16.12.2010. In der FR verteidigt Micha Brumlik den Begriff der Islamophobie und macht gleich mehrere Treitschkes der Jetztzeit ausfindig. Die Welt kritisiert die Schüchternheit der FDP bei der Verteidigung säkularer Werte. Die SZ findet nun auch, dass Wikileaks für einen Paradigmenwechsel im Verhältnis des Staates zu seiner Öffentlichkeit stehe. Ähnlich sieht es Julian Nida-Rümelin in der Zeit. Aber nicht Bernd Ulrich in der Zeit. Der Perlentaucher fragt: Leistungsschutzrechte? Wofür denn?? Alle Zeitungen besprechen höchst beeindruckt Xavier Beauvois' Film "Von Menschen und Göttern".
FR, 16.12.2010
Micha Brumlik
verteidigt Wolfgang Benz und seinen Begriff der "Islamophobie" gegen Blogs wie
Politically Incorrect und
Achse des Guten, die er genüsslich in einem Atemzug nennt. Anders als Patrick Bahners identifiziert er allerdings nicht Necla Kelek, sondern Thilo Sarrazin und Helmut Schmidt (nach einer Äußerung in
Bild) als die
Treitschkes der Jetztzeit: "Für eine
Strukturidentität von Antisemitismus des späten Kaiserreichs und heutiger Islamophobie, für semantische Überschneidungen in den Äußerungen Treitschkes und Sarrazins und auch Helmut Schmidts liegen
so viele Indizien vor, dass eine vergleichende wissenschaftliche Konferenz, wie sie Benz organisiert hat, nicht nur zulässig, sondern geradezu geboten war." (Im
Perlentaucher erklärt Pascal Bruckner, warum der Begriff Islamophobie nur ein Etikettenschwindel ist.)
Weiteres: Jürgen Verdofsky
schreibt den Nachruf auf
Peter O. Chotjewitz. Besprochen werden Lehars
"Lustige Witwe" in Genf, eine
Installation der Küsntlerin
Barbara Kruger in der Schirn und Filme, darunter
Xavier Beauvois Film "Von Menschen und Göttern" (mehr
hier).
FAZ, 16.12.2010
In ihrem derzeitigen Zustand scheint für Dirk Schümer nach dem
Abstimmungssieg Berlusconis die italienische Politik nicht mehr zu retten. Mehr als nur Verständnis hat er für die Proteste, die der Sieg ausgelöst hat: "Während die greisen Leader des Landes - Berlusconi ist Mitte siebzig, der Staatspräsident Napolitano Mitte achtzig - weiter Stühlerücken spielen, hat auf den Straßen der Krieg der Generationen längst begonnen. Es ist die Attacke einer
verlorenen Kohorte - nicht gegen Berlusconi, sondern gegen seine willigen Staatskomparsen."
Weitere Artikel: In der Glosse
schildert Jürg Altwegg die Empörung, die die Veröffentlichung der peniblen
Kleider- und Verhaltensvorschriften für Angestellte der Schweizer Bank UBS in Frankreich ausgelöst hat. Jürgen Kaube
freut sich über die
Studienreformreform, die Mecklenburg-Vorpommern jetzt gegen heftige Proteste beschlossen hat: es gibt wieder ein
Diplom, viele Bologna-Rigiditäten werden gelockert. Über türkische Begeisterung für die nun in Istanbul gezeigte "
Körperwelten"-Schau berichtet Karen Krüger. Walter Hinck schreibt den Nachruf auf den Schriftsteller
Peter O. Chotjewitz.
Besprochen werden die von Tim Albery eingerichtete erste Londoner "
Tannhäuser"-Aufführung seit mehr als zwanig Jahren (es überzeugt vor allem, so Gina Thomas,
Christian Gerhaher als Wolfram von Eschenbach), ein Berliner Auftritt des Sachbuch-Kabarettisten
Vince Ebert, eine Ausstellung über
"Canaletto und seine Rivalen" in der Londoner
National Gallery, eine Ausstellung über die
SANAA-Architekten Kazuyo Sejima und Partner Ryue Nishizawa in der Berliner
Galerie Aedes, die Ausstellung "Was die Welt bewegt" über
Arthur Schopenhauer im Frankfurter
Institut für Stadtgeschichte (Dieter Bartetzko nutzt die Gelegenheit für eine weitere stadtarchitekturgeschichtliche Philippika nutzt), eine CD-Einspielung des "Spiegel"-Zyklus von
Friedrich Cerha durch das SWR-Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling, Bruno Chiches Martin-Suter-Verfilmung "Small World" (
mehr) und Bücher, darunter eins von, eins über
Gloria Vanderbilt und auf der Filmseite ein Sammelband mit dem Titel
"
Reineckerland"
(mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Zeit, 16.12.2010
Auf den vorderen Seiten lässt Bernd Ulrich das schlimme journalistische Jahr 2010 Revue passieren. Selbstkritisch prangert er noch Weltfremdheit,
Homogenität und
Hermetik in den Redaktionen an, um dann dem wahren Skandal auf die Spur zu kommen: Die geleakten Depeschen sind ein alter Hut! "Also wurden erfahrene Journalisten
dazu gedrängt, angesichts der Depeschen vor Überraschung geradezu
verzückte Artikel zu schreiben, in denen sie Tatbestände 'enthüllen' mussten, die sie schon lange vorher dank eigener Recherche beschrieben haben." (Wie wäre es mit einem MedienLeaks, in dem Journalisten von ihrer Knechtschaft berichten können?)
Im Feuilleton hält der
Philosoph und Kurzzeit-Politiker
Julian Nida-Rümelin in Sachen
Wikileaks fest, dass schon für Kant die
totale Öffentlichkeit Voraussetzung für den Frieden zwischen Demokratien war: "Es ist an der Zeit, die Außenpolitik demokratischer Staaten an den Prinzipien der
Klarheit und Wahrheit zu orientieren. Die Bürger eines demokratischen Staates haben
Anspruch darauf, die Strategien ihrer Regierung und deren Motive zu kennen."
Zum 60. Geburtstag des
Schriftstellers Thomas Hürlimann schreibt ihm
Botho Strauß eine Hommage auf die Freundschaft. Zu deren grundlegenden Bedingungen zählt er: "Keine Konkurrenz (...)
Keine Frau im Bund (...) Keine gemeinsamen Geschäfte (...) Kein ebenbürtiger dritter Freund (...)
Keine Sitzungen - immer nur Gänge."
Weitere Artikel: Thomas Groß besucht die unwahrscheinliche Band der
Asmara All Stars in
Eritrea. Petra Reski berichtet von der Saisoneröffnung der
Mailänder Scala. Tuvia Tenenbom war beim
Rammstein-Konzert in New Yorks Madison Square Garden.
Besprochen werden Florian Henckel von Donnersmarcks Superstarfilmvehikel
"The Tourist" ("die
Bunte als Daumenkino" spöttelt Christof Siemes),
David Simons Serie
"Treme" über New Orleans nach Katrina (die entgegen anderslautender Versprechungen erst im März 2011 als DVD erhältlich ist) und Bücher, darunter zwei Neuerscheinungen von
Hans Magnus Enzensberger und Schriften von
Aby Warburg (mehr ab 14 Uhr in unserer
Bücherschau des Tages).
Außerdem im vorderen Teil: Stefan Schmitt beschäftigt vor allem die Frage, wieso drei, vier Firmen
Wikileaks von den weltweiten Bezahlsystemen abschneiden konnten. "Faktisch halten die Amerikaner die
Schlüssel zur Infrastruktur des Internets in der Hand.
Ableger des Pentagon und US-Firmen mit enger Bindung an die Regierung kontrollieren bis heute die obersten Telefonbücher des Netzes (root server)." Khue Pham stellt einige eher unattraktive Anhänger der Aktivistentruppe
Anonymous vor, "Hamster" zum Beispiel: "
Früher war er depressiv und Mitglied bei Scientology."
Welt, 16.12.2010
Die FDP bereitet sich auf die Zukunft vor. Und der Generalsekretär
Christian Lindner scheint sich für kommende Wahlprogramme auf eine Verteidigung säkularer Werte besinnen zu wollen - obwohl von der
FDP bei den jüngsten Debatten um Kultur, Religion und Aufklärung nicht das geringste zu hören war. Dem
Thema Islam weicht die FDP auch jetzt noch aus,
kritisiert Richard Herzinger: "Dabei führt die Frage, ob der islamisch motivierte Extremismus '
dem Islam' insgesamt anzurechnen ist oder nur bestimmten seiner Interpretationsrichtungen, in die Irre. Ungeachtet seiner negativen Begleiterscheinungen gilt das Grundrecht auf Religionsfreiheit in einer freien Gesellschaft auch für den Islam. Die
religiösen Wurzeln des Islamismus in Abrede zu stellen oder zu ignorieren bedeutet jedoch falsch verstandene Toleranz."
Im Feuilleton
scheibt Tilman Krause den Nachruf auf
Peter O. Chotjewitz. Besprochen werden eine große
Napoleon-
Ausstellung in
Bonn, die
"Lustige Witwe" in Genf und
Xavier Beauvois'
Film "Von Menschen und Göttern" (mehr
hier).
NZZ, 16.12.2010
Shehar Bano Khan
stellt die liberal-islamische Bewegung
Sunni Tehreek aus Pakistan vor, von der sie vermutet, dass sie ein Produkt des Geheimdienstes
ISI ist.
Besprochen werden
Xavier Beauvois'
Film "Von Menschen und Göttern" über
Trappistenmönche, die von algerischen Islamisten gekidnappt wurden (
mehr hier), die
Komödie "The Tourist" von Florian Henckel von Donnersmarck, die große
Gustave-Courbet-
Retrospektive in der Frankfurtert
Schirn Kunsthalle,
Strawinskys Stück "Rake's Progress" an der Berliner Staatsoper und
John Bergers Roman über die Liebe "A und X" (mehr ab 14 Uhr in unserer
Bücherschau des Tages).
Perlentaucher, 16.12.2010
Thierry Chervel
wendet sich in der Debatte um
Leistungsschutzrechte gegen das Argument der Verleger, sie seien dem Internet schutzlos ausgeliefert: "Sie wissen ihre Inhalte
bestens zu schützen und haben sich in diesem Punkt in den letzten Jahren kaum entwickelt. Während in anderen Ländern - etwa den USA oder Großbritannien -
Bezahlmodelle gerade wieder als das ganz große Ding diskutiert werden, haben die deutschen Zeitungen die Bezahlmodelle überhaupt nie aufgegeben."
Berliner Zeitung, 16.12.2010
Falko Henning verteidigt sich gegen Vorwürfe, er sei schuld, dass das Buch zum 300. Charite-Geburtstag wegen Plagiaten eingestampft werden musste. Henning war mit der Erstellung des Buchs beauftragt worden: "Ich habe keines der Kapitel, in denen plagiiert wurde, verfasst, sondern lediglich weitergeleitet, also habe ich auch
nicht abgeschrieben." Die Klinik habe ihr Versprechen zur Zusammenarbeit nicht eingehalten. Er habe auch nie Korrekturfahnen zu sehen bekommen und das Manuskript daher
nie freigegeben.
TAZ, 16.12.2010
Zusammen mit dem
Perlentaucher,
Freitag,
Frankfurter Rundschau,
Tagesspiegel,
ECCHR veröffentlicht die
taz einen
Appell gegen die Kriminalisierung von Wikileaks: "Dies sind Angriffe auf ein journalistisches Medium als Reaktion auf seine Veröffentlichungen. Man kann diese Veröffentlichungen mit gutem Grund kritisieren. Aber wir wenden uns gegen
jede Form der Zensur durch staatliche oder private Stellen. Wenn Internetunternehmen ihre Marktmacht nutzen, um ein Presseorgan zu behindern, käme das einem Sieg der ökonomischen Mittel über die Demokratie gleich. Diese Angriffe zeigen ein erschreckendes Verständnis von Demokratie, nach dem die Informationsfreiheit nur so lange gilt, wie sie
niemandem weh tut."
Im Kulturteil
würdigt Jan Süselbeck im Nachruf den Schriftsteller, Übersetzer und einstigen Wahlverteidiger von Andreas Baader
Peter O. Chotjewitz. Besprochen werden
Xavier Beauvois?
Film "Von Menschen und Göttern" und das Berliner
Konzert der
R & B-Sängerin Janelle Monae.
Außerdem informiert uns eine
Meldung über
Kubas erstes eigenes Online-Nachschlagewerk: Das Internetlexikon
EcuRed erklärt die Welt, wie Kuba sie sieht: "Da gibt es einen ellenlangen Eintrag über den Lateinamerikanischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, in dem nüchtern festgestellt wird, dass der
Kapitalismus sich (doch)
nicht selbst zerstört, und der dann ausführlich den Marxismus und seine aktuelle Anwendung erläutert."
Und
Tom.
Tagesspiegel, 16.12.2010
Der
viel kritisierte neue
Jugendmedienschutz-Staatsvertrag ist gekippt,
meldet Sebastian Michael Brauns. "Die Staatskanzlei von Rheinland-Pfalz ist
fassungslos.": "Nachdem FDP und Linke schon vor längerem angekündigt hatten, der Novellierung nicht zuzustimmen, gab auch auch die
CDU am Dienstag überraschend ihr Nein bekannt. Die rot-grüne Minderheitsregierung sieht sich nun
gezwungen, den Vertrag am Donnerstag im Landtag ebenfalls abzulehnen. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) erklärte, man werde für einen Vertrag, gegen den man ohnehin Bedenken habe, nicht den Kopf hinhalten."
Freitag, 16.12.2010
Niels Boeing
malt den seiner Meinung nach drohenden
Cyberwar aus, in ganz neuer Dimension: "Man könnte sie einen '
Info-Bürgerkrieg' im Kulturraum Internet nennen. Die Akteure, und das ist das Erschreckende daran, sind nicht repressive Regime und Dissidenten wie in China, Syrien oder dem Jemen. Der neue Cyber-Konflikt entsteht aus den westlichen Industriegesellschaften heraus, in denen Unternehmen staatlichen Akteuren zur Seite springen und die Informationsfreiheit angreifen."
SZ, 16.12.2010
Einen historischen Schnelldurchlauf unternimmt Andreas Zielcke durch die Geschichte der
Arcana Imperii, also des Staatsgeheimnisses. Nur konsequent scheint es ihm, dass diese ihr vorläufiges Ende nun beim Transparenzinstitut
Wikileaks findet: "Wikileaks steht für einen
Paradigmenwechsel im Verhältnis des Staates zu seiner Öffentlichkeit."
Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh
unterhält sich mit dem Schauspieler Lambert Wilson über den heute anlaufenden Film "
Von Menschen und Göttern". Christian Jostmann versucht die Hintergründe für den angekündigten Radikalstop der Förderung
außeruniversitärer Wissenschaftsinstitutionen in Österreich zu ergründen. Von einer Podiumsdiskussion über die jüngere Vergangenheit der Berliner
Humboldt-Universität und ihre Zukunft unter dem neuen, von seiner "windschnittigen" eigenen DDR-Vergangenheit möglicherweise kompromittierten neuen Präsidenten
Jan-Hendrik Olbertz berichtet Florian Kessler.
Besprochen werden die New Yorker Uraufführung von
Neil LaButes neuem Stück "Break of Noon", die
Josef-Albers-Ausstellung "Malerei auf Papier" in der Münchner Pinakothek der Moderne, und neu anlaufende Filme, nämlich Bruno Chiches
Martin-Suter-
Verfilmung "Small World" und Hans Peter Molands "Ein Mann von Welt" und Bücher, darunter
Cesar Airas Roman "Gespenster" (mehr dazu in der
Bücherschau ab 14 Uhr).