Heute in den Feuilletons

Mitsamt Kammerorchester und Herrenchor

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.03.2011. Die Welt begrüßt den Leipziger Buchpreis für das junge Genie Clemens J. Setz. Bei der NZZ kann man sich in die Neue Sachlichkeit verlieben. Die Berliner Zeitung kniet nieder vor der Kameliendame und vor Sophie Rois, vor allem aber vor der einen als der anderen. FAZ und SZ setzen sich weiter mit der japanischen Katastrophe auseinander. Die New York Times führt ihr neues Bezahlmodell fürs Internet ein. Zum Glück hat es aber Gucklöcher, konstatieren die Blogs.

Welt, 18.03.2011

"Sie haben sehr recht damit, den 28-Jährigen auszuzeichnen", sagt Elmar Krekeler zum Leipziger Buchpreis für den Erzählungsband "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" des genialischen Clemens J. Setz: "Da wagt einer das radikale Gegenprogramm zur hübsch verkasteten Literaturwerkstättenliteratur, bricht dunkle Lieder pfeifend aus den literarischen Reihenhaussiedlungen aus. Einer, der sich um Realismus einen Dreck schert, einer, der den Modder ausstellt, hervorschreibt aus seinen Figuren."

Weitere Artikel: Schriftsteller Andreas Maier zieht aus der Fukushima-Katastriophe den Schluss: "Es ist offenbar mit keinem Meiler auf der Welt eine Katastrophe vorstellbar, die (makaber zu denken) so groß wäre, dass man von dieser Technik noch Abstand nehmen würde." Richard Kämmerlings berichtet von der Eröffnung der Leipziger Buchmesse. Besprochen wird eine Dramatisierung der Kameliendame mit Sophie Rois an der Berliner Volksbühne.

Auf der Meinungsseite schreibt Richard Herzinger: "Es ist der Westen selbst, dem es an Entschlossenheit fehlte, Gaddafi rechtzeitig in den Arm zu fallen. Als Bremser der aktionsbereiteren Amerikaner, Franzosen und Briten hat sich dabei in schändlicher Weise Deutschland hervorgetan."

NZZ, 18.03.2011

Diese Schöne, gemalt 1929 von Christian Schad, erblickt, wer heute das Feuilleton der NZZ aufschlägt. Das Gemälde scheint allerdings nicht gerade typisch zu sein für die Bonner Ausstellung "Gefühl ist Privatsache" mit Werken von Otto Dix, George Grosz, Christian Schad, Franz Radziwill und anderen. Deren aus den Erlebnissen des Ersten Weltkriegs gespeiste Neue Sachlichkeit, schreibt Manfred Schwarz, "misstraut dem Menschen, und sie verachtet das expressionistische Pathos als peinliche Entgleisung. [...] Ihr Schlüsselerlebnis ist die Desillusionierung durch den Krieg, ihr Ideal die sachlich-unsentimentale Tatsachenfeststellung, ihr Forschungsgebiet, ihr Jagdrevier die von Gier und Geilheit beherrschte Menschengemeinschaft der Gegenwart, der städtische Dschungel, die moderne Welt. Man staunt noch immer über diesen fulminanten Befreiungsschlag."

Weiteres: Mit Respekt nähert sich Ueli Bernays Justin Bieber und der "Trend setzenden Großmacht der Gegenwartskultur": jungen Mädchen. Andreas Klaeui gibt anlässlich der Inszenierung der "Glasmenagerie" durch Romina Paulas Compania el Silencio einen Einblick in die unabhängige Theaterszene von Buenos Aires. Peter Hagmann stellt das Mozart-Projekt der Oper Lyon vor. Michael Baumgartner berichtet von den gesundheitlichen Problemen der Dirigenten James Levine und Ricardo Muti. Besprochen wird eine Schau mit Silberarbeiten von Künstlerinnen der Bauhauszeit im Badischen Landesmuseum Karlsruhe.

Berliner Zeitung, 18.03.2011

Ulrich Seidler macht es klar, Sowohl die Kameliendame, als auch Sophie Rois, besonders aber die eine als die andere sind "eine Frau, der man alles zu Füßen legt, sei es das Familienerbe, sei es die Ehre, sei es ein voll ausgerüstetes Subventionstheaterhaus mitsamt Kammerorchester und Herrenchor." Zu sehen an der Volksbühne Berlin.

Weitere Medien, 18.03.2011

Tja, da ist die lang erwartete Ankündigung. Die New York Times wird kostenpflichtig: "Today marks a significant transition for The New York Times as we introduce digital subscriptions. It's an important step that we hope you will see as an investment in The Times, one that will strengthen our ability to provide high-quality journalism to readers around the world and on any platform. The change will primarily affect those who are heavy consumers of the content on our Web site and on mobile applications."

Aus den Blogs, 18.03.2011

Ur-Blogger Dave Winer kommentiert die Ankündigung der New York Times, dass sie (ab dem 20. Artikel im Monat) kostenpflichtig wird "Now that I've had a chance to read the actual announcement, here's the main problem. They're not offering anything to readers other than the Times' survival, and they're not even explicit about that."

Matthias Spielkamp lobt in seinem Immateriblog das Bezahlmodell der New York Times, das den Lesern immerhin zwanzig Freiartikel pro Monat zugesteht, bevor die Falle zuschnappt: "Die Differenziertheit, mit der die NYT Inhalte anbietet (z.B. für Nutzer von Social Networks die Artikel weiter lesbar zu halten), zeugt einerseits davon, wie gut die Times die Dynamiken des Webs verstanden hat. Auf der anderen Seite beruht das Modell dadurch auf einer Art Soli-Prinzip, denn viele Leser werden die Artikel, die sie wirklich dringend lesen wollen, weiter lesen können - z.B. indem sie den Umweg über eine Suchmaschine oder Twitter gehen."

TAZ, 18.03.2011

Philip Gessler war dabei, als der neue Chef der Stasi-Unterlagenbehörde Roland Jahn das Untersuchungsgefängnis der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen besuchte und bei seiner ersten offiziellen Rede das Selbstverständliche - Gessler nennt es allerdings eine "kleine politische Bombe" - feststellte: "Die Beschäftigung von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern in der Behörde für die Stasi-Unterlagen ist unerträglich. Jeder ehemalige Stasi-Mitarbeiter, der in der Behörde angestellt ist, ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer."

Weiteres: Dirk Knipphals schlendert - noch - entspannt über die Leipziger Buchmesse. Jenny Zylka schreibt über das Bühnencomeback von Teilen der kalifornischen Stonerrockband Kyuss. Wilfried Weinke gratuliert dem Fotografen Jurgen Schadeberg zum 80. Geburtstag. Ilija Trowanow beobachtet den Punkmusiker und Komiker Jon Gnarr in seinem Amt als neuer Bürgermeister von Reykjavik. Chikako Yamamoto erklärt, warum die Japaner, die bittere Erfahrungen mit radioaktiver Strahlung haben, auf Atomenergie bauen: Sie wollen nicht durch Protest auffallen.

Besprochen wird Susanne Biers Film "In einer besseren Welt", der gerade den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewann.

Und Tom.

FR, 18.03.2011

Georg Imdahl liest Rüdiger Lubrichts beeindruckenden Bildband über die verfallenden Orte in der Region von Tschernobyl: "600 Orte sind verwaist, eingeebnet, 'beerdigt', fast so viele, wie im Zweiten Weltkrieg dem Erdboden gleichgemacht wurden." (Mehr hier.)

Weitere Artikel: Christian Schlüter denkt über "die japanische Atomkatastrophe und unser Bedürfnis nach Trost, Ruhe und Ordnung" nach. Als Times mager wird ein altes Statement Angela Merkels zu Tschernobyl nachgedruckt.

Besprochen werden ein "Macbeth" in Dortmund, ein Band über die Vertreibung, Susanne Biers Film "In einer besseren Welt", der Film "The Rite" mit Anthony Hopkins und eine neue CD der Strokes (Musik).

FAZ, 18.03.2011

Die Kunsthistorikerin Bettina Gockel flog nach Japan, um auf einer Konferenz zu einer hochkarätigen Klee-Ausstellung zu sprechen. Das tat sie auch und sie berichtet darüber. Aber der Kontext hat sich doch schlagartig verändert: "Während des fünfzehnstündigen Fluges gab es keine Informationen über den nuklearen Notfallzustand, der am 11. März um 11.03 Uhr Mitteleuropäischer Zeit ausgerufen wurde und sich in Folge der größten Naturkatastrophe in Japan ereignet hatte. Wir werden geradewegs hineingeflogen in ein Unglück, das jetzt, Tage später, voll präsent ist, auch in Kyoto, der Kaiserstadt Japans und Seele des Landes, wie es in Touristenführern heißt."

Weitere Artikel: Daniel Haas war bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse, bei der der Buchpreis für Europäische Verständigung an den Autor Martin Pollack verliehen wurde. Nach seiner falschen Behauptung, dass die neuen Philosophen zu den arabischen Unruhen geschwiegen hätten, freut sich Jürg Altwegg nun über ihren Aufruf zur Intervention in Libyen (hier die deutsche Fassung beim Perlentaucher), als sei er eine Reaktion auf Kritik an diesem angeblichen Schweigen (mehr hier, hier und hier). Constanze Kurz fragt in ihrer "Aus dem Maschinenraum"-Kolumne aus aktuellem Anlass: "Können wir Technologie überleben?" Von den bei widrigem Wetter abgehaltenen Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag Italiens berichtet Dirk Schümer. Raphael Gross schreibt zum Tod des Historikers John A.S. Glenville

Besprochen werden Clemens Schönborns "Kameliendamen"-Inszenierung mit einer herausragenden Sophie Rois an der Berliner Volksbühne, Aufführungen von Opern von Bartok und Purcell in Bremerhaven ("beeindruckend" und "fesselnd" findet Tomasz Kurianowicz das, jedenfalls im Bartok-Teil), die Ausstellung "Afghanistan. Kreuzweg des Altertums" im British Museum und Bücher, darunter Siri Hustvedts neuer Roman "Der Sommer ohne Männer" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 18.03.2011

Über die Mega-Gefährdung, in die Megacitys bei Mega-Katastrophen geraten, denkt Laura Weissmüller am konkreten Beispiel Tokio nach: "Vor dem Reaktorunfall in Japan hielten Wirtschaftsexperten ein Erdbeben in Tokio für fähig, eine weltweite Rezension auszulösen. Megacity bedeutet in diesem Fall Megakatastrophe." (Normalerweise werden solche Fehler bei uns stillschweigend korrigiert, diesmal war er einfach zu hübsch!)

Weitere Artikel: Johan Schloemann berichtet von der Eröffnung der Leipziger Buchmesse. Thomas Steinfeld würdigt die Leipziger Buchpreisträger Clemens J. Setz (mehr) und Henning Ritter (mehr). In der neuen Krimi-Kolumne "Verbrechen & Aufklärung" denkt Christopher Schmidt über den Aschenbecher als Tatwerkzeug nach. Kurze Nachrufe gelten dem Philosophen Karlfried Gründer, dem HipHop-Star Nate Dogg und dem Dirigenten Yakov Kreizberg.

Besprochen werden ein Münchner Cembaloabend mit Gustav LeonhardtJohannes Schütz' Kasseler Inszenierung von Justine del Cortes "Sex", die Herrscherbildnisausstellung "Ritratti. Le tante Facce del Potere" in den Kapitolinischen Museen, Herbert Grönemeyers neues Album "Schiffsverkehr" (das bei Axel Rühle "Karies auf der Seele" verursacht), Mikael Hafstroms Teufelsaustreibungsfilm "The Rite" mit Anthony Hopkins, und Salman Rushdies neuer Roman "Luka und das Lebensfeuer" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).