Heute in den Feuilletons

Ich lehne den Tod strikt ab

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2011. In der FAZ erklärt die israelische Schriftstellerin Hadara Lazar, warum ihr Land angesichts der ägyptischen Unruhen zwischen Sympathie ud Furcht schwankt. In der taz sieht Bahman Nirumand keine Parallele zwischen Iran 79 und Ägypten 11. Die Zeit bringt zwei ägyptische Autoren, einen patriotischen und einen armeefreundlichen. Außerdem freut sie sich auf die Berlinale, wo mit Schönheit und Konsequenz die schwermütigsten Themen transzendiert werden. 

TAZ, 10.02.2011

Der Publizist Bahman Nirumand erklärt, inwiefern der Protest in Ägypten und die iranische Revolution von 1979 nur auf den ersten Blick Parallelen aufweisen. Anders als heute in Ägypten sei etwa die Lage des Militärs in Iran gewesen: "Die iranischen Offiziere, meist in den USA ausgebildet, korrupt und ohne Nationalstolz, gerieten schon bei den ersten Massendemonstrationen in Panik. Einige Generäle ergriffen die Flucht, andere streckten heimlich die Fühler zur aufkommenden Macht aus. Die wenigen, die standhaft blieben, vermochten nicht mehr, den Apparat zusammenzuhalten."

Cristina Nord stimmt auf die heute beginnende Berlinale ein und hat schon mal einen Bären- Kandidaten für den "trunkensten Film", der allerdings nicht im Wettbewerb, sondern im Forum läuft: "Sleepless Night Stories" von Jonas Mekas. Rene Hamann berichtet über eine Lesung zum Gedenken an den Schriftsteller Thomas Bernhard im Deutschen Theater in Berlin. David Denk unterhält sich mit Max Raabe über Einstecktücher, seinen Werdegang und sein neues Album mit Texten von Annette Humpe.

Besprochen werden die Wild-West-Satire "True Grit" von den Brüdern Joel und Ethan Coen, die heute Abend die Berlinale eröffnet, und die DVD von Edgar Reitz? Film "Stunde Null" aus dem Jahr 1976.

Und Tom.

NZZ, 10.02.2011

Der israelische Politikwissenschaftler und frühere Regierungsbeamter Shlomo Avineri gibt nicht viel Hoffnung auf die ägyptische Revolte, Parallelen sieht er nicht zu Polen, sondern Russland: "Um zu gelingen, bedarf eine demokratische Umwälzung historischer Grundvoraussetzungen - des Vorhandenseins einer Zivilgesellschaft, einer Tradition politischer Repräsentation, von Pluralismus und Toleranz, von Erfahrungen mit einem Vielparteiensystem sowie einer Gesellschaft, die weder sozial noch ökonomisch in sich zerfallen ist. Russland gingen diese Voraussetzungen in hohem Maße ab." (Sollen wir dies auch als Kritik an den russischen Israelis verstehen?)

Auf den Filmseiten blickt Susanne Ostwald euphorisiert auf die heute beginnende Belinale: "Was die Berlinale in puncto Temperaturen im Vergleich mit Cannes und Venedig schuldig bleibt, das macht sie mit ihrem profilierten Programm wett." Jörg Becker würdigt Ingmar Bergman, dem in diesem Jahr die Retrospektive gewidmet ist. Alexandra Stäheli hat sich Jo Baiers Verfilmung von Tiziano Terzanis Bestseller "Das Ende ist mein Anfang" angesehen.

FR, 10.02.2011

Vor 99 Jahren entdeckten deutsche Forscher die Nofretete-Büste, deren Herausgabe an Ägypten durch die aktuellen Ereignisse erst einmal abgewendet ist. Damit das auch so bleibt, fordert der Religionssoziologe Franz Maciejewski nun deutsche Archäologen auf, verstärkt zum "kulturellen Gedächtnis von Amarna" zu forschen: "Gelänge ein solches Unternehmen, dürften wir mit Blick auf die Büste getreu dem Goethe-Wort sagen: Was wir ererbt von unseren Vätern, haben wir endlich erworben, um es rechtens zu besitzen." (Rechtens? Wirklich?)

Außerdem: Daniel Kothenschulte schreibt zur Eröffnung der Berlinale heute abend. Besprochen werden Eli Craigs Splatter-Parodie "Tucker & Dale vs. Evil", Florian Cossens Filmmelodram "Das Lied in mir", eine CD von Iron and Wine und Bücher, darunter Robert Doisneaus Fotoband "Mein Paris" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 10.02.2011

Peter Beddies unterhielt sich mit einem gut gelaunten Jeff Bridges über dessen neuen Film "True Grit", mit dem die Berlinale eröffnet wird. Mara Delius verweist auf einen New Yorker-Artikel der amerikanischen Autorin und Stand Up-Comedian Tina Fey über die schwierge Kunst, Karriere und Mutterschaft unter einen Hut zu bekommen. Matthias Kammann verfolgte einen Vortrag Wolfgang Kraushaars über die Stuttgarter Proteste gegen den neuen Bahnhof. Miriam Holstein berichtet über französische Reaktionen auf den Film "Die Kinder von Paris", der in offenbar recht unerträglich schmonzettiger Weise die Geschichte der Judenverfolgung in Paris nacherzählt. Boris Kalnoky berichtet vom Freispruch der türkischen Autorin Pinar Selek, gegen die in Istanbul fabrizierte Terrorismusvorwürfe vorgebracht wurden - auch Günter Wallraff hat sich für sie eingesetzt.

Besprochen werden eine Neuverfilmung von "Gullivers Reisen" und die Andre-Heller-Show "Magnifico".

Freitag, 10.02.2011

Kersten Knipp erklärt in einem Dossier über die ägyptischen Unruhen, welche tragischen Ereignisse in der arabischen Welt säkulare Ideen aus der Mode brachten: "Der Säkularismus hatte durch die Niederlage gegen Israel eine kaum zu verkraftende Schmach erlitten - und die frommen Scheichs von der arabischen Halbinsel konnten sich vor Reichtum nicht mehr retten. 'Daraus den Schluss zu ziehen, Gott belohne die Seinen und bestrafe die Sünder, lag auf der Hand', kommentiert der libanesische George Corm den ideellen Umschwung, den die arabische Welt in jener Zeit durchlief."

Außerdem fragt Robert Misik, ob das, was in Ägypten passiert, den Titel der Revolution verdient. Im Kulturteil erinnert Georg Seeßlen an Ingmar Bergman, dem die Berlinale-Retro gewidmet ist.

Jungle World, 10.02.2011

Oliver M. Piecha und Thomas von Osten-Sacken fragen nach Auswirkungen der ägyptischen Revolte auf die Regimes in umliegenden Ländern: "Die vom Westen gestützten Regimes fallen oder werden bedrängt, aber je stärker die Forderungen der Demonstranten nach Freiheit und demokratischen Reformen werden, desto unangenehmer wird für die Machthaber im Iran und in Syrien, in Gaza-Stadt und in Südbeirut die Frage, welche Auswirkungen die Proteste auf ihre eigene Herrschaft haben werden."
Stichwörter: Iran

Weitere Medien, 10.02.2011

Das Orchester de Paris stellt Videos sämtliche Sinfonien Gustav Mahlers online - Dirigent ist Christoph Eschenbach. Da sich die Videos auf der Seite des Orchesters nicht einbetten lassen, hier der Beginn der Fünften auf Youtube:


Zeit, 10.02.2011

Gleich zwei ägyptische Schriftsteller kommen in der Zeit zu Wort und werfen ein Licht auf die intellektuelle Lage im Land. Der Autor Khaled al-Khamissi attackiert den Westen: "Das ägyptische Volk hat gänzlich das Vertrauen in das Regime wie auch in den Westen verloren. Die europäischen Staaten verfügen über ein kompliziertes Netz von Interessen und scheren sich nicht um die legitimen und humanen Prinzipien, wie sie die Ägypter derzeit einfordern." Der Schriftsteller Gamal al-Ghitani meint: "Ich bin dafür, dass die Armee für eine Übergangszeit die Regierung übernimmt. Sie ist die einzige einigermaßen saubere Institution in unserem Land."

Katja Nicodemus blickt auf die heute beginnende Berlinale voraus, besonders spannend findet sie die deutschen Beiträge von Andres Veiel, Wim Wenders, Jan Krüger und Jan Schomburg, die ihr eine beeindruckende Todeserfahrung bescherten: "Was zeigen uns die Regisseure? Dass die Schönheit und Konsequenz eines Films das schwermütigste Thema transzendieren kann. Dass man sich wie Woody Allen ('Ich lehne den Tod strikt ab') in einem Film, in dem ein Mensch im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Tod kämpft, bestens unterhalten fühlen kann."

Weiteres: Im kurzen Interview erklärt Woody Allen, wofür er Ingmar Bergman, dem die Retrospektive gewidmet ist, am meisten bewundert: "'Wilde Erdbeeren', Das siebente Siegel' und 'Das Gesicht'" (zum Thema Allen-Bergman zitiert Jeffrey Wells in seinem Filmblog aus dem "Film Snob Dictionary": "Watching a Bergman film is so PBS tote-bag, so Mom-and-Dad-on-a-date-in-college, so baguettes-and-Chardonnay." Naja, total 2006 das) Christof Siemes folgt Bergmans Spuren auf der Insel Farö. Elisabeth von Thadden porträtiert die amerikanische Soziologin, Spitzenforscherin und grassroot-Bürgerin Juliet Schor.

Besprochen werden eine Eugen Schönebeck gewidmete Ausstellung in der Frankfurter Schirn, eine Schau des Blauen Reiters in der Wiener Albertina, Johans Simons - laut Silvia Stammen recht verkorkste - Inszenierung von Elfriede Jelineks "Winterreise", James Blakes Debütalbum und Bücher, darunter Philip Roth' "Nemesis" und Yasmina Khadras Roman "Die Schuld des Tages an die Nacht" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Im Politikteil erklärt Roberto Saviano, wie Silvio Berlusconi mit seinen Fernsehsendern Italien fest im Griff behält.

FAZ, 10.02.2011

Wie sehr sie und wie sehr ganz Israel zwischen Sympathie für die ägyptische Demokratiebewegung und Angst vor ihren Folgen hin- und hergerissen ist, beschreibt die israelische Schriftstellerin Hadara Lazar: "Man könne nicht vergessen, dass der erste israelische Versuch, demokratische Wahlen in den besetzten Gebieten zu unterstützen, zur Herrschaft ihres größten Feindes führte, der Hamas-Terroristen. Angesichts der ägyptischen Entwicklung könne man sich auch vorstellen, dass irgendwann Zehntausende Palästinenser friedlich nach Israel marschierten - und wer würde sie aufhalten können?"

Weitere Artikel: Die drei deutschen Berlinale-Wettbewerbs-Regisseure Yasemin Samdereli, Ulrich Köhler und Andres Veiel geben im traditionellen Dreierinterview Auskunft über ihre Filme und die deutsche Filmlandschaft. In Frankreich gibt es, wie Jürg Altwegg berichtet, eine Ethik-Debatte um sogenannten "Doctor Babys": in vitro gezeugte Kinder, die ihren erbkranken Geschwistern z.B. mit einer Transplantation das Leben retten sollen. Oliver Tolmein denkt darüber nach, wie sich solche "Produktion" eines Menschen als Mittel zu einem noch so guten Zweck mit dem Respekt vor seinem Eigenwert verträgt. Gegen den Geist des Deutsch-Polyglotten in der Region findet es Hannes Hintermeier, dass in der Slowakei jetzt Englisch als verpflichtend zu lernende Fremdsprache eingeführt wird. Nachrufe gibt es auf die Filmwissenschaftlerin Miriam Hansen, den Althistoriker Ernst Badian und die Autorin Andree Chedid.

Besprochen werden Andre Hellers in München uraufgeführte neue Show "Magnifico", die Ausstellung "Surreale Dinge - Skulpturen und Objekte von Dali bis Man Ray" in der Frankfurter Schirn, das Beatsteaks-Album "Boombox", die Patty-Moon-Platte "Mimi and Me", Florian Cossens Spielfilm-Debüt "Das Lied in mir" und Bücher, darunter Philip Roths neuer Roman "Nemesis" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 10.02.2011

Große und spürbare Mühe gibt sich Andrian Kreye, in seinem Text zu Andre Hellers "Magnifico"-Show alles kulturkritische Gebaren zu unterlassen. Stephan Speicher war dabei, als Wolfgang Kraushaar in Berlin erste Studien zur S-21-Protestkultur vorstellte, die zum Ergebnis kommen, dass die Demonstranten wohl bürgerlich waren, aber doch von vorneherein aus dem links-grünen Milieu. Über das Wirken der Suchmaschinen zuspammenden Contentfabriken (mehr hier und hier) informiert Michael Moorstedt. Kai Strittmatter freut sich, dass die Schriftstellerin Pinar Selek in der Türkei nun ein drittes Mal freigesprochen worden ist. In seinem Artikel zum 100. Geburtstag des Medientheoretikers Marshall McLuhan sieht Jan Früchtjohann dessen Erbe bei den Netzeuphorikern sehr lebendig.

Der bislang verschlossene Mussolini-Balkon in Rom wird, wie Susanne Gmür berichtet, jetzt wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (mehr hier). Mit dem Komponisten Marton Illes unterhält sich Reinhard J. Brembeck. Der Jurist Wolff Heintschel von Heinegg denkt über das Verhältnis von Völkerrecht und Cyberwarfare nach. Susan Vahabzadeh gratuliert dem Filmemacher Michael Apted zum Siebzigsten. Auf der Literaturseite porträtiert Kaspar Renner den kleinen Berliner Theorie-Verlag diaphanes, der mit Joseph Vogls Ökonomiestudie "Das Gespenst des Kapitals" einen unerwarteten Bestseller gelandet hat. Über die Verleihung eines postumen Man-Booker-Preises an die im vergangenen Jahr verstorbene Autorin Beryl Bainbridge informiert Alexander Menden.

Besprochen werden die Uraufführung von Nurkan Erpulats Integrationskomödie "Clash" am Deutschen Theater Berlin, eine ins Facebook-Zeitalter versetzte Version von George Balanchines "Coppelia"-Ballett an der Semperoper in Dresden, der Berlinale-Eröffnungs-Film "True Grit" des Brüderpaars Coen, Florian Cossens Spielfilmdebüt "Das Lied in dir" und Bernhard Sinkels neuer Roman "Augenblick der Ewigkeit" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).