Heute in den Feuilletons

Der Elefant im Raum, Berliner Version

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2010. Die NZZ ist entgeistert über die Stillhaltepolitik deutscher Politiker und Medien im Fall der beiden im Iran inhaftierten Journalisten Marcus Hellwig und Jens Koch. Die Blogs erklären einen Tag nach der Gründung des "Igels" gegen das Leistungsschutzrecht, was es mit diesem Spezialpolster für Verleger auf sich hat. Die SZ erklärt die Grundlagen des Cyberkriegs. Die FR beleuchtet die keineswegs vorteilhafte Rolle Pius' XII. und Ernst von Weizsäckers bei der Rettung der Juden von Rom.

NZZ, 14.12.2010

Sehr scharf kritisiert der Deutschlandkorrespondent der NZZ, Ulrich Schmid, die Stillhaltepolitik de deutschen Medien und Politik im Fall der beiden vom Iran gekidnappten deutschen Journalisten Marcus Hellwig und Jens Koch. "Selbst in einem Bericht der Bild am Sonntag vom 12. Dezember ist wieder nur von 'zwei Reportern' die Rede. Es ist, als ob Hellwig und Koch nicht existierten... Schlichtweg verstörend war dann das, was sich Anfang Dezember in der Debatte über die Menschenrechtslage in Iran im Bundestag abspielte. Zwar wurde einmütig eine interfraktionelle Erklärung mit dem Titel 'Menschenrechtslage in Iran verbessern' verabschiedet. Doch auch in diesem Papier tauchten die Namen Hellwig und Koch nicht auf - es war das Schweigen der Partygäste über den Elefanten im Raum, Berliner Version." Schmid berichtet, dass eine geplante Anzeigenkampagne für die beiden Journalisten auf Drängen des Auswärtigen Amtes gestoppt worden sei.

Uwe Justus Wenzel versucht im Feuilleton auszuloten, wie aufklärerisch die Wikileaks wirken. Selbst liberale Gemüter entdecken ihren Sinn Geheimdiplomatie und Staatsgeheimnis, staunt er einerseits. Aber allzu großen Erwartung misstraut er auch, zitiert aber John Naughton, Professor für 'the public understanding of technology' an der Open University, aus dem Guardian zu den beiden Möglichkeiten heutiger Regierungen: 'either they learn to live in a WikiLeakable world ... or they shut down the internet'."

Besprochen werden die Ausstellung "Decor, design et industrie" im Genfer Musee d'Art et d'Histoire, David Hermanns Inszenierung von Tschaikowskys "Pique Dame" am Theater Basel, der Gerhard-Meier-Abend "In Amrains Welt" im Luzerner Theater, Erwin Mortiers Roman "Götterschlaf" und der Gedichtband "Botschaften vom grünen Planeten" des Koreaners Kim Kwang Kyu (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 14.12.2010

Ein Blick vom Eifelturm. Recherchen von BoingBoings Xeni Jardin haben ergeben, dass es ein Originalkunstwerk ist, kein gephotoshopptes.

Einen Tag nach der Gründung des Igels (den auch der Perlentaucher unterstützt) erklärt Thomas Knüwer in Indiskretion Ehrensache die Prinzipien des Leistungsschutzrechts: "Die weich gepolsterten Stühle der Verleger sollen refinanziert werden durch andere Branchen - und auf Kosten der Pressefreiheit. Auch freie Journalisten werden darunter leiden, für viele von ihnen dürfte sich im Falle des Leistungsschutzrechts ihr Beruf nicht mehr lohnen."

Auf die Frage, wem das Leistungsschutzrecht eigentlich schadet, antwortet der Urheberrechtsexperte Till Kreutzer auf Kooptech: "Allen außer den Verlegern. Freie Journalisten werden im Zweifel nicht mehr ohne weiteres über die Rechte an ihren Inhalten verfügen können, weil das Leistungsschutzrecht ihre Urheberrechte 'überlagert'. Außerdem müssen sie als 'gewerbliche Nutzer' im Zweifel zahlen, wenn sie - was für Journalisten natürlich unvermeidlich ist - Verlagsangebote nutzen. Zudem wird die gesamte deutsche Wirtschaft mit einer Art Quersubventionierung belastet."

Welt, 14.12.2010

Martin Eich trifft die Intendantin des Kölner Schauspielhauses Karin Beier und erzählt von deren Freuden und Nöten. Goethe Institute werde von Sparmaßnahmen wohl verschont bleiben, meldet Eckhard Fuhr. Auf der Meinungsseite erzählt Ludmilla Alexejewa, Direktorin der Moskauer Helsinki-Gruppe, dass die jungen Russen ihrem Staat gegenüber viel anspruchsvoller sind als ihre Eltern.

Besprochen werden Florian Henckel von Donnersmarcks Thriller "The Tourist" (dazu gibt's das obligatorische Interview mit dem Regisseur) und ein Konzert von Rammstein im ausverkauften Madison Square Garden in New York.

Weitere Medien, 14.12.2010

Im Interview mit dem Neuen Deutschland erklärt Wolfgang Benz, warum er Islamophobie für den Antisemtismus des 21. Jahrhunderts hält: "Ich bleibe bei diesem Vergleich. In beiden Fällen geht es darum, dass sich aus der Mehrheitsgesellschaft Hass gegen eine bestimmte Minderheit entwickelt. Im 19. Jahrhundert und auch im 20. Jahrhundert waren die Juden als Kollektiv das Objekt des Hasses. Die sogenannten Islamkritiker wollen jetzt ein Bild entwerfen, nach dem die Muslime weil sie Muslime sind, Bösewichte, unsere Feinde sind, die uns bedrohen." Grund ist, dass der Westen den 11. September übelnahm: "Man braucht einen Anlass, mit dem man die Gefährlichkeit der Minderheit darstellen kann, und das war der 11. September.

TAZ, 14.12.2010

Stefan Reinecke und Christian Semler unterhalten sich, ohne spürbar Neues hervorzubringen, mit dem Historiker Peter Longerich über Joseph Goebbels, über den er gerade eine Biografie vorgelegt hat. Petra Hallmayer verfolgte einen "Erfindungsabend" des Goldenen-Zitronen-Sängers Schorsch Kamerun, den sie trotz der Gegenwart Alexander Kluges als Unterforderung empfand.

 Besprochen werden die William Kentridge-Ausstellung in Wien und ein neues Album der Band Antony and the Johnsons (Musik).

Und Tom.

FR, 14.12.2010

Zuletzt rückte ein Fernsehmehrteiler die Rolle des der Seligsprechung harrenden Papst Pius XII. in ein vorteilhaftes Licht. Der Freiburger Theologe Klaus Kühlwein bezweifelt, dass Pius eine entscheidende Rolle bei der Rettung der römischen Juden gespielt hat: "Die Behauptung, Papst Pius hätte einen Abbruch der Razzia erreicht und damit neun Zehntel der römischen Juden gerettet, ist nachweislich falsch. Sämtliche Dokumente zur SS-Aktion sowie alle Zeugenaussagen und Erinnerungen unmittelbar und mittelbar Beteiligter bestätigen, dass die Razzia so wie von der SS geplant ablief und beendet wurde." Aber tatsächlich wurden seine Emissäre bei Ernst von Weizsäcker in der deutschen Botschaft vorstellig: "Der Botschafter wie der Kommandant zuckten nur mit den Achseln. Beide sahen sich außerstande, in eine SS-Aktion einzugreifen. Weizsäcker riet zusätzlich dringend von einem Protest ab, der das sensible Verhältnis Berlin-Vatikan gefährden könnte."

Besprochen werden eine Ausstellung der "Erinnerungsbaumeister" Wandel Hoefer Lorch und Hirsch in der Münchner Pinakothek der Moderne, Stefan Herheims "Rusalka"-Inszenierung in der Dresdner Semperoper, die "7 Schwestern" von She She Pop im Berliner HAU und Robert Borgmanns Aufführung von "Fräulein Julie" in Mainz.

SZ, 14.12.2010

Nach den jüngsten Angriffen auf Wikileaks und Hackerattacken auf Paypal und Konsorten erklärt Camilo Jimenez die Grundlagen des Cyberkriegs: "Nur in einem von fünf Fällen lässt sich die Identität eines Botnets aufdecken. 2009 betrug die schwerste Attacke 48 Gigabytes pro Sekunde. Spiegel-Online, Deutschlands populärstes Nachrichtenportal, empfängt Anfragen in einer Rate von weniger als 1 Gigabyte pro Sekunde."

Weitere Artikel: Alexandra Mangel gratuliert der Zeitschrift Texte zur Kunst zum 20. Jubiläum, die zur Feier des Tages mit der Stasi-Frage "Wo stehst du, Kollege?" aufwartete.

Besprochen werden eine Genfer "Elektra" unter Christof Nel, der Film "Monga - Gangs of Taipeh" des taiwanesischen Regisseurs Doze Niu, Franz Xaver Kroetz' Stück "Stallerhof" in der Inszenierung David Böschs am Burgtheater, Strawinskys Oper "The Rake's Prgress" in der Regie von Krzysztof Warlikowski an der Berliner Staatsoper (die vielgefeierte Anna Prohaska hinterließ einen zwiespältigen Eindruck auf Reinhard J. Brembeck) und Bücher, darunter einige Neuerscheinungen über Max Frisch.

Auf der Medienseite schildert Fabian Hackenberger die Schrecken des Internetempfangs in ländlichen Gemeinden Deutschlands.

FAZ, 14.12.2010

Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker, Jahrgang 1977, denkt in New York an seine Rente - und ist nach dem Studium seiner Versicherungsdaten sowie beim Blick auf die Alterspyramide in Deutschland ganz entschieden um den Schlaf gebracht. Oliver Tolmein hat einen in der Fachzeitschrift Strafverteidiger erschienenen Aufsatz des neuen Kachelmann-Anwalts Johann Schwenn gelesen, in dem dieser im Opferschutz-Prinzip ein großes Problem für Vergewaltigungsprozesse erkannt haben will. Jürg Altwegg stellt Jonathan Littell als politisch sehr engagierten Autor vor und informiert über aktuelle Einmischungen. In der Glosse berichtet Kerstin Holm von russischen Versuchen, Arme und Alte und Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken aus Moskau heraus zu drängen und zu locken - neueste Idee: Altenheimsiedlungen im Umland. Einen Nachruf auf den Theologen Hermann Goltz schreibt Lorenz Jäger. Auf der Medienseite darf kurz vor Beschlussfassung der Jurist Ingo von Münch noch einmal erklären, warum die Umstellung von einer Rundfunkgebühr auf einen Rundfunkbeitrag ein Unding zu Lasten des Bürgers ist.

Besprochen werden Stefan Bachmanns Uraufführung von Martin Suters ins Singspiel transformierten Geri-Weibel-Kolumnen "Geri", ein Abend des Hamburger Balletts mit Jerome-Robbins-Choreografien, die Ausstellung "Armenian Architects of Istanbul in the Era of Westernization" im Istanbul ModernFlorian Henckel von Donnersmarcks Film "The Tourist" (Michael Althen findet ihn auch nicht gelungen, behält in seiner Kritik aber die Samthandschuhe an), und Bücher, darunter Elisabeth Binders Roman "Der Wintergast" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).