Heute in den Feuilletons

Es war so, es war nicht so

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.01.2011. Die FR meint: Lieber Stephane Hessel als Thilo Sarrazin. Thomas Knüwer fordert strengere Datenschutzrichtlinien gegen Zeitungen. Meedia berichtet über einen möglichen neuen Stellenabbau in der FR (sofern das noch möglich ist). In der Welt korrigiert Fotoreporter Rolf Bauerdick Andre Glucksmanns und Günter Grass' romantisches Zigeunerbild. So proislamisch war Goethe gar nicht, schreibt Necla Kelek an die Adresse des verstorbenen Hadayatullah Hübsch in der FAZ. In der SZ feiert Salman Rushdie das Paradoxe.

Welt, 11.01.2011

Der Dirigent Adam Fischer erklärt im Interview, warum die Ungarn letztlich nicht an die Demokratie glauben: "Ungarn war nie eine Demokratie in westeuropäischem Sinne. Es war geprägt vom Landadel, von einer paternalistischen Gesellschaft, nach wie vor gibt es feudalistische Reflexe. Und der Sozialismus unter Kadar, diese weiche Diktatur, hat dieser Mentalität entsprochen. Noch immer geht es vielen Leuten nicht in die Köpfe, dass einen kein Polizist, sondern nur ein Richter ins Gefängnis stecken kann. Der Staat kann sich in Ungarn Sachen leisten, die in Ländern wie Tschechien nie möglich wären."

Arg romantisch findet der Schriftsteller und Fotoreporter Rolf Bauerdick das Bild, das Andre Glucksmann oder Günter Grass von den Zigeunern verbreiten. Die Wirklichkeit ist geprägt von Roma-Funktionären wie Florin Cioaba, die in Prunkpalästen hausen und einen Maybach vor der Tür stehen haben und den Patronen der Bettelclans, "die mit ihrem System der Schuldknechtschaft die Ärmsten ihres Volkes ausbeuten. Frauen wie Cornelia Lakatus. Im transsilvanischen Cetatea lebt sie mit neun Kindern in einer Hütte aus Astwerk und Lumpen. Zwei Söhne betteln in Frankreich, nicht um Geld für ein menschenwürdiges Heim, sondern für den Wohlstand eines lokalen Kredithais, der auch die Sozialhilfe für Cornelias geistig behinderte Tochter Vandana kassiert. Cornelia zahlt nicht ihre Schulden ab, sondern tilgt horrende Kreditzinsen."

Außerdem: Michael Pilz porträtiert den ehemaligen Kinderstar und Musiker Bruno Mars. Michael Stürmer gratuliert dem Soziologen Wolf Lepenies zum Siebzigsten. Christian Putsch beschreibt George Clooneys Engagement für ein Satelliten-Projekt im Sudan: "'Man kann über Google Earth mein Haus finden', sagte Clooney, 'ich habe mir gedacht, dass Kriegsverbrecher, besonders die Regierung des Sudan, das gleiche Niveau an Prominenz genießen sollten.'"

FR, 11.01.2011

Arno Widmann hat Stephane Hessels Pamphlet "Empört Euch!" gelesen. Der Überschwang und das Feuer stoßen bei ihm eher auf Skepsis ("Es ist, als stiege die Resistance aus dem Grab auf und führte die Freiheit auf die Barrikaden"). Aber dann blickt er doch ein bisschen neidisch auf die Franzosen: "Dort wird ein Aufruf für Immigranten, gegen soziale Ausgrenzung zum Bestseller des Jahres 2010. Bei uns war es der ebenso emotionale, aber mit buchhalterischer Verbissenheit vorgetragene Aufruf gegen Immigranten und für soziale Ausgrenzung von Thilo Sarrazin."

Weiteres: Jakob Schlandt entdeckt in Gesine Lötzschs Kommunismus-Aufsatz so einige totalitaristische Weltverbesserungsvorschläge, im Großen und Ganzen sieht er die deutschen Linken jedoch vor dem Utopismus gefeit. Im Interview mit Hans-Jürgen Linke spricht der amerikanische Dirigent John Axelrod über Orchesterarbeit im 21. Jahrhundert: "Wir müssen spielen, als ginge es um Leben und Tod."

Besprochen werden die Produktion "Neunzehnhundert" der Frankfurter Oper, eine Giacometti-Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg und Dieter Bachmanns Brevier "Unter Tieren" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 11.01.2011

Meedia berichtet über Gerüchte, dass bei der FR weitere Stellen abgebaut werden sollen. Dass das noch gehen soll, wundert einen nach dieser Passage: "Im Jahr 2000 beschäftigte das Blatt noch rund 1.650 Mitarbeiter. Als die SPD-Medienholding DDVG die Frankfurter Rundschau im Jahr 2004 vor der drohenden Pleite rettete und 90 Prozent des Blattes übernahm, arbeiteten dort noch rund 1.110 Leute. Als der Kölner Verlag M. DuMont Schauberg dann 2006 als neuer Mehrheitsgesellschafter einstieg, lag die Zahl der Mitarbeiter noch bei 730. 2009 wurde die Zahl der Mitarbeiter im Durchschnitt mit 539 angegeben."

Thomas Knüwer erklärt aus Anlass des jüngsten Spiegel-Titels über Datenkraken im Netz noch einmal, was das "Listenprivileg" ist: "Dieses Privileg erlaubt es personalisierte Daten - also inklusive Name, Adresse und Geburtstag - zu speichern und für Marketingzwecke weiterzugeben. Dabei dürfen die Daten auch an Dritte weitergereicht - oder besser: verkauft - werden." Nein, nicht Facebook oder Google haben dieses Privileg, erklärt Knüwer weiter, sondern "allen voran die Zeitungs- und Zeitungsverlage. Sie gehören zu den größten Adressdatenhändlern der Republik."

NZZ, 11.01.2011

Susanne Landwehr besucht ein neues Museum in der Türkei, das an erzwungenen Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei in den zwanziger Jahren erinnert. Die Krise ist vorbei, meldet gde., Damien Hirst zeigt wieder seinen Diamanten besetzten Totenschädel, diesmal in Florenz. Martin Meyer gratuliert dem Soziologen und Kulturmanager Wolf Lepenies zum Siebzigsten.

Besprochen werden Alessandro Scarlattis Musikkomödie "Il trionfo dell'onore" in Luzern, der Abschluss von Andras Schiffs Bach-Konzertreihe in Zürich ("bei drückender Fönlage"), Georg Kleins Erzählungen "Die Logik der Süße" und ein Band über Pablo Picassos Besuch in Zürich (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Auf der Medienseite wiederlegt Mirko Marr die angeblich gängige Behauptung, kein Medium hätte sich so schnell verbreitet wie das Internet.

TAZ, 11.01.2011

Zoran Drvenkar erklärt Katharina Granzin, warum er die Leser in seinen Thrillern mit "Du" anspricht: "Ich will dem Leser in den Nacken atmen. Als ich zum ersten Mal die Du-Form angewandt habe, hab ich gemerkt, oh, das ist aber nahe! Denn ich mache damit den Leser zu den Charakteren. Ich erzähle ihm, wie er sich fühlt und was ihm passiert. Das ist gefährlich, weil er dabei sowohl die guten als auch die negativen Charaktere abkriegt."

Andreas Resch legt einen längeren Essay über komplexe Mechanismen der Gentrifizierung in New York vor. Aram Litzel liest für seine Kolumne "Bestellen und Versenden" die neuen Bücher von Hans Magnus Enzensberger. Besprochen wird eine Ausstellungsreihe mit neuer Berliner Kunst in Rostock.

Und Tom.

FAZ, 11.01.2011

In einem in der FAZ abgedruckten Brief des jüngst verstorbenen Hadayatullah Hübsch versuchte dieser, Goethe für die Sache des Islam zu vereinnahmen. So sieht das jedenfalls Necla Kelek, die dann erklärt, warum das so einfach nicht ist: "Goethe ist dem Islam mit Respekt, aber nicht mit Kritiklosigkeit begegnet. An vielen Stellen seines 'Divan' ist er voll beißenden Spotts. Für ihn ist, so schreibt er zum Verdruss mancher seiner muslimischen Rezipienten, Mohammed der 'Verfasser jenes Buches': der Koran nicht etwa göttliche Offenbarung, sondern ein von Menschenhand verfasstes Buch, das der historischen Kritik unterworfen und erst dadurch dem Dialog zugänglich ist. Goethes Auseinandersetzung mit dem Islam ist höchst modern - von ihm können wir lernen."

Weitere Artikel: Über Alexandre Jardins Abrechnungsbuch mit seinem Großvater, einem führenden Kollaborateur, und seinem Vater, der eine beschönigende Biografie dieses Großvaters geschrieben habe, berichtet Jürg Altwegg. Erste Blicke ins nun in Marbach lagernde Suhrkamp-Archiv wirft Jan Bürger (Anlass ist eine morgen beginnende Tagung in Marbach zur "Suhrkamp-Ära".) Katja Gelinsky referiert eine Gelehrtendiskussion zur Frage, ob die Berufung der Richter der Europäischen Gerichtshöfe sich ähnlich politisieren könnte wie in den USA. Zum Tod des Filmregisseurs Peter Yates ("Bullitt") schreibt Michael Althen. Auf der Medienseite referiert Michael Hanfeld die Warnungen des großen Vorsitzenden Mathias Döpfner vor dem Islamismus.

Besprochen werden das "Neunzehnhundert"-Projekt der Oper Frankfurt, Mirko Borschts Hannoveraner Theaterversion von Robert Schneiders Wiedertäuferroman "Kristus - das unerhörte Leben des Jan Beukels", die Timm-Ulrichs-Ausstellung "Betreten der Ausstellung verboten!" in Hannover und Bücher, darunter Gisela von Wisockys essayistische Autobiografie "Wir machen Musik" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 11.01.2011

Salman Rushdie singt ein Loblied aufs Paradoxe: "Das arabische Äquivalent der Floskel 'es war einmal' ist 'kan ma kan', was sich mit 'Es war so, es war nicht so' übersetzen lässt. Dieses großartige Paradox bildet den Grundstein jeglicher Fiktion. Fiktionalität ist nämlich genau der Ort, an dem wir zutiefst an etwas festhalten, obwohl wir genau wissen, dass nichts davon wahr ist, existiert oder je existieren wird."

Weitere Artikel: Heribert Prantl bringt zehn Ess- und Trinksprüche zum Dioxin-Skandal dar. Kristina Maidt-Zinke nimmt einige CDs unter die Lupe, in denen Alte Musik mit Popelementen dubios aufgemischt wird. Alexander Menden betrachtet einen von Damien Hirst als neueste Provokation gefertigten Babyschädel. Albrecht Metzger schreibt über deutsche Unterstützung für Universitäten im Irak. Harald Eggebrecht schreibt in der "Zwischenzeit" über die schwierige Existenz musikalischer Wunderkinder. Stephan Speicher gratuliert Wolf Lepenies zum Siebzigsten. Gemeldet wird, dass Peter Yates, der Regisseur von "Bullitt" gestorben ist.

Besprochen werden Inszenierungen von Stücken Sebastian Schugs und Mirko Borschts in Hannover, Peter Turrinis neues Stück "Silvester" in Klagenfurt und Bücher, darunter ein Band mit Adorno-Vorlesungen zur Dialektik (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).