Heute in den Feuilletons

Pathosstätte und Wundertüte

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2011. In der FAZ hat der Film- und Theaterregisseur Fadhel Jaibi Hoffnung für das postrevolutionäre Tunesien: Es gibt genug begabtes Personal. Auch die NZZ blickt mit verhaltenem Optimismus auf die "Jasmin-Revolution". Das Blog AppleInsider hat Neuigkeiten für Zeitungsverleger: Apple verbietet ihnen, ihre Ipad-Apps als Schmankerl zum Printabo anzubieten. Die taz stellt ein neues Buch des amerikanisch-polnischen Historikers Jan T. Gross über Polen im Holocaust vor, das in Polen für Ärger sorgen könnte. Alle Zeitungen begutachteten das Suhrkamp-Archiv in Marbach.

NZZ, 17.01.2011

Beat Stauffer blickt mit verhaltenem Optimismus auf die Jasmin-Revolution von Tunesien: "Für Tunesien und den ganzen Maghreb ist dies ein historischer Moment. Ein friedliches Volk, das während Jahren von einem brutalen, räuberischen Regime drangsaliert wurde, verjagt seine Unterdrücker, ohne selber zu den Waffen zu greifen. Der Vergleich mit den Vorgängen in der ehemaligen DDR drängt sich auf, auch wenn vieles derzeit noch unklar ist. Tunesien steht allerdings vor einer schwierigen, unsicheren Zukunft. Plünderungen, blutige Abrechnungen und Ausbrüche blinder Gewalt sind zu befürchten. Niemand weiß zurzeit, wie sich die Dinge entwickeln werden. Doch der bleierne Deckel, der während Jahrzehnten über dem Land des Jasmins lag, ist endgültig weggesprengt."

Marion Löhndorf berichtet von den anhaltenden Protesten gegen die britische Bildungspolitik, die neben saftigen Gebührenerhöhungen auch den vollständigen Entzug öffentlicher Gelder für Geistes- und Sozialwissenschaften vorsieht: "Die sogenannte Browne Review, der Report eines ehemaligen BP-Topmanagers über die Zukunft der Universitäten, auf dessen Ergebnisse die Regierung sich bei ihren Beschlüssen beruft, empfiehlt das Zurückfahren aller direkten Regierungszuschüsse für die Lehre, außer bei einigen 'prioritär' behandelten Universitätsfächern wie Naturwissenschaften, Technik, Krankenpflege, Medizin und bestimmten außereuropäischen Sprachen."

Weiteres: Franz Haas annonciert zwei italienische Neuerscheinungen aus ein und demselben Verlag: Umberto Ecos neuen Roman "Il cimitero di Praga" und die angeblichen und umstrittenen Tagebücher von Benito Mussolini. Besprochen werden eine Inszenierung von Frank Wedekinds Frühlingserwachen" am Theater Basel und Maurizio Pollinis Klavierabend in Zürich.

Aus den Blogs, 17.01.2011

Gestern nacht wurden die Golden Globes verliehen. Als bester Film wurde "The Social Network" ausgezeichnet, als beste Darsteller Natalie Portman und Colin Firth. Über alle Preise und das Drumrum berichten Michael Cieply und Brooks Barnes in der NYT. Gawker zeigt in einer Bilderstrecke die schönsten und schrecklichsten Roben der versammelten Gäste. Die schönste war Tilda Swinton, da gibts keine Diskussion. Solange man nicht auf die Schuhe guckt.

Welches deutsche Medium brächte so etwas fertig? Die Huffington Post hat ein Liveblog zu den tunesischen Unruhen eingerichtet.

Eren Güvercin unterhält sich mit Eberhard Straub, dem Autor von "Tyrannei der Werte", der an Werte gar nicht mehr glauben will: "Das christliche Abendland, die griechische Philosophie und die Aufklärung sind im Grunde genommen Redensarten - kein Mensch weiß heute noch, was überhaupt das Christentum ist in einem sich entchristlichenden Europa."

Eine sehr amüsante Meldung für alle deutschen Zeitungsverleger bringt das Blog AppleInsider: "According to a report issued Friday by de Volkskrant (via Google Translate), Apple has employed 'stricter rules' for publishers, informing them that they cannot offer free iPad access to paid print subscribers. By offering free access to print subscribers, newspapers could avoid charging for access through the iPad, and can avoid paying Apple a 30 percent cut of all transactions on the App Store."

Auf weitere lesenswerte Artikel zu Internetthemen (auch zu zerstobenen Ipad-Illusionen) verlinkt Ulrike Langer in ihrem Blog Medial Digital.

TAZ, 17.01.2011

Der polnisch-amerikanische Historiker Jan T. Gross, der bereits mit "Nachbarn" über das polnische Massaker an den Juden von Jedwabne 1941 eine lebhafte Debatte über den polnischen Antisemitismus ausgelöst hatte, beschreibt in seinem neuen Buch "Goldene Ernte", wie Polen vom Holocaust materiell profitiert haben. Das gibt wieder Streit, berichtet Gabriele Lesser. "Kurz vor dem Überfall Polens durch die Deutschen hatte selbst die katholische Kirche Polens den Boykott jüdischer Läden befürwortet. 'Die Juden' wurden im Vorkriegspolen als unliebsame Konkurrenz wahrgenommen. Aus den Berufsvereinigungen und Handwerkskammern wurden Juden ausgeschlossen. Als die deutschen Besatzer 1940 die Arisierung des jüdischen Eigentums anordneten, stiegen Polen zunächst zu Verwaltern der jüdischen Wohnungen, Häuser, Läden, Werkstätten, Restaurants, Hotels und Fabriken auf, schließlich zu deren neuen Besitzern. Es gab viel zu verteilen: das Eigentum von 3,5 Millionen polnischen Juden."

Außerdem: Thomas Winkler empfiehlt die heute auf RTL startende amerikanische Musicalserie "Glee": "jederzeit ironisch bis bösartig und bisweilen sogar subversiv". 2010 sanken die Auflagen der Zeitungen weiter, informiert uns eine Meldung. Klaus Hillenbrand schreibt zum Tod des Nazijägers Tuviah Friedman. Jenni Zylka schreibt den Nachruf auf die "Broadcast"-Sängerin Trish Keenan. Besprochen wird eine Retrospektive der Künstlerin Nasreen Mohamedi an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.

Noch ist der Wechsel zur Demokratie in Tunesien nicht vollzogen, meint der an der FU lehrende Politologe Hamadi El-Aouni im Interview auf den vorderen Seiten. Es fehle an einer echten Opposition und einer neuen Verfassung: "Neuwahlen allein bringen nichts. Und ein Mehrparteiensystem allein wäre keine Alternative zum bisherigen Regime. Denn auf Grundlage dieser präsidialen und absolutistischen Verfassung ist eine Demokratie nicht möglich." Auf der Meinungsseite erzählt der deutsch-irakische Autors Abbas Khider, der 1996 vor Saddam Husseins Schergen nach Europa geflüchtet war, wie seine Familie vor 20 Jahren in Bagdad den Angriff der Amerikaner erlebte.

Und Tom.

Welt, 17.01.2011

Für die gestrige Welt am Sonntag lud Max Dax den Maler Albert Oehlen und den Scooter-Frontmann H. P. Baxxter zum Gipfelgespräch über Drastik in der Kunst: "Oehlen: 'Mich interessiert, ob es ganz spezifische Überwältigungseffekte gibt, die ihr bewusst einsetzt. Kann man gezielt Reaktionen provozieren? Damien Hirst hat diesen präparierten, lebensgroßen Haifisch in der Vitrine. Der Betrachter ist im Angesicht des Haifischs von der Arbeit überwältigt.' Baxxter: 'Du bist von der Naturgewalt beeindruckt, die dich anstarrt, ich verstehe. In der Musik wäre die Entsprechung zum Hai oder zum Gold oder zum Diamantenschädel, vermute ich mal, die Stille.'"

Heute im Kulturteil: Martin Eich porträtiert die Burgtheaterschauspielerin Katharina Lorenz, die die Hauptrolle in Rudolf Thomes Film "Das rote Zimmer" spielt. Marko Martin besucht ein "Museum der Toleranz" in Cordoba, das an die muslimischen Glanzzeiten in der Region erinnert, dabei aber den Nachteil hat, von exkommunistischen und neomuslimischen Holocaustleugner Roger Garaudy konzipiert worden zu sein. Manuel Brug feiert eine von Shermin Langhoff und Tuncay Kulaglo ins Leben gerufene Theatertruppe mit Migrationshintergrund im Ballhaus Naunynstraße (ihr jüngstes Stück heißt "Funk is not Dead"). Richard Kämmerlings besuchte ein Kolloquium über das nunmehr für die Forschung eröffnete Suhrkamp-Archiv in Marbach. Kai Luehrs-Kaiser porträtiert den über Youtube populär gewordenen Chorleiter Eric Whitacre. Und Heimo Schwilk gratuliert Wolf Jobst Siedler zum 85. Geburtstag.

FR, 17.01.2011

Harry Nutt berichtet von der Marbacher Großtagung zur Geschichte des Suhrkamp Verlags, der sein Archiv dem Literaturachiv übergeben hat: "Mit großer Geste wird hier ein Verlag in die Geschichte entlassen und zuleich als Pathosstätte und Wundertüte lebendig gehalten."

Besprochen werden Philipp Löhles Stück "supernova (wie gold entsteht)" am Nationaltheater Mannheim (in dem Peter Michalzik ein deutsches "Erhebt euch!" erkennt), die szenische Erstaufführung von Brice Pausets "Exercices du silence" an der Berliner Staatsoper, Constanza Macras' Tanzstück "The Offside Rules" HAU Berlin und E. L. Doctorows Roman "Homer & Langley" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 17.01.2011

Joseph Hanimann führt ein Gespräch mit dem tunesischen Film- und Theaterregisseur Fadhel Jaibi, der an ein glückliches demokratisches Ende der aktuellen Kämpfe glaubt, auch wenn es schwierig werde: "Es gibt viele intellektuell bestens gerüstete Leute, und es wird auch an begabten Wendehälsen nicht fehlen. Problematisch ist aber die Glaubwürdigkeit beim Volk. Die Ausschaltung der Opposition kam ja nicht erst mit Ben Ali, sondern stammt aus der Zeit Bourguibas, dauert also seit mehr als fünfzig Jahren. Ein Volk, das so lange freier Wahlen entwöhnt ist, braucht besonders starke Persönlichkeiten, die auch breite Schichten ansprechen können. Solche Figuren lassen sich nicht in zwei Monaten hervorzaubern."

Weitere Artikel: Arg weit ausholend erstattet Oliver Jungen von der Marbacher Tagung zum Suhrkamp-Archiv Bericht, die offenbar nicht viel hergab. In der Debatte zur Präimplatationsdiagnostik wägt der Jurist und vormalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof mit trefflicher Sorgfalt die Werte von Wissen, Freiheit und Verantwortlichkeit und weiß: "Freiheit beginnt mit dem Vertrauen in die Verantwortlichkeit des Freiheitsberechtigten." Des Papstes Wunsch nach christlichen Namen glossiert Dirk Schümer. In seiner "Klarer Denken"-Kolumne erklärt Rolf Dobelli, warum man vom guten Ergebnis keineswegs gleich auf die Güte der Entscheidung schließen darf, die zu ihm führte. Gerhard Rohde gratuliert dem Ensemble Modern zum Dreißigsten und würdigt die gleich sechs Uraufführungen, mit denen es die eigenen Jubiläusmfeierlichkeiten nun beendet hat. 

Besprochen werden Stephan Puchers Inszenierung von August Strindbergs Stück "Rausch" am Akademietheater in Wien, die Ausstellung "Picasso Künstlerbücher" im Münchner Museum Brandhorst, Jane Jensens neues Computerspiel "Gray Matter" und Bücher, darunter Helene Bessettes erstmals ins Deutsche übersetzter Roman "Ida oder Das Delirium" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 17.01.2011

Johan Schloemann durfte in Marbach das nunmehr eröffnete Suhrkamp-Archiv besuchen: "mehr als 20.000 Aktenordner - daraus werden etwa 9000 der grünen Marbacher Archivkästen - sowie über 25.000 Bücher. Der Archivleiter Ulrich von Bülow spricht von einer 'hohen Ablagemoral' im Suhrkamp Verlag, besonders zu Zeiten Siegfried Unselds."

Weitere Artikel: Ralf Bönt liest die mehr oder weniger originellen Antworten von Forschern und Internetgurus zur Edge-Frage des Jahres: Gesucht wurde diesmal "das wissenschaftliche Konzept, das jedermanns Erkenntnisapparat verbessert". Stephan Speicher besucht die neue Dauerausstellung zur Geschichte der Stasi in Berlin. Fritz Göttler berichtet von der Verleihung der Bayerischen Filmpreise. Niklas Hofmann liest in den "Nachrichten aus dem Netz" einige Artikel zur Rolle des Internets bei den tunesischen Unruhen (zum Beispiel Clay Shirky hier, Ethan Zuckerman hier, Nate Anderson hier und den wie immer internetskeptischen Evgeny Morozov hier. Ist es nicht nett, dass Perlentaucher der einzigen Internetkolumne ohne Links die Links liefert?). Willi Winkler berichtet, dass Klaus Barbie in seinem bolivischen Versteck vor seinem Prozess in Frankreich Kontakte zum BND und anderen westlichen Geheimdiensten hatte.

Besprochen werden Nigel Coles Film "Made in Dagenham" über einen historischen Frauenstreik in Großbritannien (der "deutsche" Titel des Films ist "We want Sex"), Stefan Puchers Inszenierung von Strindbergs "Rausch" am Akademietheater in Wien, neue DVDs, eine Retrospektive des des Künstlerduos Fischli/Weiss in der Münchener Sammlung Goetz und Tschechows 'Kirschgarten' in der Regie Karin Henkels in Köln.