22.01.2011. In der taz erzählt György Dalos, mit welchen miesen Tricks die Regierung von Viktor Orban Druck auf die Medien und Intellektuellen ausübt. In der Berliner Zeitung erinnert sich Angela Winkler an Klaus Michael Grüber. In der FAZ fragt Mercedes Bunz: Ist die Digitalisierung für die Angestellen, was die Industrialisierung für die Arbeiter war? Alle Zeitungen besprechen Michael Thalheimers Inszenierung der "Weber" am Deutschen Theater: Aber ist das wirklich Blut, das da rieselt?
FR, 22.01.2011
Als nicht nur im guten Sinn zeitgemäß
begreift Tobi Müller
Michael Thalheimers Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Antikapitalismusklassiker "Die Weber" am Deutschen Theater in Berlin: "Die Weber, und es sind wahrlich nicht die schlechtesten Schauspieler dabei, kläffen und trinken in der Regel. Am Anfang, in der Mitte, und am Ende noch ein bisschen mehr. Der Abend hat Verständnis für die Herrschenden und
Angst vor der Unterschicht. Als wäre es Thalheimers Eingeständnis, mittlerweile selbst in der besitzenden Klasse angekommen zu sein. Es fließt kein Theaterblut an diesem Abend, es rieselt
blaues Farbpulver."
Weitere Artikel: Birgit Walter
kommentiert mit einem lachenden Berliner und einem weinenden Frankfurter Auge die Fusionspläne der Verlage
Eichborn und
Aufbau (der Spagat könnte damit zu tun haben, dass der Text aus der Dumont-Zentralredaktion kommt und
wortgleich in der
Berliner Zeitung erscheint). In den Debatten um
Ursula Sarrazin erkennt Harry Nutt nicht zuletzt ein Zeichen für "die Überforderung der Institution Schule". Carsten Hueck
erinnert an die Autorin
Anna Maria Jokl, die dieser Tage ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte.
Besprochen werden
Frank Castorfs Inszenierung einer Theaterversion von
Jeremias Gotthelfs Erzählung "Die schwarze Spinne" am Schauspielhaus Zürich und eine
Werkschau des Architekten
Paul Bonatz im
Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt.
TAZ, 22.01.2011
Im
Interview freut sich der Schriftsteller
György Dalos über die Mobilisierung der Opposition gegen den mit wenig umschränkter Macht regierenden
Viktor Orban. Er macht sich allerdings auch keine Illusionen über die prekären Verhältnisse: "Die Regierung kann die kritischen Medien damit erpressen, dass sie
keine Werbeaufträge mehr vergibt. Auch Intellektuelle werden auf diese Weise erpresst, derzeit werden zum Beispiel eine Reihe von Philosophen mit hanebüchenen Ermittlungsverfahren vom Finanzamt überzogen. Das ist in einem kleinen Land wie Ungarn, wo alles, auch die Philosophie, nur vom Staat leben kann,
existenzbedrohend."
Weitere Artikel: Dirk Knipphals
hat so seine Zweifel, ob die Fusion von
Aufbau und
Eichborn verlegerisch funktionieren kann. Auf den vorderen Seiten wird die Angelegenheit von Christoph Schröder
kommentiert. Mit Andrew Butler, dem Chef der Band
Hercules & Love Affair,
unterhält sich Tim Caspar Boehme. Die Haremsdamen Jutta Winkelmann und Christa Ritter
verteidigen in der Kolumne ihren
Dschungelcamp-Rainer - die interessantere Version des Textes ist, nicht zuletzt der saftigen
Markus-Lanz-Beschimpfung wegen, allerdings die nicht bereinigte, die man nur
online findet. Christina Steenken
macht auf den
Perlentaucher-Unterstützungsaufruf aufmerksam. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne
empfiehlt Tania Martini auch zur Lage in Tunesien die Lektüre nicht nur des jüngsten Textes des "Subaltern Studies"-Mitbegründers
Dipesh Chakrabarty.
Besprochen werden die
Ausstellung "
New Topographics: Photographs of a Man-altered Landscape" in
Köln, das Film-
Sequel "Tron: Legacy" und Bücher, darunter
Yann Martels Holocaust-
Roman "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts" und das neue
Norbert-Bolz-
Werk "Die ungeliebte Freiheit" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).
Und
Tom.
Berliner Zeitung, 22.01.2011
Angela Winkler erinnert sich in einem schönen Gespräch mit Klaus Dermutz an
Klaus Michael Grüber: "Klaus erzählte mir zwei Jahre vor seinem Tod, dass sein Vater auch erst sehr spät aus der
Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückgekommen war. Sein Vater war Pfarrer und Lehrer, und alle Schüler standen auf dem Schulhof, Klaus auch, er hatte seinen Vater noch nie gesehen. Alle Schüler haben Klaus' Vater die Hand gegeben. Sie hielten
Blumensträuße in der Hand, die Kirchenglocken läuteten, und der kleine Klaus stand inmitten der anderen Kinder und hat sich
nicht zu erkennen gegeben."
Welt, 22.01.2011
Im Feuilleton
staunt Kolja Reichert, dass es die Telekom und der "Fanta 4"-Sänger Thomas D hinbekamen, Tausende von Deutschen bei einem
Werbespot mitsingen zu lassen. Henryk M. Broder
findet nach Ansehen einer
Dokumentation die Frage, ob
Gregor Gysi Stasi-IM war, sekundär - denn er war ein
ergebener Diener des Systems bis hin zum Vorwurf des Mandantenverrats, zu dem sich Gysi in der Doku nicht mal äußern wollte. Richard Kämmerlings
geht mit
Sibylle Lewitscharoff essen. Alisa Wissenbach
berichtet über die annoncierte Fusion der Verlage
Aufbau und
Eichborn.
Besprochen wird
Michael Thalheimers Inszenierung der "Weber" am Deutschen Theater Berlin.
In der Literarischen Welt ist eine
Preisrede Henryk Broders auf den Autor
Manfred Lütz und sein Buch "Irre! Wir behandeln die Falschen" abgedruckt. Besprochen werden unter anderem
Christian Hallers Roman "Die Stecknadeln des Herrn Nabokov",
Clotilde Schlayers Chronik der letzten Jahre
Stefan Georges (mehr
hier) und
Norman M. Naimarks Studie "Stalin und der Genozid" (mehr
hier), die versucht, Stalins millionenfachen Morde auf den
Genozid-Begriff zu bringen (und die Rezensentin
Sonja Margolina nicht völlig überzeugen kann). Außerdem
denkt der
Schriftsteller Jan Koneffke angesichts einer monumentalen Ausgabe der "Menschen des 20. Jahrhunderts" von
August Sander über die höchst aktuell
aussehende "Rundfunksekretärin" nach.
NZZ, 22.01.2011
Im Aufmacher von Literatur und Kunst ist die Festrede
Peter von Matts zum zwanzigjährigen Bestehen des
Schweizerischen Literaturarchivs abgedruckt. Die Gründung des Archivs war nicht ohne. Matt
erinnert sich daran, wie er 1987 in einer Runde mitüberlegte, was mit
Friedrich Dürrenmatts Nachlass geschehen solle. "Die Diskussion lief besorgt hin und her, als plötzlich der Gedanke auftauchte: Das wäre doch jetzt die Möglichkeit, der Eidgenossenschaft behutsam das
Messer an den Hals zu setzen und zu sagen: 'Ihr bekommt den Nachlass des großen Friedrich Dürrenmatt, wenn ihr ihn zum Grundstein eines nationalen Literaturarchivs macht.' Durch das gewaltige Geschenk, dachten wir, könnten jene drei ominösen Worte an der Wand,
das choschted aber, neutralisiert werden". Jetzt mussten sie nur noch Dürrenmatt fragen...
Weitere Artikel: Hans-Ulrich Jost
erklärt, welchen Wert
literarische Werke für den
Historiker haben. Tilman Nagel
stellt neue Übersetzungen des
Korans vor.
Im Feuilleton
erzählt Philipp Blom von seinem digitalen Alltag. Andrea Eschbach
berichtet über die
Möbelmesse in Köln.
Besprochen werden eine
Ausstellung zum Werk von
Giovanni Segantini in der
Fondation Beyeler in Riehen,
Frank Castorfs Inszenierung von Jeremias Gotthelfs "Schwarze Spinne" am Zürcher Schauspielhaus und Bücher, darunter
Günter de Bruyns Band "Die Zeit der schweren Not" und
Jan Assmanns Studie "Religio duplex" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FAZ, 22.01.2011
Bedeutet die
Digitalisierung für die Angestellten dasselbe wie einst die Industrialisierung für die Arbeiter? Ja, aber keine Angst, beruhigt Mercedes Bunz im Aufmacher von
Bilder und Zeiten: "Die Industrialisierung schrieb dem Arbeiter eine neue Rolle zu; in der gleichen Weise verschiebt die Digitalisierung die Rolle von Experten, indem sie von den sogenannten gehobenen Berufen - von Journalisten, Ärzten, Lehrern oder Ingenieuren - eine
Neuausrichtung ihrer Legitimation einfordert: Weil jeder Wissen googeln kann, basiert die Autorität von Experten heute weniger auf dem Umstand, faktisch mehr zu wissen, als vielmehr darauf, den
strukturellen Überblick zu besitzen." Jetzt muss man nur noch der wachsenden Überprüfungsmöglichkeit durch andere mit
Souveränität begegnen.
Außerdem: Klaus Lüderssen liest
Kleists Novelle "Michael Kohlhaas" mit Blick auf die heutige Zeit. Carolin Pierich hat einen Ortstermin mit LKA-Spezialistin für
gefälschte Gemälde. Und der Schauspieler
Benoit Poelvoorde spricht im Interview über sein Metier.
Ganz groß, diese
Thalheimer-Inszenierung der "Weber",
ruft Gerhard Stadelmaier im Feuilleton: "Alle erleben sie ihr blaues Wunder. Und so passen sich die
Wut-Ekstasen des von den Aufständischen aus dem Haus vertriebenen Fabrikanten Dreißiger in Ausdruck und Lautstärke denen der Empörer an: Man sieht aus allen Ordnungen Gefallene,
oben wie unten. Alle sind sie gleich: in ihrer Seelenblöße. Und Thalheimer nimmt sie bitterernst. Sie sind nicht von gestern. Und nicht von heute. Sie sind
für immer."
Im Feuilleton schüttelt Sandra Kegel nach Lektüre von
Amy Chuas "Why Chinese Mothers Are Superior" den Kopf: "So findet man vielleicht Erfolg. Aber nicht sein Glück." Der Vorabdruck aus Chuas Buch (es erscheint nächste Woche auf Deutsch) im
Wall Street Journal hat in Amerika eine Debatte über
lasche westliche Erziehungsmethoden ausgelöst.
Mehr dazu bei Gawker. In der Gastro-Kolumne fordert Jürgen Dollase ein Ende des "
kulinarischen Werterelativismus". Christina Hucklenbroich berichtet von einer Lesung
Karen Duves und
Jonathan Safran Foers in Berlin, bei der hauptsächlich Studenten erschienen: "Der Protest gegen
Massentierhaltung ist zum Thema einer Generation geworden, die nach
Abgrenzung sucht." Michael Hanfeld
schildert den Versuch von AWD-Gründer
Carsten Maschmeyer, mit juristischen Mitteln kritische Fernsehreportagen über sich zu verhindern. Dirk Schümer erzählt, wie schwärmerisch sich Österreich an seinen Kanzler
Bruno Kreisky erinnert. Martin Otto berichtet über einen Vortrag von
Paul Kirchhoff, der die staatliche Souveränität durch die Finanzkrise gefährdet sieht. Andreas Rossmann freut sich über die Restaurierung des gotischen
Triumphkreuzes in der Sankt-Vincentius-Kirche in Dinslaken (
mehr hier). Den
Chamisso-Preis erhält in diesem Jahr der Luxemburger Autor
Jean Krier, informiert uns eine Meldung. Auf der letzten Seite erzählt Sabine Riedel von dem
Wald, den sie vor wenigen Monaten gekauft hat.
Besprochen werden
Pia Marais' Film
"Im Alter von Ellen" und Bücher, darunter
Esther Kinskys Roman "Banatsko" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr). Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um neue CDs von
Adele (
hier) und
Wynton Marsalis, Schubert-Lieder mit
Matthias Goerne und eine Aufnahme von
Anatoli Liadows Klavierwerken mit Olga Solowjowa.
In der Frankfurter Anthologie stellt Wolfgang Werth ein Gedicht von
Grimmelshausen vor:
"
DU sehr-verachter Bauren-StandDU sehr-verachter Bauren-Stand /
Bist doch der beste in dem Land /
Kein Mann dich gnugsam preisen kann /
Wann er dich nur recht sihet an.
..."
SZ, 22.01.2011
Jens-Christian Rabe berichtet über eine Veranstaltung in Bielefeld, bei der handverlesene Ökonomen über die Finanzkrise diskutierten: "Selbst
Hilmar Kopper machte keinen Hehl daraus, dass das Bankgeschäft ein hochspekulatives Geschäft sei: 'Jede Zusage auf fünf Jahre ist ein
Kasino-Geschäft.'" Tomas Avenarius ist ins tunesische Städtchen
Sidi Bouzid gereist, wo die "Revolution" mit der Selbstverbrennung des Mohamed Bouazizi ihren Ausgang nahm. Über die zukünftige
Kultur(stätten)politik in Tunesien macht sich Johan Schloemann Gedanken. Die Untergebenen in die Takelage zu schicken, das hat, daran erinnert aus
aktuellem Anlass Christopher Schmidt, eine lange Vorgeschichte als Anlass von
Meuterei. Die gestern verkündete, aus ökonomischer Not geborene Fusion der Verlage
Eichborn und
Aufbau bedeutet, wie Stephan Speicher kommentiert, auf jeden Fall eins: Frankfurt verliert mit Eichborn schon wieder einen interessanten Verlag an Berlin.
In der
SZ am Wochenende porträtiert Julia Amalia Heyer die weltkundige Schriftstellerin
Leila Marouane. Auf der Historienseite erinnert Michael Frank an Österreichs berühmtesten Kanzler
Bruno Kreisky, der dieser Tage seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Andrian Kreye stellt die Boxerporträts des Fotografen
Holger Keifel vor. Karin Steinberger führt ein recht eindrucksvolles Interview mit dem wegen Mordes zu zweimal lebenslang verurteilten, in den USA in Haft sitzenden Deutschen
Jens Söring, der seine Unschuld beteuert und verzweifelt um seine Auslieferung nach Deutschland kämpft.
Besprochen werden
Michael Thalheimers Inszenierung von Gerhart Hauptmanns "Die Weber" am Berliner Deutschen Theater (die Christine Dössel als
wutbürgerlich lobt), die Ausstellung "Panton and contemporary Danish design" in den
Nordischen Botschaften Berlin, James L. Brooks'
Hollywoodkomödie "Woher weißt du, dass es Liebe ist?" (die Fritz Göttler im Gegensatz zur Mehrheit der Kritiker für "genial" hält) und Bücher, darunter
zwei Bände über
Wikileaks (mehr dazu in der
Bücherschau ab 14 Uhr).