Heute in den Feuilletons

Dogan K.! Wie Josef K.

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2010. Im Journal du dimanche erzählt Bernard-Henri Levy, wie er die neuesten Wirren im Fall Sakineh Ashtiani erlebte. Die Diskussion um Wikileaks geht weiter: Auch in den Medien häufen sich die Stimmen für die Enthüllungen. Nachdem Frits Bolkesteins den Juden der Niederlande empfohlen hat zu emigrieren, bringt Trouw eine Reportage über die jüdische Gemeinde im Land. Im Perlentaucher kritisiert Pascal Bruckner die "Erfindung der Islamophobie". In der SZ erzählt Dogan Akhanli, wie er seine Inhaftierung in der Türkei erlebte.  Die FAZ diagnostiziert eine Verschwörung zwischen Rechtspopulisten aus Israel und Europa. Inszenierung des Wochenendes: ganz klar Volker Löschs Wedekind-Montage nach "Lulu" mit original Berliner Prostituierten. Und ein Igel ist geboren: gegen das Leistungsschutzrecht

Weitere Medien, 13.12.2010

Die Diskussion um Wikileaks zeigt eine große Kluft in der Überlegung, wie Staatsdaten geschützt werden sollen (so dezentral, dass ihre Verbreitung an die Bürger möglichst erschwert wird) und wie Bürgerdaten (so zentral, dass ihre Verbreitung an alle staatlichen Stellen möglichst erleichtert wird), schrieb Arno Widmann am Samstag in der Berliner Zeitung. "Hier wird einem klar, mit welcher Selbstverständlichkeit der Staat sich über die Bürger stellt. Wie selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass der Staat das Recht hat, sein Handeln vor den Bürgern geheim zu halten, und wie selbstverständlich der Bürger dieses Recht nicht hat. Der Schutz der von staatlichen Stellen für geheim erklärten Dokumente ist wichtiger als das Anrecht der Bürger auf Information über das staatliche Handeln. [...] Schafft viele Wikileaks!"

Im Guardian kann Henry Porter es nicht mehr hören: Die Behauptung, die Veröffentlichung der Diplomaten-Depeschen sei erstens gefährlich und zweitens ganz unwichtig, weil sie nur höheren Klatsch verbreiteten. Ja, was denn nun? Porter ist sicher: "Wir haben einen Schnappschuss von der Welt gesehen, wie sie ist, statt eines redigierten Berichts, auf den sich Eliten geeinigt haben, deren einziges gemeinsames Interesse darin besteht, ihre Macht und unsere Unwissenheit aufrechtzuhalten. [...] Es ist erstaunlich, wieviele Journalisten behaupten, es sei besser, diese Dinge nicht zu wissen, dass die Welt sicherer sei, wenn die Öffentlichkeit in Unwissenheit gehalten wird."

In der FAS verteidigt Stefan Tomik Julian Assange und Wikileaks: "Am Wikileaks-Chef kritisieren Journalisten jetzt, dass 'er allein die Regeln setzt'. Das hat womöglich mehr mit Macht als Moral zu tun. Die Wikileaks-Truppe ist auf ein Territorium vorgedrungen, das bisher Journalisten vorbehalten war. Oder dass Journalisten bisher nicht betreten haben. Na und? Ist das nicht immer so, wenn einer eine Story hat, die alle anderen nicht haben?"

Und Harald Staun zeigt, ebenfalls in der FAS, sogar Sympathien für die Attacken von Anonymous (mehr hier). Was daran kriminell oder brandgefährlich sein soll, erschließt sich ihm nicht: "'Distributed Denial of Service'-Versuche sind sicher keine besonders zivilisierte Form der Meinungsäußerung - und trotzdem handelt es sich eher um die zeitgemäße Form eines Sit-ins als um virtuelle Gewalt. Sogar der Economist hat sie als '24 Stunden Attische Demokratie' beschrieben."

Mathias Bröckers fragt in Telepolis, warum die Partnermedien von Wikileaks sich nicht mehr für Julian Assange einsetzen: "Was ... Wikileaks betrifft, blasen die Herolde der Pressefreiheit derzeit nicht einmal ein laues Lüftchen".

NZZ, 13.12.2010

Die Schriftstellerin Emmelie Prophete schildert, warum Haiti nach dem Erdbeben nicht wieder auf die Beine kommt: "Die unsichtbaren Erdbeben sind nicht minder zerstörerisch als die sichtbaren. Seit dem 12. Januar ist keine Woche vergangen, ohne dass sich das Land mit einem neuen Zwist, einem neuen Drama konfrontiert sieht. Ein Baudenkmal, das zerstört, eine Bibliothek, die geschlossen wird; Menschen, die an Mangel, Sorge und Ungewissheit zugrunde gehen - und nun die Furcht vor neuen Unruhen im Kielwasser der umstrittenen Präsidentschaftswahlen. Haitis Perspektiven für das kommende Jahr sind einstweilen sehr finster, und die neue Regierung wird in jedem Bereich Herkulesarbeit zu leisten haben. Alles, alles muss neu geschaffen werden."

Auch in Belgien herrscht Depression, aber immerhin gibt es das Land noch, versichert der Schriftsteller Erwin Mortier, auch wenn es von niemandem mehr regiert werde: "Das Land ist müde. Unsere Politiker sind erschöpft von aussichtslosen Verhandlungen, die wiederum symptomatisch sind für das tiefe und unüberwindbare Misstrauen. Gelegentlich wird auch laut über nochmalige Neuwahlen nachgedacht."

Weiteres: Brigitte Kramer meldet, dass die spanische Superagentin Carmen Balcells ihr Archiv verkaufen möchte. Besprochen wird die Wiederbelebung von Martin Suters Kolumnenhelden "Geri Weibel" fürs Schauspielhaus Zürich.

Aus den Blogs, 13.12.2010

Eine Intiative hat sich gegründet: Der Igel: die "Initiative gegen ein Leistungsschutzrecht" sammelt die Stimmen all jener, die gegen eine weitere Komplizierung des Urheberrechts zum Nutzen der Zeitungsverlage sind: "Ein solches Recht wird einerseits nicht benötigt und hat andererseits - unabhängig von dessen Ausgestaltung - zwangsläufig sehr bedenkliche Auswirkungen auf die Interessen Dritter und das Gemeinwohl."

Perlentaucher, 13.12.2010

Der französische Romancier und Publizist Pascal Bruckner kritisiert den Begriff der "Islamophobie": "Der Begriff der Islamophobie hat mehrere Funktionen: Er leugnet die Realität einer islamistischen Offensive in Europa, um sie besser zu rechtfertigen. Er attackiert den Laizismus, indem er ihn mit einem Fundamentalismus gleichsetzt. Vor allem aber will er all jene Muslime zum Schweigen bringen, die den Koran in Frage stellen und die Gleichheit der Geschlechter fordern."

Was sagt der Umgang mit Wikileaks eigentlich über den Stand der Pressefreiheit in den westlichen Staaten aus? Dazu sind in den letzten Tagen eine Reihe sehr interessanter Artikel erschienen. Eine kurze Zusammenschau hier.

FR, 13.12.2010

Heute morgen stand von der FR schon wieder nichts online, deshalb unser Resümee unverlinkt.

Nichts für schwache Nerven scheint die Strawinsky-Inszenierung "The Rake's Progress" von Krzysztof Warlikowski und Ingo Metzmacher am Schillertheater zu sein, Jürgen Otten hat sie als großes Gossentheater trotzdem genossen: "Unterhaltsam soll dieser Abend nicht sein. Er soll, und er will präzisieren, er will quälen. Das Leben ist keine Party, höchstens ein Scherz, den man richtig deuten muss."

Besprochen werden auch Martin Suters "Geri Weibel" als Musical am Zürcher Schauspielhaus, Volker Löschs "Lulu. Die Nuttenrepublik" an der Berliner Schaubühne ("Muss es wirklich so schlicht sein?", fragt Jürgen Otten leicht entsetzt), eine Ausstellung zu Wolfgang Petrick in der Sammlung Falckenberg in Hamburg und Kerstin Deckers Biografie der Lou Andreas-Salome (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 13.12.2010

Der niederländische Politiker Frits Bolkestein hat einen Schock in der der Öffentlichkeit ausgelöst, weil er sagte, dass es keine Zukunft mehr für Juden in dem Land gebe und dass die Juden auswandern sollten. Aber er hat damit ein Gefühl ausgedrückt, das viele Juden im Land teilen, schreiben Emiel Hakkenes und Nynke Sietsma in der englischen Ausgabe der Trouw und zitieren Esther Voet vom Nieuw Israelietisch Weekblad. Sie kritisiert die antirassistische Organisation Nederland Bekent Kleur (NBK), die zusammen mit der jüdischen Gemeinde die Gedenkfeiern zur "Kristallnacht" ausrichtet und auch "israelkritische" Stimmen zu Wort kommen lässt: 'Wenn du Israel mit einem Apartheids-Staat vergleichst, stößt du einem großen Teil der jüdischen Gemeinde einen Dolch ins Herz. Lasst uns der 'Kristallnacht' gedenken und nicht alle möglichen Themen damit vermixen."

Im Journal du dimanche erzählt Bernard-Henri Levy, wie er die neuesten Peripetien um die im Iran von Steinigung bedrohte Sakineh Ashtiani erlebte. Mehrere Quellen hatten berichtet, sie sei frei, es zirkulierten Fotos von ihr in ihrem Garten. In Levys Blog La regle du jeu feierte man - und hatte dann doch Zweifel, die man in einem Artikel artikulierte. Iranische Blogger hatten gewarnt: "Alle sagten: 'Vorsicht, diese Fotos sehen nach Montage oder Inszenierung aus.' Ich habe ihnen seit dem Anfang der Kampagne immer vertraut. Ich füge auch hinzu, dass ich in dreißig Jahren antitotaliärem Kampf eine gewisse Erfahrung über die Methoden des Propagandakriegs gewonnen habe. Die Nazis veranstalteten Scheinexekutionen, die 'Faschislamisten' aus Teheran Scheinbefreiungen. Es ist genau umgekehrt - und doch das gleiche." (Tatsächlich war Ashtiani in ihr Haus gebracht worden, um fürs Fernsehen den angeblichen Mord an ihrem Ehemann nachzuspielen, mehr dazu hier.)

Welt, 13.12.2010

Abgedruckt ist die Dankesrede Cees Nootebooms für den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Besprochen werden Volker Löschs "Lulu"-Inszenierung an der Berliner Schaubühne ("Nach Frank Wedekind mit Texten von Berliner Sexualarbeiterinnen", gähn), Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Strawinskys "The Rake's Progress" im Berliner Schillertheater, zwei New Yorker Ausstellungen zur europäischen Kultur zwischen den Weltkriegen: "Weimar Cinema. Daydreams and Nightmares" im Moma und "Chaos and Classicism" im Guggenheim.

SZ, 13.12.2010

Im Interview mit Kai Strittmatter erzählt der deutsch-türkische Autor Dogan Akhanli, der unter fabrizierten Mordanklagen (mehr hier) in der Türkei inhaftiert worden war, wie froh er ist, dass er - auch wegen des Drucks aus Deutschland - freikam: "Stellen Sie sich vor: Sie wissen nicht, warum man Sie festnimmt. Man warf mir einen Raubmord vor, den ich nicht begangen habe, und man machte mich zum Kopf einer Terrorgruppe. Der Staatsanwalt hat all die Monate kein einziges Mal mit mir geredet. Und dann lese ich, dass ich in der Terrorgruppe angeblich den Codenamen Dogan K. gehabt haben soll. Dogan K.! Wie Josef K."

Weitere Artikel: Für die "Nachrichten aus dem Netz" hat Katharina Riehl die Seiten des neuen Scheidungsressorts bei der Huffington Post und weitere amerikanische Blogs zum Thema gelesen. Thomas Steinfeld erzählt, wie peinlich es den Musikern der längst begrabenen Gruppe The Smiths ist, dass David Cameron sie als seine Lieblingsgruppe bezeichnet hat. Lothar Müller gratuliert Edith Clever zum Siebzigsten. Am selben Tag wurde die von Jens Bisky gewürdigte Berliner Schauspielerin Jutta Wachowiak geboren. Susan Vahabzadeh berichtet über das Filmfestival in Marrakesch: "Das Festival wirbt in der Welt für Marokko - und bei den Marokkanern für eine weltoffene Gesellschaft. Schirmherr ist der König selbst."

Besprochen werden Schnitzlers "Der einsame Weg" in der Regie von Jens-Daniel Herzog am Münchner Residenztheater, neue DVDs, ein "Lulu"-Spekakel nach Wedekind mit original Berliner Prostituierten, inszeniert von Volker Lösch an der Berliner Schaubühne und Bücher, darunter Lutz Seilers neuer Gedichtband "im felderlatein" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Ihr).

FAZ, 13.12.2010

Lorenz Jäger ist einer Verschwörung auf der Spur: Er beobachtet Annäherungsbewegungen der "islamkritischen" Rechten an die Rechte in Israel - jüngst etwa bei einem Besuch einer Delegation einer rechtspopulistischen Internationale aus Österreich, Belgien und Deutschen in den Siedlungsgebieten. "Wächst jetzt zusammen, was zusammengehört? Oder ist es ein durchsichtiger Kunstgriff, um künftigen Protest aus Israel gegen eine mögliche Regierungsbeteiligung rechtspopulistischer Parteien vorzeitig auszuhebeln? Das wäre eine kurzsichtige Interpretation. Die Reise nach Israel ... ist die Fortsetzung des Kampfes gegen die Moscheen mit anderen Mitteln. Nach der schlichten Maxime: Der Feind meines Feindes ist mein Freund."

Weitere Artikel: Auf einer ganzen Seite geht es um die Frage, wie lebendig und aktuell Joseph Beuys heute noch ist. Es äußern sich Swantje Karich, in einer Besprechung der Ausstellung "Parallelprozesse" in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf und der stets für Beuys sich engagierende Jesuitenpater Friedhelm Mennekes. In der Glosse schreibt Joachim Müller-Jung über die Liebe der Chirurgen zum (gestohlenen) Ikea-Bleistift. Jürg Altwegg liest in französischen Zeitschriften Artikel und Aufsätze über den neuen Ruhm von De Gaulle, Giscard d'Estaing, der in einem neuen Buch Napoleon siegen lässt, sowie den verblassenden Mythos Francois Mitterand. Rolf Dobelli empfiehlt in seiner "Klarer Denken"-Serie, die Grenzen des eigenen "Kompetenzkreises" nicht zu verkennen.

Besprochen werden Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Igor Strawinskis Oper "The Rake's Progress", Volker Loeschs Inszenierung "Lulu - Die Nuttenrepublik" an der Schaubühne, frei nach Wedekind und mit Sexarbeiterinnen besetzt ("couragiert" findet Irene Bazinger das), eine Ausstellung mit Werken des Bildhauers Reinhold Begas im Deutschen Historischen Museum Berlin, und Bücher, darunter Thomas A. Slezaks Überlegungen "Was Europa den Griechen verdankt" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).