Heute in den Feuilletons

Und unten schreiten Tuba und Pauken

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.02.2011. Scharfe Kritik an Michail Chodorkowski bringt die SZ in der Beilage "Russland heute". Ist aber nur eine Anzeige, auch wenn's nicht so aussieht, berichtet die NZZ. Matthias Spielkamp verfolgt in seinem Blog die windungsreiche Karriere des Begriffs "Qualitätsjournalismus". Die FR geht bewusst in die Knie vor Re Soupault. In der FAZ fragt Necla Kelek: Wie kulturrelativistisch darf eine Justizministerin sein?

NZZ, 15.02.2011

Ulrich M. Schmid macht uns mit einer neuen PR-Offensive des Kremls vertraut, der jetzt auch in der SZ mit der Monatsbeilage "Russland heute" für sich werben darf: Kleine Kostprobe aus dem Blättchen, das wie eine ehrwürdige Zeitungskooperation daherkommt, aber von der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta produziert wird: "Einst skrupelloser Geschäftsmann und mächtiger Oligarch, zitiert Michail Chodorkowski heute aus der Bibel und philosophiert über die Zukunft Russlands."

Richard Herzinger sieht die Gefahr einer unheilvollen Entwicklung in Ägypten noch nicht gebannt, nach einem Parforceritt durch die Revolutionsgeschichte schließt er: "Ob ihr ursprünglicher freiheitlicher Impetus verwirklicht oder ins Gegenteil verkehrt wird, hängt davon ab, wie schnell Revolutionen von einer besonnenen politischen Führung selbst beendet werden - und ob die freigesetzte umstürzlerische Energie rechtzeitig in die geregelten Bahnen gerechter Institutionen gelenkt werden kann."

Weiteres: Susanne Ostwald hat im Berlinale-Wettbewerb bisher keinen Film gesehen, der dem Festival Profil hätte geben können; den außer Konkurrenz laufenden Pina-Film von Wim Wenders lässt sie als Ausnahme gelten. Besprochen werden Bert Brechts und Paul Dessaus Oratorium "Deutsches Miserere" an der Oper Leipzig, Martha Gellhorns Reportagen "Reisen mit mir und einem Anderen" (Leseprobe) Edward Abbeys Roman "Die Monkey Wrench Gang" und Andreas Webers Roman "Veitels Traum" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Die Medienseite lässt mit Philipp Otto von iRights.info noch einmal einen Kritiker des geplanten Leistungsschutzrechts zu Wort kommen, da dies in der "deutschen Presse" ja selten geschehe: "Der Journalist Mario Sixtus verglich diese paradoxe Auffassung mit Restaurantbesitzern, die Geld von Taxifahrern verlangen, die ihnen die Gäste bringen. Auf diese krude Argumentation der Verlagsvertreter sind inzwischen auch die Journalistengewerkschaften DJU und DJV hereingefallen. Sie hoffen so wenigstens ein paar Krümel vom Kuchen abzubekommen, wenn ein solches Gesetz in Kraft tritt."

Aus den Blogs, 15.02.2011

Matthias Spielkamp ist zu einer Bundestagsbefragung über "Qualitätsjournalismus" eingeladen und konstatiert in seinem Blog, dass sich der Sinn dieses Begriffs in den letzten Jahren verschoben hat: "Auch der Begriff Qualitätsjournalismus hat in letzter Zeit seine Unschuld verloren. War es früher selbstverständlich, zwischen Boulevard- und Qualitätsjournalismus zu unterscheiden (...), so haben es Springer (ausgerechnet!), FAZ & Co. inzwischen offenbar geschafft, den Begriff umzudeuten in 'Qualitätsjournalismus ist das, was Presseverlage tun (auch im Internet), Nicht-Qualitätsjournalismus ist alles andere'."

FR, 15.02.2011

Die Kunsthalle Mannheim hat die erste große Retro der Fotografin und Autorin Re Soupault organisiert. Natalie Soondrum ist besonders begeistert von ihrer Reisefotografie: "Sie ist eine Frau im Hosenrock und flachen Riemchensandalen, die sich frei fühlt, welche Pose auch immer einzunehmen, um den Blick auf das zu lenken, was sie wahrnimmt. Und wenn das schüchterne Flüchtlingskinder sind oder Menschen in bewegten Situationen, geht sie bewusst in die Knie."

Weitere Artikel: Die FR hat Hans-Jürgen Linke ins nordschwedische Jokkmokk expediert, wo eine Tagung über Winter und Klimawandel stattfand. Martin Gehlen berichtet, dass es entgegen einiger Entwarnungen durchaus Plünderungen im Altägyptischen Museum von Kairo gegeben hat. Gemeldet wird, dass Ai Weiwei seine erste großen Ausstellung in China, die mit Rücksicht auf den gleichzeitigen Volkskongress der KP verschoben werden sollte, aus Protest abgesagt hat. Philipp Bühler berichtet von der Berlinale.

Besprochen werden Dieter Dorns "Käthchen"-Inszenierung in München, eine neue CD von PJ Harvey und Georges Hyvernauds Kriegsgefangenen-Roman "Haut und Knochen" (mehr hier).

Welt, 15.02.2011

Im Gespräch mit Max Dax trauert der venezianische Gastronom Arrigo Cipriano ("Harry's Bar") um sein altes Venedig: "Noch vor wenigen Jahrzehnten zählten wir Venezianer um die 250 000 Einwohner. Heute sind wir nicht mehr als 45 000 - und von denen sind die meisten über 75 Jahre alt. Man sollte Defilibratoren in den Vaporetti bereitstellen."

Weitere Artikel: Ulrich Weinzierl hat in Köln Alvis Hermanis' "Oblomow"-Inszenierung gesehen, die kongenial gewesen zu sein scheint ("Noch nie habe ich im Verlauf einer Premiere und danach so viele Bekenntnisse gehört, man sei während der Vorstellung eingenickt"). Paul Jandl verfolgte in Salzburg eine Tagung über Thomas Bernhards eher mittelmäßige Lyrik

Besprochen werden Kleists "Käthchen", die Abschiedsinszenierung von Dieter Dorn am Bayerischen Staatsschauspiel, Berlinale-Filme, darunter Alexander Mindadzes Film "An einem Samstag" über die Tschernobyl-Katastrophe und Dokumentarfilme aus Irland, Israel und dem Iran.

Auf der Meinungsseite schreibt eine sehnsuchtsvolle Ulrike Ackermann mit Blick auf Ägypten und Tunesien: "Vielleicht lassen sich die Deutschen ja anstecken von dem Aufbruch in die Freiheit, den sie aus der Ferne beobachten."

TAZ, 15.02.2011

Julia Große meldet, dass London die erste Fußgängerzone droht, und zwar ausgerechnet auf der Exhibition Road, wo sich bisher "Ferraris, Taxen und Range Rover mit Abu-Dhabi-Kennzeichen" stauen. Franz X.A. Zipperer beschreibt, wie die marokkanische HipHop-Szene auf die Ereignisse von Tunesien und Algerien blickt.

Auf den Berlinale-Seiten werden eher pflichtbewusst die Filme des gestrigen Tages besprochen, darunter Ralph Fiennes' Shakespeare-Verfilmung "Coriolanus", der russische Beitrag "V Subbotu" und Werner Herzogs Doku-Oper "Cave of Forgotten Dreams".

Und Tom.

FAZ, 15.02.2011

Nicht für liberal, sondern für in gefährlicher Weise kulturrelativistisch hält Necla Kelek eine Rede von Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zum Verhältnis von Islam und Rechtsstaat. Sie legt ihr daraufhin den Rücktritt vom Amt mehr als nur nahe: "Ihr Menetekel, dass die Forderung an Muslime, sich zu integrieren und Freiheitsrechte zu akzeptieren, zu Fundamentalismus führe, ist, von einer liberalen Ministerin formuliert, eine Kapitulationserklärung. Mich würde es überraschen, wenn dies in der Koalition mehrheitsfähig wäre. Dabei zwingt doch niemand Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Justizministerin zu sein, wenn sie sich überfordert fühlt."

Auf der Medienseite erklärt der Regisseur und AG-Dok-Sprecher Thomas Frickel, warum das Fernsehen seinen gesetzlich vorgesehen Aufgaben in Sachen Filmförderung nicht mehr gerecht wird: "Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat nicht das Recht, die Filmkultur nach seinem Geschmack zurechtzubiegen. Es hat vielmehr die Aufgabe, dem deutschen Film eine Plattform zu bieten und ihn der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es gibt eine direkte Verpflichtung zur Pflege der nationalen Filmkultur."

Weitere Artikel: Den nunmehr in Mexiko lebenden Blogger Airen befragt Felicitas von Lovenberg über sein aktuelles Befinden, ein Jahr nach dem Hegemann-Skandal. Über den polnischen Historikerstreit um die Beteiligung polnischer Bauern an der Ermordung von Juden informiert Karol Sauerland. Jürg Altwegg kommentiert den Abstimmungssieg für die Schweizer Freunde des privaten Waffenbesitzes. Vom Brecht-Festival in Augsburg berichtet Tomasz Kurianowicz. Die Pläne zum Umbau des Pariser Hotel de la Monnaie - der alten Münze - schildert Sabine Frommel. Auf der Berlinale-Seite feiert Andreas Platthaus die ersten vier Stunden von Takahise Zezes Fast-Fünf-Stünder "Heaven's Story" und Rüdiger Suchsland findet, dass es sich bei Chen Kaiges "Sacrifice" um gutes Gebrauchskino fürs große chinesische Publikum handelt. Besprochen werden die Wettbewerbsfilme "An einem Samstag" und "Coriolanus". In der Glosse will Andreas Kilb zur Abwechslung mal weder mehr Hollywood noch mehr Filmkunst für die Berlinale, sondern Politik, Politik, Politik.

Besprochen werden ein Kölner Konzert von Esben & The WitchAlvis Hermanis' "Oblomow"-Inszenierung in Köln, die Ausstellung "Agathe Snow. All Access World" in der Deutschen Guggenheim in Berlin, und Bücher, darunter Virgilio und Matteo Vercellonis "Geschichte der Gartenkultur" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 15.02.2011

Am deutlichsten werden politische Positionen des Auswärtigen Amtes immer bei seinen Pensionären. Jürgen Chrobog, ehemals Staatssekretär im AA, der neulich schon bei Anne Will die Israelis für nahezu alle Probleme im Nahen Osten verantwortlich machte, jubiliert in der SZ jetzt geradezu: "Jetzt rächt es sich, dass so viele Jahre ohne erkennbare Zugeständnisse verstrichen sind, in denen Israel wohlmeinende arabische Nachbarn hatte. Jede demokratisch gewählte ägyptische Regierung wird sich gezwungen sehen, Partei für Palästina und seine Bewohner zu ergreifen. Für Israel bedeutet das: Es wird schwerer werden, in der Region Verständnis für seine Politik zu finden."

Und so schildert Helmut Mauro Friedrich Schenkers "In Höhen - Spiegellandschaft / eine Alpenorchestermusik" beim Münchner "Musica Viva"-Festival: "Es beginnt gleich hochdramatisch, peitschende Geigenbogenhiebe und harte Paukenschläge treiben die aufjaulenden Blechbläser in höchste Höhen. Ein schrilles Flirren stellt sich ein, intensiv laut, und unten schreiten Tuba und Pauken in Siebenmeilenstiefeln durchs Gebirge."

Weitere Artikel: Im Aufmacher erklärt Andreas Zielcke noch einmal, was in Ägypten geschah. Niklas Hofmann hält daran fest: Das Internet hat bei den Revolutionen in Ägypten und Tunesien eine wichtige Rolle gespielt. Gleich drei Kollegen verfolgten die Verleihung der Grammies. Susanne Gmür verfolgte das Symposion "Making/Crafting/Designing" in Stuttgart.

Besprochen werden Tanzabende internationaler Compagnien zur Feier des 50. Jubiläums am Stuttgarter Ballett, Alvis Hermanis Inszenierung von Gontscharows 'Oblomow' am Schauspiel Köln, Bücher, darunter Chaim Nolls Roman "Feuer", und natürliche Filme aus den unterschiedlichen Sektionen der Berlinale (etwa hier).