Heute in den Feuilletons

Das Zentrum eines jeden Machtkampfes

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2011. Das historische Elend des deutschen Liberalismus heißt Friedrich Naumann, denn der war eher ein Vordenker der Nazis, schreibt Götz Aly in der FR. Die NZZ bewundert die "komplex drapierten Stoff-Elemente" Yohji Yamamotos. Der Perlentaucher dokumentiert einen Aufruf französischer Intellektueller zur Sperrung des libyschen Luftraums. Für die taz kehrt Annett Gröschner in ihre schrumpfende Heimatstadt Schönebeck/Elbe zurück. Die Welt sagt das Ende von "Wakon Yosai" an.

FR, 17.03.2011

"Das historische Elend des deutschen Liberalismus heißt Friedrich Naumann (1860-1919)", schreibt Götz Aly. Denn Naumann, nach dem die Parteistiftung der FDP nach wie vor benannt ist, war offenbar eher ein Vordenker des Nationalsozialismus als des Liberalismus. Aly zitiert aus Naumanns "National-sozialem Katechismus" (hier steht er im Netz): "Warum nennt ihr euch nationalsozial? Weil wir überzeugt sind, dass das Nationale und das Soziale zusammengehören. Was ist das Soziale? Es ist der Trieb der arbeitenden Menge, ihren Einfluss innerhalb des Volkes auszudehnen. Was ist das Nationale? Es ist der Trieb des deutschen Volkes, seinen Einfluss auf der Erdkugel auszudehnen." Na, und so weiter.

Auch Daniel Kothenschulte lässt nun, als kulturhistorische Tischdekoration zu Fukushima, die Verarbeitung der Atomkatastrophe von Hiroshima in der japanischen Kinogeschichte Revue passieren. Christian Schlüter liefert die Beilage über die "Apokalypse im japanischen Comic". Hans-Martin Lohmann liest anlassgemäß noch einmal Günther Anders' Buch "Die Antiquiertheit des Menschen". Außerdem gratuliert Harry Nutt Siegfried Lenz zum 85.

Besprochen werden das Justizdrama "Betty Anne Waters" und Peter Stamms Erzählungsband "Seerücken" (mehr hier).

Welt, 17.03.2011

Auf der Forumsseite sagt der Verleger und Japan-Kenner Reginald Grünenberg das Ende von "Wakon Yosai" an: "So lautete seit der Meiji-Restauration von 1868 die Parole der Modernisierer, und sie bedeutet 'Japanischer Geist, westliche Technologie'. Japan wollte den technischen Fortschritt um jeden Preis, aber nicht im Paket mit Aufklärung, Kritik, Öffentlichkeit, Demokratie und sozialem Fortschritt, sondern mit dem fabrizierten Mythos von japanischer Eigentümlichkeit, Identität und Tradition, vom dem sich viele Japan-Experten auch heute noch blenden lassen."

Fürs Feuilleton hat Elmar Krekeler zum Buchmessenstart einige Bücher gelesen, in denen sich Söhne mit ihren Vätern auseinandersetzen. Andreas Rosenfelder bekennt sich als Liveticker-Abhängiger der Fukushima-Information. Peter Dittmar meldet, dass dem Autor Fredrik Colting nun per Gerichtsentscheid endgültig verboten wurde, eine Fortsetzung des "Catcher in the Rye" zu schreiben. Thomas Schmid meditiert über den 150. Geburtstag Italiens in seiner heutigen Stiefelform.

Besprochen werden die neue CD des deutschen Rocksängers Herbert Grönemeyer, Susanne Biers Film "In einer besseren Welt" (mehr hier), Vivaldis Veroperung des "Orlando Furioso" in Paris und ein Filmprojekt des jungen Regisseurs Austin Lynch (Sohn von David), der Deutsche interviewte und die Interviews ins Netz stellte.

NZZ, 17.03.2011

Marion Löhndorf betrachtet die Kleider von Yohji Yamamoto, die das Londoner Victoria & Albert Museum gerade ausstellt und notiert: "Auf der einen Seite sind seine Gewänder durchaus im Kontext europäischer Modeschöpfer lesbar - explizit bezieht sich Yamamoto auf die großen Damen der Pariser Mode, Chanel, Schiaparelli und Vionnet, aber auch auf klassische Herrenschneiderei, auf Arbeiter- und auf Militärkleidung. Viele seiner Kleider reflektieren eine profunde Kennerschaft westlicher Modegeschichte, auf die er oft zitatenreich anspielt. Auf der anderen Seite hat er Anteil an der japanischen Avantgarde-Mode, die er entscheidend mitprägte: Dabei geht es nicht um die Betonung äußerer Vorzüge und das Verbergen des weniger Attraktiven, sondern um das Verhüllen des Körpers, der häufig nur noch als Ausgangspunkt für komplex drapierte Stoff-Elemente dient."

Weitere Artikel: "Skandalös" findet Joachim Güntner die "Diffamierung" der neuen Leiterin der Hamburger Forschungsstelle für Exilliteratur, Dörte Bischoff, "der Desinteresse an Exilliteratur unterstellt wird, bloß weil sie zu ihren Arbeitsschwerpunkten auch Gender-Studies und Themen der Kulturwissenschaft zählt". Dirk Pilz berichtet über das Festival Internationale Neue Dramatik an der Berliner Schaubühne.

Besprochen werden ein italienisches Buch über die Restaurierung des Teatro San Materno in Ascona und Bernhard Langs Studie "Jesus der Hund"

Perlentaucher, 17.03.2011

Der Perlentaucher dokumentiert einen von Jane Birkin, Claude Lanzmann, Pascal Bruckner und anderen lancierten Aufruf für eine Sperrung des libyschen Luftraums: "Sollen wir weiterhin Tag für Tag der unerbittlichen Wiedereroberung des Landes durch den Diktator zusehen? Soll man warten, wie es einige vorschlagen, dass das Massaker ein ausreichendes Niveau erreicht hat? Bei wie vielen blutüberströmten Körpern ist die Toleranzschwelle überschritten? Wenn wir nicht intervenieren, wie verhalten wir uns, wenn der Demente die Macht zurückerobert hat? Haben wir uns schon, wie seinerzeit in Ruanda, damit abgefunden zu sagen: 'Ach, wir sind machtlos, ach, wir waren feige?'"

TAZ, 17.03.2011

Die Autorin Annett Gröschner kehrt für einen Blick auf Sachsen-Anhalt vor den Wahlen nach Magdeburg und Schönebeck/Elbe zurück, wo sie 19 Jahre lang gelebt hatte. "1989 wohnten noch 46.000 Menschen in Schönebeck, heute sind es 12.000 weniger. Das Fehlen dieser Menschen ist, wenn man aus dichter besiedelten Gegenden kommt, sofort spürbar. Nicht nur in Schönebeck. Auch in Magdeburg, Bernburg, Halle-Neustadt, Stendal oder Werben. Aber es gibt auch Erfolgsgeschichten. In Schönebeck ist es der Stadtteil Salzelmen mit dem ältesten Solebad Deutschlands. Im Gegensatz zur Mutterstadt hat Salzelmen nach der Wende eine Renaissance als Kurort erlebt und sieht heute in den frisch renovierten Ecken schöner aus als Baden-Baden oder Bad Nauheim."

Gab es ein Kino der Revolution?, fragt Hassouna Mansouri in Bezug auf einen vier Jahre alten Film des tunesischen Regisseurs Nouri Bouzid, in dem sich ein junger Mann das Leben nahm, ein ähnlicher Selbstmord wie jener, der jetzt die Aufstände auslöste. "Wenn es also Bilder gibt, die der Revolution geholfen haben, so gibt es andere, die sie vorbereitet haben. Seit einigen Jahren schon gibt es um die sozialen Netzwerke herum ein Tauziehen zwischen der Internetpolizei, die versuchte, die Verbreitung von Bildern im Netz zu verhindern, und jungen Hackern, die zu einer Kraft der Reaktion und des Cyberwiderstands geworden sind. Das heißt: Bilder sind seit Langem das Zentrum eines jeden Machtkampfes."

Außerdem: Rolf Lautenschläger kommentiert die Berufung des Historikers Alexander Koch ans Deutsche Historische Museum in Berlin und hofft, dass er dem Jäger- und Sammlertrieb seines Vorgängers Hans Ottomeyer ein "paar feurige Ideen" entgegenzusetzen hat.

Zur heutigen Eröffnung der Leipziger Buchmesse erscheint außerdem die Literataz.

Und Tom.

Freitag, 17.03.2011

Georg Seeßlen (64) versucht sich an einer Art marxisierenden Interpretation des Phänomens Justin Bieber, über den gerade ein Film zirkuliert: "Justin Bieber ist das schon wiederum paradoxe Bild eines hard working teenie stars: Er strengt sich an. Er gibt sich Mühe. Er ist weder ein Streber noch ein Klassenclown. Er ist vielmehr ein Rollenmodell für das Bewusstsein, dass harte Zeiten auf uns zukommen."

Als gewissenlose Agenten des Kapitals rufen wir aber aus: Never say never!



Stichwörter: Seeßlen, Georg

SZ, 17.03.2011

Jens-Christian Rabe sieht weniger den Mut als das moralische Dilemma angesichts der japanischen Mitarbeiter, die im Kernkraftwerk Fukushima zu retten versuchen, was zu retten ist: "Es sieht so aus, als müssten in Japan Menschen geopfert werden, damit andere Menschen gerettet werden können. Mit anderen Worten: Um den havarierten Reaktor, so gut es eben geht, zu kühlen, werden Helfer gebraucht, die wiederum einer hohen, den menschlichen Körper stark schädigenden Strahlenbelastung ausgesetzt sind."

Weitere Artikel: Der Historiker Sebastian Conrad erklärt im Interview, dass Kamikaze ganz sicher nicht zum alltäglichen Handlungsrepertoire japanischer Menschen gehört. Veröffentlicht wird eine alles andere als gelassene E-Mail der Theatermacherin Akane Nakamura zum Stand der Dinge in Japan.

Besprochen werden die Jubiläumsausstellung "Vermeer in München" in der Alten Pinakothek, eine Buchkunst-Ausstellung in der Staatlichen Bibliothek Regensburg, in Deutschland neu anlaufende Filme, darunter George Tillman Jr.s Thriller "Faster" und Tony Goldwyns Film "Betty Anne Waters" (es gibt auch ein Interview mit Hauptdarstellerin Hilary Swank), Vaclav Havels in Tschechien der Presse schon gezeigter erster Film "Der Abgang" (verfilmtes Theater, urteilt Klaus Brill, aber rundum gelungen), und Bücher, darunter Dave Eggers' große Reportage "Zeitoun" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 17.03.2011

Der Physiker und Ex-Greenpeace-Geschäftsführer Gerd Leipold blickt voraus in die Energie-Zukunft, in der Atomkraft gar nicht mehr, dafür die Vernetzung dezentraler regenerativer Kraftwerke umso entschiedener vorkommt: "Mit sieben Milliarden Menschen auf der Welt führt kein Weg zurück in den phantasierten Garten Eden. Wir brauchen den Fortschritt, wir brauchen Technologie, aber eben solche, die gesellschaftlich verträglich ist und die Grenzen unseres Planeten respektiert. Die Zukunft wird intelligenten, vernetzten und dezentralen Energien der vielen tausend Player gehören. Es dürfte uns nicht wundern, und es wäre ein Trost, wenn es die Japaner wären, die damit als Erste beginnen sollten."

Weitere Artikel: Lorenz Jäger kommentiert die Rede des Tenno an sein Volk. So sehr Paul Ingendaay auf der Seite des inkriminierten spanischen Untersuchungsrichters Baltasar Garzon ist, so sehr ärgert ihn doch, dass keiner seiner Verteidiger auch mal kritische Fragen stellen will. Von einer Tagung des Berliner Wissenschaftskollegs zur Schuldenkrise berichtet Katja Gelinsky. Andreas Kilb verabschiedet den DHM-Direktor Hans Ottomeyer. Zahlen des Berlin-Instituts zur demografischen Lage stellt Marcus Jauer vor. Jordan Mejias bewundert einen Herzog/de Meuron-Parkhaus-Bau in Miami. Auf wenig getrübte Atomkraft-Begeisterung stößt Joseph Croitoru beim Blick in osteuropäische Zeitschriften. In einem kurzen offenen Brief gratuliert Marcel Reich-Ranicki einem anderen "älteren Herrn", dem Schriftsteller Siegfried Lenz, zum 85. Geburtstag. Julia Voss schreibt zum Tod des Kunsthistorikers Leo Steinberg. Einen kurzen Nachruf auf den Philosophen Karlfried Gründer hat Jürgen Kaube verfasst. Auf der Kino-Seite wird Philip Grönings Laudatio auf den Marburger Kamerapreisträger Anthony Dod Mantle abgedruckt. 

Besprochen werden ein Til-Brönner-Konzert in Frankfurt, Inszenierungen von "They Shoot Horses, don't They" (nach Horace McCoy) und "Agatha" (nach Marguerite Duras) an den Münchner Kammerspielen, und die Jubiläums-Ausstellung "Vermeer in München" in der Alten Pinakothek München, die Ausstellung "Gervasio Sanchez, Desaparecidos" in Barcelona, die Carlos-Kleiber-Doku "Traces to Nowhere", Susanne Biers Oscarfilm "In einer besseren Welt" und Bücher, darunter Clemens J. Setz' Erzählungsband "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).