Heute in den Feuilletons

Absatz 1 gilt nicht für Nachrichtensendungen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.12.2010. Die deutschen Blogs sind höchst erregt wegen des, äh, Jugendmedienschutzstaatsvertrags, der die Medien im Netz künftig arg bürokratisieren soll. Erste Blogs schließen. Eine originelle Theorie zu den jüngsten Wikileaks hat laut Gawker Ahmadinedschad: Das ist eine amerikanische Verschwörung! Auch der Daily Star im Libanon ist schockiert: Die Scheichs haben sich bis unter die Zähne bewaffnen lassen und fühlen sich doch so hilflos und verletzlich gegenüber dem Iran! die FAZ fragt, ob der Staat an Vertuschungen im Fall Buback beteiligt war.

TAZ, 01.12.2010

Georg Blume würdigt Arundhathi Roys, in den indischen Medien stark thematisiertes Engagement für die Jugendlichen, die in Kaschmir gegen die indische Regierung protestieren: "Wieder waren die Jugendlichen in Kaschmir für den Mainstream nur von Pakistan trainierte Terroristen. Doch es stimmte einfach nicht. Fast jeder Inder, der ruhig über Kaschmir nachdenkt, weiß das im Grunde seines Herzens auch. Roy aber sprach es als Einzige aus: Dass Kaschmir immer noch ein in seiner staatlichen Zugehörigkeit umstrittener Landesteil ist. Dass die Kaschmiris eine andere 'Freiheit' wollen als jene, die ihnen Indien bietet."

Weitere Artikel: Ingo Arend berichtet über ein Kolloquium in Istanbul, wo über das Format der Kunst-Biennale diskutiert wurde. Besprochen werden eine Timm Ulrichs-Retrospektive in Hannover und Carsten Höllers Ausstellung "Soma" im Hamburger Bahnhof in Berlin.

Und Tom.

Aus den Blogs, 01.12.2010

Willkommen im Internet made in Germany! Der neue Jugendmedienschutzstaatsvertrag (JMStV) steht kurz vor der endgültigen Verabschiedung. In Hamburg haben jetzt laut Schockwellenreiter SPD, CDU und GAL dafür gestimmt. In NRW werden die Grünen wohl auch zustimmen (die Zwänge!), auch wenn sie noch mal überlegen wollen. VZlog (hier) und Kristian Köhntopp haben öffentlich verkündet, ihre Blogs zu schließen, weil ihnen die Rechtslage zu unsicher ist. Das mag etwas dramatisch sein, hatte aber den Vorteil, dass das Thema plötzlich eine Nachricht war: bei Heise, Golem, Spiegel, Zeit zum Beispiel. Worum geht's genau? Betreiber von Websites und Blogs sollen ihre Inhalte künftig mit einer Alterskennzeichnung versehen, ähnlich wie im Kino. Inhalte ab 18, die keinen Zugangsschutz implementiert haben (den es noch nicht gibt) dürfen dann nur noch zu bestimmten "Sendezeiten" online sein.

Software-Ingenieur Köhntopp hat sein Blog inzwischen offline geschaltet. Nur dies ist noch zu lesen: Nach dem neuen JMStV "müßte ich alle meine Inhalte durchgehen und mit einem Alterslabel versehen. Dafür habe ich keine Zeit und es wäre auch nicht produktiv. Für die Inhalte, die ab 16 oder ab 18 eingestuft sind (und das ist das Default-Label) müßte ich außerdem einen wirksamen Zugangsschutz mit Alterskontrolle implementieren. Einen solches zugelassenes Verfahren gibt es derzeit nicht (...) Daher sind meine bisherigen Inhalte bis auf weiteres offline, und falls ich noch einmal irgendwas mache, dann in einem Land, das Zukunft hat. Nicht Deutschland."

Die Piraten-Partei hat das JMStV in neuer und alter Fassung (Unterschiede sind farblich markiert) in ein Wiki gestellt. Folgende Ausnahme vom Zugangsschutz gibt es laut § 5 Absatz 8 (neue Version, gelb markiert) für folgende Medien: "Absatz 1 gilt nicht für Nachrichtensendungen, Sendungen zum politischen Zeitgeschehen im Rundfunk und vergleichbare Angebote bei Telemedien, es sei denn, es besteht offensichtlich kein berechtigtes Interesse gerade an dieser Form der Darstellung oder Berichterstattung." Spiegel online hat also nichts zu befürchten, sofern es Bilder aus dem Pirelli-Kalender (Bild links) künftig erst ab Mitternacht zugänglich macht. Der Miss-TSA-Kalender (Bild rechts) könnte dagegen gerade noch durchgehen.

Weitere Reaktionen aus der Blogosphäre u.a. bei Thomas Knüwer (Geht nicht mehr wählen!), dem Schockwellenreiter (will sein Blog künftig anonym von einem ausländischen Hoster aus betreiben), Netzpolitik (plädiert zur Abschreckung für "Sendezeiten" viel genutzter Internetadressen. Die Leser schlagen Wikipedia vor.) und Carta, die all das für abwegig halten und zur Gründung eines "Bloggerrechtshilfefonds" aufrufen, der den juristischen Abwehrkampf finanziert.

FR, 01.12.2010

Christian Schlüter kann an den Wikileaks-Veröffentlichungen inhaltlich nichts Brisantes entdecken, aber die Erfindung eines neuen "Volksgeheimdienstes" oder eines "globalen Denunziantentums" ist ihm nicht geheuer: "An Kontrolle ist hier kaum noch zu denken."

Weiteres: Grete Götze stellt die junge deutsch-israelische Autorin Vanessa F. Fogel vor. Jürgen Otten schreibt zum Tod des Tenors Peter Hofmann, Daniel Kothenschulte verabschiedet den "großen Filmschöpfer" Mario Monicelli. Besprochen werden die Uraufführung des 1929 von Emil Nikolaus von Reznicek komponierten Opernstücks "Benzin" in Chemnitz und ein Gossip-Konzert in Frankfurt.

Auf der Medienseite ist eine Erklärung der Chefredakteure des Hauses DuMont Schauberg zu lesen, die sich sehr bemüht, auf die zahllosen Interviews von Konstantin Neven DuMont zu reagieren, ohne unkorrekt zu werden.
Stichwörter: Chemnitz, Tenor, Denunziantentum

Aus den Blogs, 01.12.2010

Wer Zeit hat, eine Reihe interessanter Links anzuklicken, sollte bei Gawker Hamilton Nolans kleinen Ausbruch darüber, wie wir heute reich werden, lesen. Cory Doctorow empfiehlt bei BoingBoing die weiterführende Lektüre: Paul Piersons und Jacob S. Hackers Buch "Winner-Take-All Politics". "Mostly, this consists of creatively doing nothing: for example, not pegging the minimum wage to inflation, but inflation-indexing the alternative minimum tax (which means that the workforce whose labor provides wealth to the nation's CEOs take an inflationary pay-cut every year, while the middle-class find their taxes creeping up as they enter the AMT bracket thanks to inflation). Or, more simply, not passing new regulations to account for newly discovered tax loopholes such as the one that allows billionaire hedge-fund managers to pay a mere 15% tax (a lower rate than that paid by their janitors) or the notorious Silicon Valley stock-option dodge."

So sieht der Fernseher der Zukunft aus, berichtet Engagdet, oder zumindest eines der ersten Geräte, mit dem man 3d ohne Brille gucken kann.




Katy Derbyshire feiert ihren ganz persönlichen deutschen Verleger des Jahres: Wolfgang Hörner vom Galiani Verlag. "Not purely because they're the only German publishers who send out newsletters expressly to translators around the world, recognising that we can actually push the odd lever in the publishing industry. Not just because they always name their German translators, even in their Facebook status updates. Not only because Wolfgang is a totally and utterly nice guy who puts a personal touch into everything he does. Not merely because Galiani is the nearest German publisher to my house. It's also because they have a fantastic and eclectic and risk-taking programme of literature and non-fiction..."

NZZ, 01.12.2010

In einer Dankesrede anlässlich der Entgegennahme des Hilde-Domin-Preises denkt der in Frankfurt lebende Schriftsteller Oleg Jurjew über die Literatur, das Exil und das Judentum nach. Hans Jörg Jans sieht Anzeichen für einen Neubeginn an der Oper in Rom. Marisa Buovolo schreibt zum Tod des italienischen Filmemachers Mario Monicelli.

Besprochen werden Woody Allens Komödie "You Will Meet A Tall Dark Stranger", Stefan Rinkes Geschichte der "Revolutionen in Lateinamerika" und Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 01.12.2010

(via Gawker) Und Sie dachten, die jüngsten Wikileaks-Enthüllungen würden vor allem die Amerikaner alt aussehen lassen? Falsch. Das ganze Wikileaks ist eine us-amerikanische Konspiration, versichert uns laut NYT Irans Präsident Mahmoud Ahmadinejad: "'Some part of the American government produced these documents,' he said. 'We don't think this information was leaked. We think it was organized to be released on a regular basis and they are pursuing political goals.'"

Die arabischen Medien amüsieren sich königlich über das Wikileaks-Desaster für Amerika, Italien oder Deutschland. "Als stünden die eigenen Potentaten seit Sonntagabend nicht genauso decouvriert da", aber darüber fällt kein Wort, berichtet Alexander Smoltczyk.

Das stimmt nicht ganz. In Libanons Daily Star zum Beispiel verliert Rami G. Khouri einige deutliche Worte an die arabischen Herrscher: "The most shocking revelation (but not a revelation, really, as many of us had warned about this for decades), is that Arab governments that have spent hundreds and hundreds of billions of dollars on buying American and other foreign arms still find themselves totally helpless, vulnerable and fearful in the face of what they see as growing Iranian power and influence in the region. The assorted Arab leaders who are quoted as asking the United States to hurry up and do something about Iran?s growing nuclear technology capabilities reveal an apparent inability to take care of their own countries and citizens."

Ayse Karabar sammelt für die türkische Zeitung Zaman total vernünftige Statements türkischer Regierungsbeamter und Wissenschaftler: "'Diplomats are professionals, but the situation might be different for politicians who cannot act professionally, but rather [act] sentimentally,' [Ugur Ziyal, former undersecretary for the Foreign Ministry] told Today?s Zaman. He also added that from now on diplomats, politicians, journalists and academics will be very careful when interacting with US officials."

Bei salon.com stellt Dan Gillmor einige interessante Fragen anlässlich der jüngsten Wikileaks-Veröffentlichung: Wann veröffentlicht Wikileaks mal was Heißes über, hmpf, China? Wann veröffentlicht Wikileaks mal mehr über sich selbst? Warum gibt die amerikanische Regierung ungefähr 3 Millionen Menschen Zugang zu diplomatischen Dokumenten? Warum machen die Medien ihren Job so schlecht, dass sie Wikileaks brauchen, um an wichtige Informationen zu kommen? Diskutieren Sie hier.

(via The Daily Beast) Die nächste Enthüllung, hat Wikileaks Julian Assange angekündigt, betrifft eine große amerikanische Bank. Die Bank of America, rät Sahil Kapur bei Raw Storys.

Und Guardians David Leigh prophezeit laut Democracy Now! was die Auswertung der Wikileaks-Dokumente als nächstes bringen wird: "In the coming days, we are going to see some quite startling disclosures about Russia, the nature of the Russian state, and about bribery and corruption in other countries, particularly in Central Asia."

Jetzt fahndet Interpol nach Julian Assange, Gründer von Wikileaks, meldet der Stern. Offizieller Grund: Verdacht auf Vergewaltigung in Schweden. Eine "'Red Notice', eine Art Steckbrief des 39-Jährigen, veröffentlichte die Internationale Polizeibehörde am Dienstag auf ihrer Internetseite. ... Bei einer 'Red Notice' handelt es sich nicht um einen internationalen Haftbefehl. Vielmehr geht es laut Interpol darum, der Polizeibehörde eines Mitgliedsstaates dabei zu helfen, 'die Festnahme oder vorläufige Festnahme einer gesuchten Person mit der Aussicht auf ihre Auslieferung zu erreichen'."

Welt, 01.12.2010

Sascha Lehnartz erzählt die Geschichte des 71-jährigen französischen Elektrikers, der plötzlich mit 271 Werken von Picasso auftauchte. Thomas Lindemann schreibt über ein Computerspiel mit Micky Maus. Hanns-Georg Rodek gratuliert Woody Allen zum 75sten.

FAZ, 01.12.2010

Milos Vec blickt mit Verwunderung auf die Ungereimtheiten, die sich rund um den neuen Stammheim-Prozess und die Ermordung des Bundesanwalts Siegfried Buback auftun. Kann es vielleicht wirklich sein, dass - wie Wolfgang Kraushaar (hier) und Michael Buback (hier) argwöhnen - der Staat massiv an Vertuschungen beteiligt war? Sicher sein, so Vec, kann man nicht: "So würde die andere Deutungsmöglichkeit lauten, dass im Fall Buback nicht nach Staatsräson vertuscht wurde, sondern Ermittlungsapparate mit all ihren strukturellen Schwächen arbeiteten, die durch besondere Umstände potenziert wurden. Dass solche Schlampereien den Beobachtern 'ungeheuerlich' erscheinen, sollte sie nicht zu dem Schluss verleiten, dass sie ausgeschlossen sind."

Weitere Artikel: Neue Edel- und Prachtbauten in der Hamburger Hafencity unterzieht Dieter Bartetzko einer Betrachtung. In der Glosse befindet Edo Reents, dass die Revolution der Demokratie bei der Stuttgart 21-Schlichtung wohl doch eher ausblieb. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Tenors Peter Hofmann. Der Nachruf auf den italienischen Filmregisseur Mario Monicelli kommt von Andreas Kilb.

Im Interview auf der Medienseite versuchen die Spiegel-Chefredakteure Georg Mascolo und Mathias Müller von Blumencron, eine klare Linie zwischen Wikileaks und ihrem Medium zu ziehen: "Wir müssen aber noch einmal herausstellen, dass es sich um getrennte Organisationen handelt: Wikileaks und die beteiligten Medien. Wir nutzen Wikileaks als Quelle, wie wir andere Quellen auch nutzen. Was Wikileaks mit dem Material macht, können wir bis ins Detail nicht kontrollieren."

Besprochen werden Hauke Teschs Cottbuser Inszenierung von Grigori Frids Mono-Oper "Das Tagebuch der Anne Frank", die Felix-Nussbaum-Ausstellung im Pariser Musee d'art et d'histoire du Judaisme, die Ausstellung "Ein Licht ist mir aufgegangen - Lev Tolstoi und Deutschland" im Literaturhaus München, Woody Allens neuer Film "Ich sehe den Mann deiner Träume" und Bücher, darunter Dörte Kaisers Buch "Chanson triste" über das Sterben ihres Mannes, des Soziologen Karl Otto Hondrich (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 01.12.2010

Alex Rühle hat ein E-Mail-Interview mit dem iranischen Karikaturisten Mana Neyestani geführt, der einige Zeit im Evin-Gefängnis verbrachte und jetzt in Deutschland Asyl beantragt. Er war in eine "doppelte Einzelzelle" eingesperrt, schreibt er: "Die normale Einzelzelle ist so groß wie ein Grab, ein mal zwei Meter. Viele Häftlinge, die in so einer Zelle eingesperrt waren, wurden verrückt. In einigen Trakten haben sie deshalb immer zwei Zellen zusammengelegt. Ich war 50 Tage lang in einer zwei mal zwei Meter großen Zelle mit dem Chefredakteur des Jom"eh-Magazins eingesperrt."

Weitere Artikel: Henning Klüver besucht die Stadt Turin, die sich trotz finanzieller Probleme zusehends als italienische Kulturhauptstadt profiliert. Der Völkerrechtler Michael Bothe erklärt anlässlich der nicht so diplomatischen Depeschen, die gerade "geleakt" wurden, die Vor- und Nachteile der verklausulierten öffentlichen Diplomatensprache. Joachim Kaiser schreibt zum Tod des Wagner-Tenors Peter Hofmann. Fritz Göttler schreibt zum Tod des italienischen Regisseurs Mario Monicelli.

Besprochen werden ein Konzert in München mit Ravel, Zimmermann und Bruckners Neunter (Dirigent Kent Nagano "ist der Magier der Distanz", schreibt Reinhard J. Brembeck) und die Filmkomödie "Bon Appetit".