Heute in den Feuilletons

Dieser kolloquiale Huch- und Krass-Ton

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2011. "Wir sind keine Netzbenutzer mehr, wir sind Netzbenutzte", stöhnt der Publizist Eduard Kaeser in der NZZ. Die Tunesier demonstrieren vor allem für Menschenrechte, schreibt der Philosoph Ridha Chennoufi in der FR. Die Politologin Anne Bayefsky warnt in der Jerusalem Post vor der Durban 3-Konferenz, die ausgerechnet zum Jahrestag des 11. Septembers in New York stattfinden soll. Dem Blog Nerdcore soll der Domainname gepfändet werden - die Kollegen sind aufgeregt und solidarisch.

Welt, 19.01.2011

Peter Praschl greift das viel diskutierte Phänomen der Modeblogger auf, die die Hochglanzzeitschriften ausgerechnet durch Text alt aussehen lassen: "Genau das ist es, wofür ihre Leserinnen Fashion-Weblogs lieben, dieser kolloquiale Huch- und Krass-Ton, mit dem man sich bestens identifizieren kann - und der den traditionellen Modemedien lange gewaltig auf die Nerven fiel, weil es schließlich nicht angeht, wenn Mädchen von der Straße darüber mitreden wollen, was von den gestreiften Absätzen der neuen Prada-Schuhe oder Raf Simons' Leuchtorange für Jil Sander zu halten ist." Mehr zum Beispiel hier.

Weitere Artikel: Manuel Brug bespricht "Black Swan" als "camp prall ausgespielten, surreal übersteigerten Psychodrill, der zum Thriller mutiert". Hanns-Georg Rodek berichtet über Ärger um ein dem israelischen Kino gewidmetes Filmfestival in der Berliner Böll-Stiftung - dort geht es um Israeleinwanderer aus arabischen Ländern, und die von der taz salonfähig gemachte Organisation "Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden" möchte in einem offenen Brief richtig gestellt sehen dass diese Juden nicht vertrieben, sondern von israelischen Gesandten angeworben worden seien - am 31. Januar droht eine Podiumsdikussion. Benjamin von Stuckrad-Barre interviewt Hellmuth Karasek, der in der Jury für das "Unwort des Jahres" saß und erklärt wir das Wort "alternativlos" auserkoren wurde. Peter Dittmar kommentiert neueste Rückforderungen desägyptischen Mumienwächters Zahi Hawass. Besprochen wird eine neue CD der Popsängerin Adele

Weitere Medien, 19.01.2011

Die Politologin Anne Bayefsky lässt in der Jerusalem Post einige antisemtische Vorfälle in jüngsten UN-Sitzungen Revue passieren und warnt vor einer "Amntirassismus"-Konferenz, die zum zehnten Jahrestag der Eklats in Durban in der UNO-Vollversammlung stattfinden soll: "'Durban 3,' named after its notorious 2001 namesake that took place in Durban, South Africa, is aimed at 'mobilizing political will...for the full and effective implementation of the Durban Declaration.' This declaration charges Israel with racism and names no other state. In contrast to Durban 1 and 2 which were attended by very few world leaders, Durban 3 is intended to be the golden ticket for Ahmadinejad and company to promote Zionism is racism. From a New York podium, a few days after the 10th anniversary of 9/11, they will also instruct Americans about tolerance. Though Canada's Prime Minister Stephen Harper has refused to attend, Obama is still undecided."
Stichwörter: Israel, New York, UNO, 9/11

Aus den Blogs, 19.01.2011

Viel Rummel um das Blog Nerdcore, aus dem auch der Perlentaucher immer wieder zitiert. Seinem Betreiber Rene Walter wurde der Domainname gepfändet. Netzpolitik ist auf dem neuesten Stand: "Ich habe gerade mit Rene telefoniert. Der Sachverhalt gestaltet sich folgendermaßen: Die Firma Euroweb hat ihn für einen Artikel über die Firma abgemahnt. Rene hat auf die Abmahnung nicht reagiert." Mehr Links zur Affäre bei Rivva. Und Die Freischreiber erklären, warum sie auf keinen Fall eine Spende vom Nerdcore-Gegner annehmen werden.
Stichwörter: Netzpolitik, Abmahnungen

TAZ, 19.01.2011

Auf der Meinungsseite untersucht Georg Seeßlen die Abkehr von Modelkörpern und luxuriösem Design in einigen deutschen Zeitschriften. Dort gebe es jetzt einen Trend zum "sichtbar gemachten Glück von sozialer Absicherung, eigener Glamourproduktion und kontrollierter Sexyness. Andernorts mag man es den Terror der Intimität nennen. Wir nennen es Brigitte und Schöner Wohnen."

Besprochen werden die Polke-Schau in der Berliner Akademie der Künste, Darren Aronofskys Film "Black Swan" ("ganz große Horror-Oper", verspricht Thomas Groh), die CD "Fabric 55" des britischen Dubstep-Produzenten Sam Shackleton und ein Bildband des Fotografen Sean Ellis, "Kubrick The Dog" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 19.01.2011

"Wir sind keine Netzbenutzer mehr, wir sind Netzbenutzte", fürchtet der Publizist Eduard Kaeser und sieht die Grenzen zwischen Simulation und Realität schwinden: "Der Mensch ist dem, was er hervorbringt, nicht mehr gewachsen. Er wird zum Anhängsel seiner Erfindungen. Wenn Leute über ihr verlorenes Handy wie über einen abhandengekommenen Körperteil oder gar einen 'Todesfall' klagen, drückt sich darin genau diese meist unbewusste Symbiose aus. - Simulation gehört zum Personsein. 'Person' leitet sich ab von 'Maske'. In den Florentiner Uffizien hängt eine Bildtafel von 1510 mit der Aufschrift: 'Jedem seine Maske (sua cuique persona)' - ein perfektes Motto für Facebook, dieses Forum zum Ausprobieren von Masken."

Weiteres: Japan liest und ehrt auch seine Autoren, berichtet Daniela Tan: "Jährlich werden in Japan über hundert Literaturpreise verliehen." Besprochen werden die Ausstellung "Spagat!" über Design aus Istanbul im Museum Marta in Herford , neue Inszenierungen von Friedrich Dürrenmatt und Elfriede Jelinek in St. Gallen, Peter Longerichs Goebbels-Biografie, die Oxford-Romane "Jill" und "Jim im Glück" von Philip Larkin und Kingsley Amis (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)

FR, 19.01.2011

Ridha Chennoufi, Professor für Politische Philosophie an der Universität Tunis, stellt klar, dass die Demonstrationen in ganz Tunesien gänzlich unideologisch waren, "weder islamisch noch marxistisch": "Sie eroberten die Ideale des liberalen und demokratischen Denkens zurück: den Respekt vor der Würde der Person, den Menschenrechten, der Freiheit des Einzelnen, der freien Meinungsäußerung, die Ablehnung einer lebenslangen Präsidentschaft und die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. Die Parolen, die in allen Regionen Tunesiens erklangen, beweisen der ganzen Welt und den arabischen und muslimischen Ländern im Besonderen, dass die Demokratie und die Menschenrechte allgemeine Gültigkeit besitzen und die einzigen Waffen darstellen, die in der Lage sind, den Sultanismus von gestern und den Autoritarismus von heute zu besiegen."

Weiteres: Arno Widmann besucht das neueröffnete Memorium Nürnberger Prozesse. Besprochen werden Darren Aronofskys Psychodrama "Black Swan" ("grandios", findet Daniel Kothenschulte) und die Schubert-Interpretationen des Baritons Matthias Goerne "Nacht und
Träume".

SZ, 19.01.2011

So schön physisch findet Rainer Gansera Darren Aronofskys Film "Black Swan": "Zum Beispiel gleich zu Beginn, wenn Aronofsky in einer Kontrastmontage zeigt, wohin die Reise gehen wird. Zuerst präsentiert er Bilder einer Schwanensee-Szene, bei der virtuos auf Spitze getanzt wird, und erweckt mit den Tänzern im Gegenlicht genau jene Vorstellung, die man von 'Schwanensee' hat: ätherische Schönheit, Schweben, Prunk, Leichtigkeit, Märchenkulisse. Dann der Schnitt in den Probenraum. Großaufnahme eines Tänzerinnenfußes, der sich auf die Spitze stellt. Es knirscht und knackt, man hat Angst, dass der Fuß gleich umknicken wird. Schon befinden wir uns mitten im Drama der Ballerina, die sich nicht aus dem Bann ihrer Mutter befreien kann."

Warum sind manche Menschen autonom, unabhängig von der Meinung anderer? Das versucht gerade eine Gruppe Wissenschaftler in Essen herauszufinden, berichtet Franziska Augstein und beschreibt das Problem am Beispiel von Doris Dörries' Managertest:



Weitere Artikel: Jeanne Rubner beschreibt die lähmende Situation in Belgien, das seit 220 Tage praktisch ohne Regierung ist: "Neuwahlen? Spaltung? Die Gespenster erzeugen nur noch resigniertes Schulterzucken." Auf der Medienseite schreibt Niklas Hofmann über die Pfändung von Nerdcore.

Besprochen werden die von Turner-Preisträger Simon Starling kuratierte Ausstellung "Never The Same River (Possible Futures, Probable Pasts)" im Camden Arts Centre in London, Georg Schmiedleitners Inszenierung von "König Lear" am Hamburger Schauspielhaus, einige CDs, die bisher nur auf Englisch erschienene Ausgabe von Jonathan Safran Foers grafischem Schmuckstück "Tree of Codes" und Johann Hinrich Claussens Buch "Gottes Häuser oder Die Kunst, Kirchen zu bauen und zu verstehen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 19.01.2011

Von den Schwierigkeiten, die man als Oppositioneller in Russland hat, berichtet Kerstin Holm am Beispiel von Boris Nemzow vor. Der jüngste Coup Wladimir Putins sei zudem ein heftiger Schlag für alle, denen Ethik etwas bedeutet: "Der Triumph von Premier Putin scheint total. Dass sich der britische Ölriese BP durch einen Aktientausch mit dem russischen Staatskonzern Rosneft verbunden hat, um Erdölvorkommen in der russischen Polarmeerzone auszubeuten, ... zeigt idealtypisch, was das Geheimdienst-Establishment immer schon wusste: Die Menschenrechtsrhetorik des Westens verstummt, sobald Geschäftsinteressen berührt sind."

Weitere Artikel: Tilman Spreckelsen stellt die Jugendbuchautorin Suzanne Collins und ihre Trilogie "Die Tribute von Panem" vor, deren Abschlussband heute in deutscher Übersetzung erscheint. Der Jurist Christian Starck kritisiert die Stellungnahme der Akademien, die unter gewissen Umständen eine Embryoselektion bei der künstlichen Befruchtung für möglich hält, aus ethischen und formaljuristischen Gründen scharf. Die Entscheidung der mächtigen Pariser Ballettchefin Brigitte Lefevre, Laurent Hilaire zum Co-Direktor und damit wohl auch Nachfolger zu bestimmen, kommentiert Wiebke Hüster. Gemeldet wird, was wohl mehr als ein Gerücht ist: Okwui Enwezor wird neuer Direktor am Münchner Haus der Kunst. In der Glosse zeigt sich Christian Geyer mit der Ausrufung von "alternativlos" zum Unwort des Jahres in gut konservativer Weise wenig einverstanden: das Leben, wie es nun einmal ist, sei an Alternativlosem durchaus reich. Auf der DVD-Seite werden Filme des jüngst verstorbenen Regisseurs Peter Yates - von "Bullitt" bis "The Friends of Eddie Coyle" - gesichtet. Nicht übermäßig blogosphärenfreundlich kommentiert Marcus Jauer die Hintergründe von Rene Walters Verlust seiner Nerdcore-Domain. (Altpapier kommentiert den Text nicht besonders jauerfreundlich).

Besprochen werden eine Inszenierung von Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" in Saarbrücken (die Dieter Bartetzko die Aktualität des Dramas in Zeiten deutscher Soldaten im Krieg schlagartig klar macht), Darren Aronofskys Tanzhorrorfilm "Black Swan", und Bücher, darunter Joseph Vogls wirtschaftswissenschaftskritische Studie "Das Gespenst des Kapitals" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).