Heute in den Feuilletons

Diesmal nicht mit der Flex

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.02.2011. In der FR stellt der ägyptische Schriftsteller Khaled Alkhamissi klar: Diese Revolution ist der ägyptischen Jugend zu verdanken und niemandem sonst. Die NZZ erkundet den Stand der Keramikkunst in Japan. Die FAZ bringt eine Beilage zur Berlinale und porträtiert den iranischen Regisseur Mohammed Rasoulof, der wie Jafar Panahi im Gefängnis sitzt. Die taz fragt: Wird Nicole Krauss verrissen, weil sie so schön, begabt und berühmt ist? Elfriede Jelineks "Winterreise" in Hamburg findet vereinzelte Befürworter. 

FR, 05.02.2011

Der ägyptische Schriftsteller Khaled Alkhamissi berichtet von seinen Erlebnissen mitten in Kairo. Er war unter den Demonstranten am Al-Tahrir-Platz, er empört sich über den Westen und über Husni Mubarak und seine brutalen Versuche, Chaos zu produzieren. Vor allem aber eines macht er unmissverständlich klar. Diese Revolution ist der ägyptischen Jugend zu verdanken und niemandem sonst: "Einige Führer von Parteien, die es gar nicht gibt, sprangen auf den Zug auf. Auch Dr. Mohammed Baradei, der absolut nichts mit Politik zu tun hat. Gestern richtete einer unserer großen Musiker seine Worte an Baradei: 'Wir lieben Sie, aber wir lieben Sie so wie den ägyptischen Obelisken in Paris. Sie haben mit uns nichts zu tun. Sie wissen nichts über uns.'"

Weitere Artikel: Holger Schmale erinnert (hier in der Berliner Zeitung) an Ronald Reagan, der dieser Tage seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Wie schwierig es ist, auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen, schildert Natalie Soondrum in einer "Times Mager".

Besprochen werden Johann Simons' Umsetzung von Elfriede Jelineks jüngstem Theatertext "Winterreise" an den Münchner Kammerspielen (Peter Michalzik hält die Inszenierung für nicht wirklich gelungen, hier ist seine Kritik in der Berliner Zeitung), Romeo Castelluccis Brüsseler "Parsifal"-Inszenierung und Holger Noltzes Streitschrift für komplexen Umgang mit komplexer Musik "Die Leichtigkeitslüge" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 05.02.2011

Höchst kenntnisreich und lesenswert schreibt Philipp Meier in Literatur und Kunst über die stets noch lebendige und sich modernisierende Szene der Keramikkunst in Japan - gerade der Gebrauchskeramik wird dabei ein hoher ästhetischer Wert beigemessen: "Das Verständnis von 'Schönheit im Gebrauch' (yô no bi) ist auch Grund dafür, warum in Japan Gebrauchsspuren oder mit Goldlack reparierte Bruchstellen (kintsugi) ein Objekt bisweilen noch wertvoller machen. Die Patina der Abnutzung entspricht japanischem Schönheitsempfinden. Zu diesem zählt auch die Wertschätzung des Asymmetrischen und manchmal Sperrig-Spröden. Hinzu kommt eine Vorliebe für die Spuren der Herstellung: Das Spiel des Zufalls, das durch die unberechenbaren Kräfte des Feuers beim Holzofenbrand entsteht, ist oft wichtiger Bestandteil der Gestaltung. So gelten etwa durch Ascheanflug spontan entstandene Glasuren als Ausdruck kunstvoller Natürlichkeit." Hamada Shoji (Bilder) und Fukami Suehari (Bilder) gelten als wichtige Erneuerer. Mehr im Museum of Modern Ceramic Art in Tajimi. Auch eine Berliner Ausstellung wird empfohlen.

Weitere Artikel: Thomas Blubacher erinnert an das Schauspielhaus Zürich unter Oskar Wälterlin zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Othmar Keel fragt, wie groß Israel in alttestamentlichen Zeiten war - neue Grabungen geben Aufschluss. Susanne Ostwald liest die Memoiren Mark Twains, die in einer neuen Edition (Auszüge) in den USA überraschend zum Bestseller wurden.

Fürs Feuilleton bespricht Andrea Winklbauer eine Retrospektive der österreichischen Künstlerin Birgit Jürgenssen. Besprochen werden außerdem Gounods "Faust", inszeniert von Andreas Homoki, in der Staatsoper Hamburg, Jelineks "Winterreise" in München und Bücher, darunter Thomas Glavinics neuer Roman "Lisa" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 05.02.2011

Vom Neid zerfressen müssen die Kritikerinnen und Kritiker sein, die Nicole Krauss' soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Roman "Das große Haus" verrissen haben. Glaubt Susanne Messmer: "Anders jedenfalls kann man sie sich nicht erklären, die Häme, die das bürgerliche Feuilleton derzeit über ein Buch ausschüttet, das von einer der schönsten, begabtesten und berühmtesten Autorinnen stammt, die Amerika gerade zu bieten hat. Zugegeben: Nicole Krauss ist so schön, begabt und berühmt, dass es kaum auszuhalten ist. Sie ist eine New Yorker Jüdin, Glamour pur. Aber was das Schlimmste ist: Sie ist mit dem Autor Jonathan Safran Foer verheiratet, den begabt und berühmt zu nennen noch eine Untertreibung wäre." Und wahrscheinlich auch noch Vegetarierin!

Weitere Artikel: Ekkehard Knörer porträtiert die Filmproduzentin Katrin Schlösser, die unter anderem Ulrich Köhlers Berlinale-Wettbewerbsfilm "Schlafkrankheit" koproduziert hat. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne greift Wolfgang Gast Jörg Schröders scharfe Kritik an Andres Veiels Filmversion der Frühgeschichte des RAF-Terrorismus auf - der Film "Wer wenn nicht wir" läuft im Wettbewerb der Berlinale. Aufs Kleist-Frisch-Bernhard-Jubiläumsjahr 2011 blickt Dirk Knipphals, die Verlagskataloge im Blick, voraus. Julian Weber gratuliert dem Freejazz-Saxofonisten Peter Brötzmann zum Siebzigsten. Edith Kresta schreibt zum Tod des Schriftstellers Edouard Glissant. Für die Medienseite hat David Denk ein halbes Jahr lang die Entstehung des "Polizeirufs" vom kommenden Sonntag beobachtet.

Auf den vorderen Seiten informiert Sonja Hegasy über die sehr wohl existierende Vorgeschichte zivilgesellschaftlicher Protestkultur in Arabien. Die in Deutschland lehrende französische Historikerin algerischer Herkunft Nora Lafi spricht im Interview mit Edith Kresta über die Chancen und Risiken der Transformation in Tunesien. Außerdem stellt Beate Willms das Gewerkschaftsportal labournet.tv vor, auf dem Filme über Arbeitsbedingungen und die Proteste dagegen aus der ganzen Welt gesammelt und meist kostenfrei zugänglich gemacht werden. Im Gespräch mit Doris Akrap und Meike Laaff erklärt Mark Surman, Geschäftsführer der Mozilla-Foundation, warum er glaubt, dass man mit dem Markt gegen den Markt arbeiten muss, wenn man widerständige Software will. Doris Akrap und Jan Feddersen blicken voraus auf den von Freitag und taz (in Kooperation u.a. mit dem Guardian und dem Perlentaucher) veranstalteten Medienkongress "Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt".

Besprochen werden Bücher, darunter die "Abschiedsbriefe" zwischen Helmuth James und Freya von Moltke sowie ein kritischer Sammelband zur Holocaust-Erinnerungspolitik der vergangenen dreißig Jahre (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 05.02.2011

Der Künstler Thomas Demand kündigt eine Serie von Alexander Kluge an, der für die Welt Interviews mit Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern machen wird. Zum Auftakt wird Kluge selbst befragt: Und zwar über die Kunst der Gesprächsführung. Als er zu Wort kommt, sagt er: "Ich habe, wenn ich ein Gespräch führe, eine dienende Aufgabe. Ich lege eine Verbindung zwischen dem Interesse eines Zuschauers oder Lesers, den ich mir vorstelle und demjenigen, was ich spüre, dass Sie es meinen. Dazwischen suche ich die direkteste Verbindung. Direktheit ist die Tugend. Wenn wir aber über Bilder von ihnen sprechen, steht die Aura dazwischen. Ich weiß ja, dass ein Künstler einen Tausendfüßler regiert. Das ist für direkte Kommunikation der einzelnen Fußbewegungen nicht leicht."

Außerdem: Hanns-Georg Rodek geht essen mit Dieter Kosslick. Hannes Stein schickt eine Post aus Amerika. Besprochen werden die Uraufführung von Elfriede Jelineks "Winterreise" in München und die Aufführung von Tschaikowskys Oper "Eugen Onegin" in Valencia (Omer Meir Wellber dirigiert die "slawische Seelenmusik duftig und fettfrei", lobt Manuel Brug).

In der Literarischen Welt schreiben Silke Scheuermann (hier) und Cora Stephan (hier) zu Bascha Mikas "Die Feigheit der Frauen". Margriet de Moor spricht im Interview über ihren Rembrandt-Roman "Der Maler und das Mädchen". Paul Jandl besucht den Autor Thomas Glavinic, der gerade seinen neuen Roman "Lisa" veröffentlicht hat, in Wien. Der israelische Politologe Shlomo Avineri sieht Israels Linke am Ende. Und es gibt einen Vorabdruck aus Peter Stephan Jungks Roman "Das elektrische Band. Besprochen werden unter anderem Philip Roths Roman "Nemesis" (dem Klaus Harpprecht den Aufmacher widmet) und Philip Pullmans Roman "Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus".

SZ, 05.02.2011

Im Prinzip sehr berührend findet Christopher Schmidt Elfriede Jelineks an den Münchner Kammerspielen uraufgeführten jüngsten Theatertext "Winterreise": "Dabei ist es die große Stärke ihrer 'Winterreise', dass Elfriede Jelinek diesmal nicht mit der Flex auf der Bühne wütet und frontal auf Aufregerthemen losgeht - obwohl Finanzkrise, Bankenskandal und Amstetten wieder vorkommen... Aber ihre 'Winterreise' ist darum keine müßige Zweitverwertung, sondern eine schmerzhafte Gedankenreise durch die eigene Biografie, die immer tiefer in ihre Familiengeschichte hineinführt." Leider ist aber, klagt Schmidt, Johan Simons' Inszenierung total daneben: "Jelinek als holländisches Bauerntheater? Das kann einfach nicht gutgehen."

Weitere Artikel: Alex Rühle würdigt die von der US-Menschenrechtsaktivistin Joanne Michele zusammengestellte Auflistung der bei den Aufständen in Ägypten ums Leben Gekommenen als "ägyptisches Totenbuch unserer Tage" und erkennt darin einmal mehr "die Kraft und intelligente Wirkmacht sozialer Netzwerke". Im April wird es in der Münchner Glyptothek eine Ausstellung der rekonstruierten antiken "Ägineten"-Skulpturen zu sehen geben - Johan Schloemann hat bereits einen Blick darauf werfen können und erklärt die historischen Hintergründe der Rekonstruktionsgeschichte. Cord Riechelmann informiert darüber, dass Vladimir Nabokov, den die Lepidopterologen-Zunft für diese These verlachte, nach jüngsten DNA-Erkenntnissen im Recht war: Die Schmetterlingsart Polyommatus ist tatsächlich aus Asien nach Amerika eingewandert. Der Rockkritiker Pat Blashill schildert, wie er nach seinem Umzug nach Wien die Klassische Musik kennenlernte. Fritz Göttler gratuliert dem (u.a. Bond-)Szenenbildner Ken Adam zum Neunzigsten. Auf der Literaturseite findet sich der Anfang des im Herbst erscheinenden Hans-Blumenberg-Romans von Sibylle Lewitscharoff vorabgedruckt. 

Im Aufmacher der SZ am Wochenende plädiert Joachim Käppner angesichts von Tiger- und anderen strengen Müttern für Gelassenheit in der Kindererziehung. Eine Reportage aus den Hauptstädten der krisengeschüttelten Volkswirtschaften Europas liefert Alex Rühle. Auf der Historienseite erinnert Sebastian Beck an Landwirtschaftsskandale im 19. Jahrhundert. Kerstin Hölzer unterhält sich mit dem Ganzheitlichkeitstheoretiker Deepak Chopra über "Bewusstsein".

Besprochen werden ein Münchner Konzert, bei dem die br-Sinfoniker unter Daniele Gatti Mahlers Fünfte spielten und das bei ECM veröffentlichte Album "Rruga" des Jazztrios um Collin Vallon.

FAZ, 05.02.2011

Die Beilage Bilder und Zeiten ist schon ganz der Berlinale gewidmet. Verena Lueken fragt, was das Festival für den iranischen Regisseur Jafar Panahi tun wird, der für Jahre im Gefängnis sitzt (man wird einen Stuhl freilassen), und sie porträtiert Panahis ebenfalls inhaftierten Kollegen Mohammed Rasoulof: "Rasoulof wollte Filme machen. die von der jetzigen Welt erzählen und möglichst helfen, sie zu verändern. Was wird aus dem iranischen Kino, wenn seine Regisseure im Gefängnis sitzen?"

Außerdem organisierte die Filmredaktion der FAZ eine Umfrage unter Regisseuren über ihr Verhältnis zu Ingmar Bergman, dem die Retro der Berlinale gilt. Bert Rebhandl interviewt Elfi Mikesch, die einen Film über Werner Schroeter gemacht hat. Und Verena Lueken fragt Isabella Rossellini, wie sie die Jurysitzungen, denen sie vorstehen wird, zu organisieren gedenkt.Auch die Buchbesprechungen gelten Kinothemen - unter anderem bespricht Dominik Graf die Schriften des Produzenten Laurens Straub (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Im Feuilleton legt Johanna Adorjan auf zwei ganzen Spalten dar, warum das Streiten über Bascha Mikas Streitschrift "Die Feigheit der Frauen" nicht lohnt. Nina Belz unterhält sich mit dem Fernsehjournalisten Frederik Pleitgen (ja, dem Sohn), der gerade für CNN in Ägypten ist, über die dortigen schwierigen Bedingungen. Dieter Bartetzko glossiert das jüngste Gerücht um die Mona Lisa, für die angeblich ein Mann Modell gesessen hat. Jürgen Dollase ist für seine Gastrokolumne nach Brüssel gereist, wo er in der Brasserie des Palais des Beaux Arts gegessen hat, aber die Reise hat sich alles in allem nicht gelohnt. Gina Thomas verfolgte eine Tagung über W.G. Sebald in Aldeburgh. Kerstin Holm berichtet Bedrückendes über die Inhaftierung von immer mehr kritischen oder bloß dadaistischen Künstlern in Russland. Edo Reents unterhält sich auf der letzten Seite mit dem ehemaligen Landwirtschaftsminister und jetzigen Bauern Karl-Heinz Funke über Landwirtschaft nach dem Dioxinskandal.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um eine Einspielung der Humperdinck-Oper "Königskinder" unter Ingo Metzmacher, um eine CD des Country-Blues-Sängers Gregg Allman, um eine CD von Iron & Wine (Musik) und um eine Reedition von Wilhelm Backhaus' Aufnahmen der Chopin-Etüden. Hier spielt er Nummer 10:



Besprochen werden außerdem Elfriede Jelineks "Winterreise" an den Münchner Kammerspielen (Gerhard Stadelmaier ist ungnädig) und der Tierfilm "Serengeti" (mehr hier).

In der Frankfurter Anthologie liest Urlich Greiner Nico Bleutges "schlaf II":

und manchmal, nachts, da geht der atem leise
der körper wach, die augen eingerollt
das schauen mischt sich in die kreise
die noch der schlaf im innern zieht (...)"