Heute in den Feuilletons

Jene Ehemaligen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.12.2010. In der NZZ verteidigt der der kolumbianische Autor Hector Abad seinen Kollegen Mario Vargas Llosa gegen europäische Lateinamerikaromantiker. In der Welt plädiert Gerhard Schulze gegen totale Transparenz im Internet, auf das er übrigens gern verzichtet hätte. Das Feuilleton der Welt feiert die Freilassung  Dogan Akhanli, die sich möglicherweise der Angst vor einer Aktion Günter Wallraffs verdankt. In der FR erklärt der Sinologe  Heiner Roetz, warum der Konfuzianismus nicht im Widerspruch zu Menschenrechten steht. SZ und FAZ bringen großformatige Verteidigungen des Buchs "Das Amt".

NZZ, 10.12.2010

In einem furiosen Text erklärt der kolumbianische Autor Hector Abad, was den stets auf Ganze gehenden Mario Vargas Llosa, dem heute der Nobelpreis verliehen wird, literarisch und politisch so bedeutend macht. Und warum sich Europas Linke davon verabschieden sollte, ihre Utopien auf Lateinamerika zu projizieren: "Was Europa betrifft, sind die Angehörigen dieser Linken liberal, was Lateinamerika angeht, utopische Bolschewisten. Was in der Alten Welt als nicht hinnehmbar gilt (autoritäre Machtausübung, radikaler Nationalismus, das Schließen von Radio- und Fernsehsendern und das Verbot von Zeitungen, Einparteienherrschaft), ist für die armen Länder in Ordnung. Eben deshalb kann die alte europäische Linke es Vargas Llosa nicht verzeihen, dass er die Regierungen von Hugo Chavez und Fidel Castro wegen ihres totalen Machtanspruchs heftig kritisiert hat und weiterhin kritisiert oder die politische, religiöse und wirtschaftliche Freiheit verteidigt. Weil er in Amerika als Liberaler auftritt, bezeichnet man ihn in einem nicht nachvollziehbaren logischen Umkehrschluss in Europa gern als Opportunisten, Wendehals oder Reaktionär."

Weiteres: Marta Kijowska berichtet vom einschlagenden Erfolg des Romans "Good Night, Dzerzi" in Polen, in dem der 72-jährige Schriftsteller Janusz Glowacki seinem exzentrischen Kollegen Jerzy Kosinski ein Denkmal setzt. Besprochen werden eine Ausstellung zum Malerstar und Darwinisten Gabriel von Max im Münchner Lenbachhaus, Patrice Chereaus Gastspiel im Pariser Louvre, ein Konzert des Komponisten und Dirigenten Matthias Pintscher beim Tonhalle-Orchester Zürich und Bruce Springsteens Album "The Promise" mit zum Teil unveröffentlichten Songs aus den 70ern.

Welt, 10.12.2010

Der Soziologe Gerhard Schulze plädiert in einem Kommentar auf der Meinungsseite gegen eine Ideologie der totalen Transparenz, die sich ihm in den jüngsten Enthüllungen zu offenbaren scheint. "Wenn jeder jeden mit allem konfrontiert, kann sich keine öffentliche Sphäre entwickeln, in der ein ziviler Umgang miteinander möglich wäre." Aufs Internet hätte Schulze aber auch gut verzichten können: "Im Internet gelten bekanntlich eigene Regeln, falls man überhaupt noch von Regeln sprechen kann. Einige wollen das geistige Eigentum abschaffen, andere zeigen, wie kleine Kinder vergewaltigt werden, wieder andere machen unsere Häuser für alle Welt sichtbar, und Wikileaks veröffentlicht im Namen der Transparenz gestohlene Dokumente."

Im Feuilleton kann Boris Kanolky die frohe Kunde bringen, dass der deutsch-türkische Autor Dogan Akhanli, der unter fabrizierten Mordanklagen inhaftiert worden war, im Prozess freikam - auch durch öffentlichen Druck, unter anderem von Günter Wallraff, der andernfalls skrupellos agiert hätte: "Ich hätte mich als Türke anonymisiert und vor dem Gericht angekettet. Dann wäre mir vielleicht auch die Vorzugsbehandlung eines politischen Gefangenen zuteil geworden."

Weitere Artikel: Michael Pilz bereitet uns innerlich auf das erste posthume Album von Michael Jackson vor. Marko Martin erzählt, wie die Chinesen aus Taiwan auf den Nobelpreis für Liu Xiaobo reagieren - mit einer lebendigen Debatte.

Besprochen wird ein Comic Harvey Pekars über die Geschichte der Beat-Literatur.

Aus den Blogs, 10.12.2010

(via Greg Mitchells Wikileaks-Blog in The Nation) Wer die Diplomaten-Depeschen im Schnelldurchlauf zusammengefasst haben möchte, wird dieses Video von BoingBoing mögen:



Auf der Pariser Technologiekonferenz Le Web war Techcrunchs Paul Carr der einzige, der Julian Assange hasst. Mit der Veröffentlichung der Diplomaten-Depeschen wurde Wikileaks zu einem "Feind der Offenheit", schreibt er. "Thousands - maybe millions - of people had access to the cables - which, as openness goes, is pretty impressive. Hell, even a lowly Private like Bradley Manning - the junior soldier with a grudge against the American military who allegedly leaked the documents to Wikileaks - had access to them. Now, however, thanks to Wikileaks, all of that is likely to stop. (...) And for? what? So that millions of us who had no real business - beyond a basic prurient interest - in knowing what conversations are being had behind closed diplomatic doors could feel important. Well, great. Responsible openness' loss is a few million busybodies' gain."

Perlentaucher, 10.12.2010

"Kinderpornografie, Glücksspiele, Google Street View und jetzt Wikileaks - jedesmal, wenn was passiert, ruft jemand nach 'Regulierung' des Internets", schreibt Anja Seeliger. "Warum das unmöglich ist, warum die ganze Struktur des Netzes das nicht zulässt, hat gerade James Cowie von Renesys, einer IT-Sicherheitsfirma, im Firmenblog erklärt: Alle Versuche, Wikileaks aus dem Netz zu kicken, haben am Ende nur dazu geführt, dass es sich weiterverbreitet hat."

TAZ, 10.12.2010

Wolfgang Kaleck, Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär der juristischen Menschenrechtsorganisation ECCHR, berichtet über jüngste Wikileaks-Veröffentlichungen die belegen, wie europäische Politik und Justiz mit US-Diplomaten zusammenarbeitet, um - unter anderem auch im Fall des ein Jahr lang in Afghanistan festgehaltenen Deutschen Khaled El Masri - die Verfolgung von Kriegsverbrechen und Folter zu verhindern. "Sicherlich existieren weltweit viele solcher Einzelbeispiele von US-amerikanischen Einflussnahmen, die man dank Wikileaks nun genau nachvollziehen kann. Es lohnt, sich das Beispiel Spanien detailliert anzusehen. Erst im Detail kann man ermessen, wie weitreichend US-Diplomaten zum Schutz ihrer nationalen Interessen offenbar agieren."

Weiteres: Elias Kreuzmar porträtiert den Münchner Schlagzeuger und Komponisten Carl Oesterhelt, der gemeinsam mit Johannes Enders ein "Divertimento für Tenorsaxophon und kleines Ensemble" veröffentlicht und die Musik für eine allmonatliche Lesung von Lion Feuchtwangers Roman "Erfolg" an den Münchner Kammerspielen komponiert hat. Besprochen wird das Album "Wounded Galaxies Tap at the Window? des Londoner Duos Cyclobe.

Und Tom.

FR, 10.12.2010

Der Sinologe Heiner Roetz versteht überhaupt nicht, warum der Konfuzianismus ein Argument gegen Menschenrechte und Demokratie sein sollte: "Politische Fragen zu kulturellen zu erheben, liegt weltweit im Trend - Chinas Regierung muss sich nur in den westlichen Sozialwissenschaften umhören, wenn sie den 'Faktor Kultur' beschwört. In dieser Konstellation zu verharren, kann allerdings wohl nur Liu Xiaobos Feinden in die Hände spielen. Zweifellos hat seine Absage an jede Romantisierung der chinesischen Tradition etwas Befreiendes, und sie hebt sich wohltuend von der verbissenen Insistenz ab, dass es für alle Probleme Chinas genuin 'chinesische' Lösungen geben müsse. Doch lässt sich mit guten Gründen fragen, ob Liu Xiaobo der Gegenseite das Territorium, auf dem sie sich hinter den unverhandelbaren 'Werten' der 'chinesischen Zivilisation' verschanzt, nicht ohne Not überlässt."

Weiteres: Die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn kann den von Wikileaks veröffentlichten Depeschen keinerlei Neuigkeitswert abgewinnen und fürchtet stattdessen um die diskrete Sphäre der Diplomatie. Besprochen werden Carsten Höllers Installation "Soma" im Hamburger Bahnhof in Berlin sowie neue Alben von Lemmy Kilmister und Motörhead.

SZ, 10.12.2010

Im ganzseitigen Aufmacher antworten Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann, also sämtliche Verfasser der Außenamtsstudie "Das Amt", ihren Kritikern und wenden sich dabei sehr konkret unter anderem gegen den FAZ-Redakteur für Politische Bücher Rainer Blasius: "Mit einem für Außenstehende rätselhaften Eifer hat er dabei raunende Fragen, beleidigende Unterstellungen und Falschbehauptungen in die Welt gesetzt - und damit eine Kampagne fortgeführt, mit der er die Tätigkeit der Kommission seit ihrer Einsetzung begleitete... Dabei geht es nicht um eine einzelne Stimme. Rainer Blasius fungiert vielmehr, alle Standards journalistischer Distanzwahrung missachtend, als Sprachrohr und Feder jener Ehemaligen des Auswärtigen Amtes, die sich selbst die 'Mumien' nennen."

Warum schweigen die deutschen Sinologen so vernehmlich zum Nobelpreis für Liu Xiaobo - fragt Kai Strittmatter, allgemein erst und dann sehr konkret: "Typisch ist der Beitrag des Sinologen und Ökonomen Carsten Herrmann-Pillath in dieser Woche in der FAZ, der mehrere Topoi der professionellen Chinaversteher wiederholt: Die Mahnung an die Europäer, 'kulturelle Differenzen' zu berücksichtigen und dem anderen 'nicht einseitig Standards' vorzugeben. Die Eröffnung, China sei 'keine totalitäre Macht' mehr (was seit 25 Jahren schon keiner mehr behauptet). Die unvermeidliche Warnung vor dem 'Gesichtsverlust', den man dem Gegenüber nicht zufügen dürfe (während Chinas Regierung ihrerseits in dieser Übung noch nie Skrupel kannte)."

Weiteres: Sybille Ebert-Schifferer erinnert anlässlich von dessen 400. Todestag an den Maler Adam Elsheimer. Besprochen werden Claudia Bosses Performance-Stück "Vampires of the 21th Century oder was also tun?", Dominique Schnizers Heidelberger Inszenierung von Eva Rottmanns Stück "Unter jedem Dach" und Bücher, darunter Joachim Dycks eher biografische Studie "Benn in Berlin" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 10.12.2010

Constanze Kurz kritisiert in ihrer "Aus dem Maschinenraum"-Kolumne sehr scharf die Struktur der führenden Online-Bezahlsysteme: "Die Vereinigten Staaten haben in den letzten fünfzehn Jahren die Entstehung eines De-facto-Oligopols für Online-Zahlungen gefördert, das sie nun als Waffe im Informationskrieg um Wikileaks einsetzen... Kritiker, die schon früher darauf hinwiesen, dass man als Kunde von Paypal & Co. praktisch keine Rechte hat, wurden damit abgespeist, dass sich die restriktiven Regeln nur gegen Betrüger richteten. Nun zeigt sich, dass die willkürliche Art des Umgangs mit Kunden ein ideales Mittel zur indirekten Zensur ist.

Nun hat auch der Historiker Christopher Browning den Bestseller "Das Amt" gelesen und findet, dass man manches zwar ein wenig genauer hätte differenzieren können, insgesamt aber scheint ihm "die Argumentation in ihren Grundzügen richtig."

Weitere Artikel: Karen Krüger resümiert noch einmal den skandalösen Fall des nunmehr aus der Haft entlassenen deutschen Schriftstellers türkischer Herkunft Dogan Akhanli. Jordan Mejias glossiert die Sturzflüge des mehrfach verschobenen rekordteuren Spiderman-Musicals am Broadway und ist nicht sicher, dass der Januar-Termin für die Premiere gehalten werden kann. Den Fund einer hoch fragmentierten Bronzestatue des Kaisers Trajan bei Frankfurt kommentiert Dieter Bartetzko. Andreas Rossmann erlebte Daniel Kehlmann in Köln beim Vortrag über Gabriel Garcia Marquez' Weltliteratur. In Teil drei von Jürgen Dollases "Adventsminiaturen" geht's der Ente an den Kragen.

Besprochen werden Gareth Edwards Film "Monsters" und Bücher, darunter Clotilde Schlayers Aufzeichnungen aus den letzten Lebensjahren Stefan Georges mit dem Titel "Minusio" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).