Heute in den Feuilletons

Ich danke Herrn Dr. Guttenberg

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2011. Im Perlentaucher beweist Andre Glucksmann, dass die Tunesier und Ägypter klüger und realistischer sind als alle diplomierten Geopolitiker zusammen. In der FR erzählt Jürgen Todenhöfer, warum es in den vergangenen Tagen Spaß machte, auf dem Tahrir-Platz zu stehen. Die taz berichtet, wie der blinde Anwalt Chen Guangcheng und seine Frau von den chinesischen Behörden schikaniert werden. Eine gewisse Exzentrizität erkennt die Welt im FAZ-Redakteur Patrick Bahners. In der FAZ droht Rechtsprofessor Mathias Rohe, dass er unsere Staatsordnung so lange erklärt, bis sie jeder verstanden hat. FAZ- und SZ-Feuilleton verurteilen heute Karl-Theodor zu Guttenbergs Plagiate aufs Schärfste.

FR, 22.02.2011

Jürgen Todenhöfer war während des Sturzes Mubaraks auf dem Tahrir-Platz und erzählt: "Ich bin in meinem Leben noch nie von so vielen Menschen geküsst worden wie in den vier Tagen in Ägypten."

Auch mit Fußnoten lässt sich hervorragend plagiieren, erklärt uns Götz Aly: "Das geht so: Man kritisiere den Kollegen XY, weil er sich auf den Seiten soundso angeblich in der Bewertung der von ihm vorgetragenen Fakten irre oder seine Interpretation weit überziehe - anschließend schreibt der Kritiker sämtliche Fakten bei dem Kritisierten ab und stellt sie unter dem Beifall der wissenschaftlichen Gemeinde in einen leicht verschobenen Kontext. Diese Methode ist unter deutschen Zeithistorikern recht beliebt."

Weitere Artikel: Abgedruckt ist ein Vortrag Stephan Hebels für den Kongress "Stoppt den Krieg in Afghanistan". Ivan Fischer geht als Chefdirigent und Musikdirektor ans Konzerthaus Berlin, berichtet Jürgen Otten.

Besprochen werden Händels Oper "Partenope" am Staatstheater Karlsruhe, Nicolas Stemanns Revue "Aufhören!" am Deutschen Theater Berlin, eine CD-Box der Münchner Band Freiwillige Selbstkontrolle und Michael Stavarics Roman "Brenntage" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Perlentaucher, 22.02.2011

Die Tunesier und Ägypter haben sich als realistischer und klüger herausgestellt als die diplomierten Geopolitiker, schreibt Andre Glucksmann, für sie ist Jerusalem nicht das Zentrum der Welt: "Von rechts und links wurde uns eingetrichtert, dass ohne echten Frieden zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer, keine fortschrittliche, keine demokratische Moderne möglich sei für die mehr als dreihundert Millionen Araber (und Berber), selbst nicht für eine Milliarde Muslime. Und was sehen wir jetzt? Genau das Gegenteil. Die Beziehungen zwischen Israel und Palästina sind auf dem Tiefpunkt, niemals seit Oslo schienen die Versprechungen beider Seiten so leer. Und dennoch entflammt im selben Moment ein unerwartetes, unverhofftes Verlangen nach Freiheit die 'arabische Straße'."

TAZ, 22.02.2011

Auf der Medienseite berichtet Jutta Lietsch aus China, wie - vermutlich von den Behörden gedungene - Schläger Journalisten daran hindern, den erblindeten blinden Anwalt Chen Guangcheng zu besuchen, "der seit Monaten ohne Rechtsgrundlage in seinem Haus im Dorf Dongshigu festgehalten wird. Chen ist durch seine Proteste gegen Zwangsabtreibungen und erzwungene Sterilisierungen in seiner Heimatprovinz Shandong bekannt geworden. Er und seine Frau werden rund um die Uhr bewacht und ständig schikaniert. Allerdings war ihnen kürzlich gelungen, ein Video über ihre Lebensumstände herauszuschmuggeln. Danach sind sie auch von ihren Bewachern zusammengeschlagen worden.

Im Kulturteil nimmt Daniel Pentzlin es schön locker, dass Karl-Theodor zu Guttenberg sich an seiner Erstsemesterarbeit bedient hat: "Ich danke Herrn Dr. Guttenberg für die Gelegenheit, die Qualität und Bedeutung der Sozialwissenschaften einem so breiten Publikum als ernstzunehmende Wissenschaft zu präsentieren."

Weiteres: Isolde Charim ärgert sich über die Behauptung, die arabischen Länder seien "nicht reif für die Demokratie". (Wer das denn eigentlich behauptet, sagt sie nicht). Hans-Christoph Zimmermann berichtet, dass die Bonner Stadtverwaltung gegen den erklärten Willen der Bürger Einsparungen auch in der Kultur vornehmen will. Konrad Litschko berichtet über die linke "Hassband" Krachakne, die gerade wegen Textzeilen wie "Die Polizei, dein Freund und Helfer, / knall sie ab und hilf dir selber" vor Gericht stand.

Besprochen werden Barrie Koskys Inszenierung von Dvoraks "Rusalka" an der Komischen Oper in Berlin und ein Abend mit vier Künstlern des Buback-Labels im Berliner Hebbel am Ufer.

Und Tom.

Weitere Medien, 22.02.2011

(via 3quarksdaily) Der Fotograf Frederic Chaubin hat für sein Buch "Cosmic Communist Constructions" 90 Bauwerke in der damaligen UDSSR fotografiert, zum Beispiel das Institut für Technik und Kybernetik in Petersburg (links). Der Guardian hat eine Fotostrecke mit einigen dieser wunderbaren Aufnahmen zusammengestellt.
Stichwörter: Guardian, Kybernetik, Petersburg

NZZ, 22.02.2011

Die Bloggerin Ghada Abdelaal ("Ich will heiraten") erzählt, wie sie die 18 Tage erlebt hat, in denen die Ägypter Hosni Mubarak gestürzt haben: "Es war ein Kampf zwischen dem einen visionären Traum und einer ganzen Anzahl realer Albträume, die uns in Ägypten jeden Tag und jeden Augenblick einholen können. Ich habe achtzehn Tage lang in Angst und Sorge gelebt, ohne Hoffnung und immer in Erwartung des Schlimmsten - so eben, wie es uns das Leben in unserer Weltgegend gelehrt hat: Im Wissen darum, dass die guten Zeiten stets nur kurz sind und dass das Böse letztlich siegt. Bei uns ist die Bahn immer frei für diejenigen, die ausziehen, um im Namen eines wahnwitzigen Machthabers Blut zu vergiessen; für die Exzesse eines Sicherheitsapparats, der Grünes und Dürres niederbrennt, nur um sich an der Feuersbrunst zu wärmen."

Weiteres: Joachim Güntner porträtiert den Berliner Autor Wolfgang Herrndorf, der mit seinem Roman "Tschick" endlich die verdiente Beachtung gefunden habe: "Lob gebührt auch seinem schöpferischen Eklektizismus." Jochen Hesse verabschiedet den großen Schweizer Bildhauer und Eisenplastiker Bernhard Luginbühl. In einem launigen Stück zu Text und Kopie läutet Uwe Justus Wenzel das "postoriginelle Zeitalter" ein.

Besprochen werden Indridi G. Thorsteinssons Liebesroman "Taxi 79 ab Station" und Juan Gelmans Gedichtband "Welteln/Mundar" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 22.02.2011

Alan Posener hat in Frankfurt Patrick Bahners besucht, um herauszufinden, was den FAZ-Feuilletonchef zu seiner Streitschrift gegen die Islamkritik angetrieben hat. Offenbar eine Art katholische Reichsskepsis: "Bahners, der mit Plädoyers für die Homo-Ehe und für ein erbliches europäisches Kaisertum sowohl die konservativen als auch die liberalen FAZ-Leser verstört hat, sieht gerade nicht im 'dürren Rationalismus' des Verfassungspatriotismus die einzige bürgerliche Tugend; zum Bürgerlichen gehören für ihn auch Traditionen und Institutionen wie eben die FAZ; eine gewisse Exzentrizität; und frei nach dem katholischen Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde die vorpolitische, wertekonservierende Kraft der Religion, oder besser: der Religionen, einschließlich des Islam."

Weiteres: Eher verhalten nimmt Manuel Brug die Meldung auf, dass der Ungar Ivan Fischer Chefdirigent beim Berliner Konzerthausorchester werden solll: "Er gilt als schwierig, ist aber ein guter Striegler und Pädagoge." Besprochen werden eine New Yorker Ausstellung über Houdini und Claude De Demos Uraufführung von Simon Stephens Stück "Terminal 5".

Tagesspiegel, 22.02.2011

Christiane Peitz nimmt den viel gescholtenen Berlinale-Chef Dieter Kosslick in Schutz: Er habe die Berlinale in ein Feel-good-Festival verwandelt, an dem ganz Berlin teilnehme. Der Wettbewerb wird allerdings immer schlechter gibt sie zu und macht einen Vorschlag: "Warum ... nicht eine Doppelspitze? Kosslick macht seinen guten Job als Impresario weiter, und der Bund als oberster Dienstherr stellt ihm einen künstlerischen Leiter zur Seite, der Cannes und Venedig den ein oder anderen big name abspenstig macht. Kosslicks Vertrag läuft bis 2013. Ein Ko-Chef stünde ihm schon 2012 gut an."

FAZ, 22.02.2011

Der von Necla Kelek als dem Extremen zugeneigte Islamfreund inkriminierte Rechtsprofessor Mathias Rohe hat nach einem kurzen Wutausbruch Nachsicht mit Kelek: "Nicht jeder, der meint, die deutsche Staatsordnung gegen den Islam verteidigen zu sollen, hat offenbar auch verstanden, was er oder sie tatsächlich verteidigt. Die Grundlagen des deutschen Verfassungsrechts, darunter auch Reichweite und Grenzen der Religionsfreiheit, müssen sicherlich immer wieder neu erklärt und verstanden werden - in der gesamten Gesellschaft. Insofern fügt sich Frau Keleks Stellungnahme in die gegenwärtige, teils vehement geschürte Angstdebatte über den Islam."

Keine Gnade mit Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg kennt Jürgen Kaube: "Das Vorgehen desjenigen, der diese Arbeit geschrieben hat, ist beispiellos in seiner Dreistigkeit... Der Ausdruck 'mühevollste Kleinarbeit', den der Minister in seiner Erklärung zu dem Umständen seiner Promotion bemühte, passt. Eine so aufwendige und liebevoll hergestellte Täuschung findet man in der jüngeren deutschen Universitätsgeschichte nicht so leicht. Wer hier am Werk war, wusste, was er tat, und dass es nicht gestattet ist."

Weitere Artikel: Kerstin Holm berichtet über Natalja Wassiljewa, die Gerichtssekretärin im jüngsten Chodorkowski-Prozess, die unerwartet mit der Wahrheit herausrückte, dass der Richter das Urteil nicht selber schrieb - und die nun reichlich Feinde, aber auch Bewunderer hat. Von einer Rede Herta Müllers im Bundestag zeigt sich Andreas Kilb sehr beeindruckt. Die Rede Ian McEwans auf der Jerusalemer Buchmesse hat Hans-Christian Rössler gehört. Mark Siemons schildert in der Glosse eine übers Netz einberufene, Jasmin-inspirierte Protestveranstaltung in China, die allerdings eher wie "Performance-Kunst" oder auch das Hornberger Schießen endete. Im Ansatz nicht verkehrt findet Arnold Bartetzky die Versuche zur Baulückenschließung in Leipzig. Die in Sydney stattgefundene erste Kleist-Tagung im Kleist-Jahr hat Alexander Kosenina besucht. Extra zum Toreschluss bei der Mannheimer Staufer-Ausstellung ist Dirk Schümer angereist. 

Besprochen werden Nora Schlockers Inszenierung einer Theaterversion von Flauberts "Madama Bovary" am Berliner Maxim Gorki Theater, Barrie Koskys "Rusalka"-Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, die Anthony-Cragg-Ausstellung "Figure out Figure in" im Louvre und danach in Duisburg, und Bücher, darunter Thomas Ballhausens Prosa "Bewegungsmelder" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 22.02.2011

Auf Seite 2 des politischen Teils analysiert der Islamwissenschaftler und Politologe Ralph Ghadban die Entwicklung in den arabischen Ländern: "Die Aufstände sind das Resultat einer Entwicklung, die seit Jahren als tickende Bombe bezeichnet wird. Das ist eine demographische Revolution, eine Revolution der Jugend."

Die ganze erste Seite des Feuilletons ist dem im Netz seiner Ausflüchte gefangenen und nun vergnüglich geschlachteten Verteidigungsminister gewidmet. Alex Rühle berichtet von echtem Entsetzen in der deutschen Professorenschaft, die aber nur hinter vorgehaltener Hand verlange, dass Guttenbergs Doktor aberkannt werde. Martin Kotynek schreibt in einem zweiten Artikel: "Das Internet jagt den Verteidigungsminister, und es ist erbarmungslos dabei", als sei die vorliegende Seite irgendwie gnadenvoller - und auch beim GuttenPlag Wiki will keiner seinen Namen nennen: "Stets arbeiten etwa hundert Menschen an der Seite, zwanzig von ihnen bilden einen harten Kern." Roland Preuß versichert: "Vor Gericht haben Plagiatoren schon für geringere Vergehen den Doktorgrad verloren." Rudolf Neumaier berichtet außerdem, dass Guttenberg auch an anderen Stellen seiner Selbstdarstellungen ein bisschen geschönt habe.

Weitere Artikel: Christiane Schlötzer erzählt, wie der ägyptische Schriftstellerstar Alaa Al-Aswani, Autor des "Jakubijan-Baus", auf dem Tahrir-Platz sein jüngstes Buch vorstellte. Till Briegleb prüft den Satz "Wir werden Hamburg als Kulturmetropole stärken" des neuen Bürgermeisters Olaf Scholz auf seine Realitätstauglichkeit. Johan Schloemann erinnert an die Rom-Reise Martin Luthers vor 500 Jahren. Wolfgang Schreiber meldet, dass der ungarische Dirigent Ivan Fischer seinen Kollegen Lothar Zagrosek als Chef des Konzerthausorchesters Berlin ablösen wird.

Besprochen werden Bücher, darunter ein kleiner Band über Samuel Becketts Reise durch Bayern in den Jahren 1936 und 37 (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).