes. Im Feuilleton
erzählt Manuel Brug, wie sich
vier junge Dirigenten schlugen, die je eine Woche mit den Berliner Philharmoniker proben durften. Auf der Magazinseite
erinnert Thomas Schmid an den Berliner Kammergerichtspräsidenten
Günter von Drenkmann, der am 10. November 1974 von Mitgliedern der "Bewegung 2. Juni"
ermordet worden war.
Besprochen werden unter anderem
Christian Adams Studie "Lesen unter Hitler",
Ralph Giordanos Tagebuch "Mein Leben ist so sündhaft lang",
Hamed Abdel-Samads Prognose "Der Untergang der islamischen Welt" und
Michael Cunninghams Thomas-Mann-
Roman "In die Nacht hinein".
NZZ, 13.11.2010
In
Literatur und Kunst ist ein Text des
Schriftstellers Cees Nooteboom zu lesen, der das Werk des spanischen Malers und Mystikers
Francisco de Zurbarans (
Bilder) als Panoptikum unaufhörlichen Leidens
erlebt - und genießt: " Hier wirkt die Darstellung von
Leiden und Wunden nicht pervers, sondern entspringt einer Geisteshaltung, die wir nicht mehr kennen, einer
Beinahe-Wollust, um asketische Abtötung oder körperliche Torturen zu zeigen, um deutlich zu machen, dass wir es hier mit Opfern zu tun haben, die freiwillig gebracht, für uns gebracht werden."
Weiteres: Peter Kammerer
stellt den neapolitanischen und offenbar politisch sehr engagierten
Erzähler Erri de Luca vor. Silvio Vietta
blickt auf die nunmehr hundertjährige Geschichte des
literarischen Expressionismus zurück. Kurt Lüscher
denkt über "
Ambivalenz"
nach, ein Begriff, den der Schweizer Psychiater
Eugen Bleuler vor hundert Jahren prägte. Besprochen werden Eric L. Santners
Studie "Zur Psychotheologie des Alltagslebens" und
Erri de Lucas Roman "Der Tag vor dem Glück" (mehr ab 14 Uhr in unserer
Bücherschau des Tages).
Im Feuilleton
liest Roman Bucheli
Ernst Jüngers Kriegstagebuch und besucht die Ausstellung im Marbacher
Literaturmuseum: "Die Ausstellung tappt damit ein wenig in die Falle von Jüngers Selbstdarstellung, die
das Titanische und Heroische des Schaffens betont, und wird zugleich Opfer seiner Sammelwut." Joachim Güntner
berichtet vom
Kölner Kunstfälscher-Skandal um die angebliche Sammlung Jägers, deren 35 Bilder wohl eher von einem Lebenskünstler und seiner Frau als von den Expressionisten
Pechstein,
Campendonck und
Max Ernst geschaffen wurden. In der Kolumne "Mein digitaler Alltag"
schreibt heute Richard Wagner. Aldo Keel
erzählt eine Schnurre aus Island. Patrick Straumann
verabschiedet den italienischen Filmmogul und Herrscher über Cinecitta,
Dino De Laurentiis. Marta Kijowska
schreibt zum Tod des polnischen
Komponisten Henryk Mikolaj Gorecki.
FR, 13.11.2010
In seiner allmonatlichen Weltinnenpolitik-Kolumne
nimmt der Soziologe
Ulrich Beck diesmal die "fünf Lebenslügen nationaler Politik" auseinander. Die erste ist die von der angeblich von nationaler Politik nicht mehr steuerbaren
Übermacht globalisierter Märkte: Dabei "wird unterschlagen, dass die politische Klasse durch ihr Agieren die angebliche Handlungsohnmacht selbst herbeigeführt hat: Sie hat die Regeln der globalisierten Märkte auf nationaler Ebene als 'Reformpolitik' durchgesetzt. Auf diesem Weg erzeugte sie das angeblich nicht länger zu beeinflussende 'Globalisierungsschicksal'. Merke: Das globale Kapital erlangt nur dann seine 'unantastbare' Macht, wenn die Politik aktiv ihre
Selbstabschaffung betreibt."
Weiteres: Judith von Sternburg
war dabei, als am Donnerstag der
Hermann-Kesten-Preis des PEN Zentrum Deutschland an den aus bekanntem Grund abwesenden, von Laudator
Tilman Spengler aber, als wäre er anwesend, adressierten Regimekritiker und designierten Friedensnobelpreisträger
Liu Xiaobo verliehen wurde. Nathalie Soondrum
besucht die als Hochburg der Bio-Gartenkultur berühmte
Benediktinerinnenabtei Fulda. Harry Nutt war dabei, als Bernd Neumann den
Kulturetat 2011 vorstellte.
Besprochen werden das neue
Kid-Rock-
Album "Born Free",
Sasha Waltz' Tanztheater "Continu" in Berlin und
Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Spiegel Online, 13.11.2010
Killt
Facebook Google Mail? Spiegel Online
trägt von TechCrunch
aufgebrachte Gerüchte weiter, dass Mark Zuckerberg am Montag Facebook Mail lancieren wird. Plausibel wär's: "Die weit über 500 Millionen Facebook-Nutzer weltweit haben dem Dienst ohnehin schon sehr viel über ihr soziales Umfeld verraten - zumindest über jene ihrer Freunde und Bekannten, die sich auch online tummeln. Googles Maildienst versucht seit einigen Wochen, mit einem '
sortierten Eingang' die permanente Überforderung durch übervolle Posteingangsordner zu reduzieren. Einen ähnlichen Service - sortiere meine Mails nach Wichtigkeit, in Abhängigkeit von der stärke der Verbindung zum Absender - könnte Facebook
spielend leicht anbieten."
TAZ, 13.11.2010
Der
Schriftsteller Nicol Ljubic diagnostiziert wütend einen neuen, dank Sarrazin um sich greifenden
Rassismus: "Sarrazin hat Schaden hinterlassen: Enttäuschung über und Misstrauen gegenüber einer Gesellschaft, in der eine erschreckende Anzahl von Menschen offenbar nur darauf gewartet hat, dass einer den ersten Stein wirft, um sich in einen Mob zu verwandeln und ihren offensichtlich
tief sitzenden Ressentiments freien Lauf zu lassen, und einen Mann, der Millionen von Menschen aufgrund ihrer Kultur und 'Genetik' als arbeitsscheu und entwicklungsunfähig bezeichnet, als Kämpfer für die Meinungsfreiheit zu feiern."
Weitere Artikel: In der aktuellen Feminismus-Debatte
bezieht Ines Kappert auf den vorderen Seiten klar Stellung: "
Kristina Schröder funktioniert als neue Konservative: an der Oberfläche selbstbewusst, strukturell unterlegen,
immer opportunistisch - und im Zweifel für die Förderung deutscher Jungen." Zwei Artikel widmen sich der Fundamentalisierung
konservativ-christlicher Kreise, die Gender-Mainstreaming für Teufelszeug
halten und sich (in einem von Christoph Markschies und Hubert Wolf herausgegebenen Buch) auf "christliche Erinnerungsorte"
zurückziehen. Von einer von der EU gesponserten gemeinsamen Rundreise von Künstlern, Kuratoren und Journalisten durch die Türkei aus Anlass der Wanderausstellung "
My City"
berichtet Brigitte Werneburg.
Hanna Schygulla erzählt am Telefon, was sie gerade so denkt. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne
informiert Wolfgang Gast über die
Dänemark-Connection des internationalen Terrorismus der Siebziger Jahre.
Besprochen werden die Uraufführung von
Sasha Waltz' neuem
Stück "Continu" in Berlin und weitere Bücher, darunter
Haruki Murakamis neuer
Roman "1Q84" und
Riad Sattoufs Comic "Meine Beschneidung" (mehr dazu in der
Bücherschau ab 14 Uhr).
Und
Tom.
SZ, 13.11.2010
Eine Doppelseite ist den
deutschen Dialekten gewidmet, im richtigen Leben und
in der Literatur, die einerseits vom Untergang bedroht sind, denen andererseits auch eine neue Blüte bevorstehen könnte. Online
lesbar ist auch ein Text von Tobias Kniebe übers
Hannoveranerhafte der und des Deutschen. Und Jürgen Trabant darf bei der Gelegenheit mal wieder verkünden, dass nicht der Dialekt, sondern
das Englische für das Hochdeutsche die wahre Gefahr ist. Andrian Kreye begreift den Edel-Minimalismus des neuen
Neil-Diamond-Albums als gültigen Ausdruck des Zeitgeists. Alex Rühle kritisiert das rein unternehmensstrategische zögerliche Vorgehen von
Amazon gegen einen im US-E-Book-Angebot erst nach heftigen Protesten aus dem Programm genommenen
Ratgeber für Pädophile. Aus New York kann Jörg Häntzschel im
Kunstauktion-Herbst glänzende Geschäfte vermelden. Auf der Medienseite kommentiert Nikolaus Piper die neue US-Medien-Allianz von Tina Browns defizitärem
Internetmagazin
The Daily Beast und dem in schwerer Krise befindlichen Nachrichtenmagazin
Newsweek.
In einer Reportage für die
SZ am Wochenende berichtet Thomas Kortner über die Herstellung des so begehrten wie schwer erhältlichen Musikunstruments "
Hang", Berner Weiterentwicklung der Steelpan. Auf der Historienseite geht es um die
muslimische Hochkultur des frühen Mittelalters. Jonathan Fischer unterhält sich mit
Paolo Conte über "Schwermut".
Besprochen werden eine Aufführung von
Bruckners "Neunter" der br-Sinfoniker unter Bernhard Haitink, die Ausstellung "
Valie Export. Zeit und Gegenzeit" in
Wien und
Linz ("weder Schießeisen noch entblößter Schoß sind der Skandal der Fotoarbeit '
Aktionshose: Genitalpanik'. Export provoziert vielmehr, indem sie Intimität preisgibt und sich gleichzeitig erotischen Projektionen verweigert. Es waren
Urschrei-Jahre des Feminismus", schreibt Eva Karcher), die Ausstellung "
Eat Art" in
Stuttgart, eine
Alice-Neel-Ausstellung in der Galerie
Aurel Scheibler, eine
Jake-und-Dinos-Chapman-Ausstellung in der Münchner Galerie
Daniel Blau und Bücher, darunter
Yann Martels neuer Roman "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FAZ, 13.11.2010
In
Bilder und Zeiten denkt Henning Ritter über den Stand der
zeitgenössischen Kunst nach. Nie war sie so allgegenwärtig war, meint er, leider vor allem als
Geschäftsmodell: "Dieses Kunstsystem ist ebenso gut ein ökonomisches wie ein künstlerisches. Beides ist ununterscheidbar geworden, da in die Beurteilung von Kunst ökonomische Motive hineinspielen, die über die Gegenwartsbedeutung entscheiden. Die zeitgenössische Kunst verfügt nicht mehr über das
revolutionäre Programm, das für ihre Zukunftsbedeutung ausschlaggebend war. Auch das zeitkritische Potential der Gegenwartskunst ist in den Hintergrund getreten. Galeristen, Kunsthändler, Aussteller und Kuratoren bestimmen die Vorgänge auf dem Kunstmarkt, während die Betrachter eine untergeordnete Rolle spielen."
Außerdem: Michael Köhler porträtiert den Elektro-Ingenieur und Unternehmer
Amar Bose. Marco Schmidt trifft Schauspielerin
Annette Bening.
Im
Feuilleton unterhält sich Gina Thomas mit
Beststeller-Autor Ken Follett übers Schauspielern, seine Historienschinken und die besseren Zeiten, vor allem der
Edwardianer. "Die Menschen zogen sich
fünf Mal am Tag um, einfach weil sie die
Kleider besaßen und wenig anderes zu tun hatten." Jürgen Kaube
kocht die Aufregung um Wolfgang Schäuble runter: "Ein Minister hat sich geärgert, öffentlich, über einen Beamten". Jürgen Dollase hat im Wiener Restaurant
Steirereck vegetarische Spezialitäten gekostet: "
Portulak,
Vogelmiere und einen in der Härte feinst eingestellten Mais-Chip". Ingeborg Harms liest in deutschen Zeitschriften vom Altern, von
Tolstoi und
Tilda Swinton. Auf der letzten Seite wagt Markus Wolff (39) einen Blick auf seine Zukunft als Rentner und drohende Beschäftigungskurse a la "Raus aus dem Abseits, rein ins Internet".
Auf der
Medienseite berichtet Kerstin Holm vom Terror, dem
kritische Medien in Russland ausgesetzt sind: "Wenn die Duma für Übergriffe auf Journalisten höhere Strafen verhängen will, wirkt das, da Verbrechen gegen Journalisten nicht gelöst werden, wie eine theatralische Geste."
Besprochen werden Ausstellungen zum
Expressionismus in Wiesbaden, Frankfurt und Darmstadt, die Schau "Uncertain eye" mit Fotoarbeiten von
David Claerbout in der Münchner
Pinakothek der Moderne, die Küchenausstellung "Counter Space" im New Yorker Moma,
Patrice Chereaus Inszenierung von Jon Fosses "Traum im Herbst" im Louvre,
Guy Maddins Kinoessay und Psychothriller
"My Winnipeg",
Joe Cockers Konzert in Frankfurt, eine Neueinspielung von Rossinis "Stabat Mater", das
Album "Born Free" von
Kid Rock, die CD "Lucky Shiner" von
Gold Panda und Bücher, darunter
Dieter Wellershoffs erzählte Erinnerungen "Schau dir das an, das ist der Krieg",
Michel Houellebecqs "Interventionen" und
Urs Faes' Liebesgeschichte "Paarbildung".
In der Frankfurter Anthologie stellt Thomas Anz
Conrad Ferdinand Meyers Gedicht "Der Marmorknabe" vor:
"In der Capuletti Vigna graben
Gärtner, finden einen Marmorknaben,
Meister Simon holen sie herbei,
Der entscheide, welcher Gott es sei..."