Heute in den Feuilletons

Ein Wort wie Plündern

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.03.2011. Das Google Book Settlement ist geplatzt - Begründung: Google hätte ein Monopol bekommen. Der Buchreport sammelt erste Reaktionen. Die NZZ bringt einen Hintergrund zu arabischen Rappern, die dazu beitrugen, Diktatoren zu stürzen - leider nicht immer im Namen sympathischerer Ideen. In der FAZ geht die Debatte um den Libyen-Einsatz weiter, den Peter Schneider in der Berliner Zeitung verteidigt. Das Blog Pusztaranger beobachtet die rechtsextremen Bürgerwehren in Ungarn, die zum Antirassismustag mit Hitlergruß gegen Sinti und Roma hetzen. Die Regierung bleibt bisher stumm.

TAZ, 23.03.2011

Gar nicht gelungen, sondern recht skandalös findet Erich Rathfelder, langjähriger Südosteuropa-Korrespondent der taz, den Auftritt Serbiens bei der Leipziger Buchmesse: "Überall, auch im Zentrum der Stadt, sprangen die Plakate ins Auge, die den Genozid in Srebrenica leugneten. 'Srebrenica - Unterdrückte Tatsachen über die an Serben begangenen Massaker 1992-95' ... Wie konnte erlaubt werden, die Stadt und die Messe mit diesen die Opfer Srebrenicas verhöhnenden Plakaten zu überziehen? Wäre das mit Plakaten der deutschen Rechtsradikalen auch möglich gewesen? Welche Nachlässigkeit und Unkenntnis wird hier vonseiten der Messeleitung offenbar?"

Weiteres: Tobias Nolte schwärmt vom neuen Radiohead-Album "The King of Limbs": "Entrückt, verzwickt, anstrengend und für Pop fast schon überambitioniert." Katharina Granzin meldet die Ausstattung der Komischen Oper mit einer mehrsprachigen Übertitelungsanlage. Besprochen werden zwei Fotobände von Pieter Hugo und Nyaba Leon Ouedraogo, die dokumentieren, wie in Afrika Müllhalden das Leben von Menschen vergiften (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

Aus den Blogs, 23.03.2011

Die Bürgerwehren der rechtsextremen ungarischen Partei Jobbik verstärken ihre Aktionen gegen Roma und Sinti, meldet das höchst verdienstvolle Blog Pusztaranger. "Aus Regierungskreisen hat sich zu den Aktivitäten der rechtsextremen 'Bürgerwehr' über zwei Wochen lang, bis Ende letzter Woche weder der Ministerpräsident, der Innenminister noch der Staatssekretär für Integration geäußert. Inzwischen protestierten Bürger- und Menschenrechtsorganisationen und forderten die Regierung zu einer Stellungnahme auf... Auch der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat dem ungarischen Innenminister geschrieben und beobachtet die Vorgänge."

Und so sehen die Aktionen der Bürgerwehren aus - inklusive Hitlergruß, aufgenommen am "Antirassismustag":



NZZ, 23.03.2011

In einem hervorragenden Hintergrundartikel zur arabischen Musikszene beschreibt Thomas Burkhalter, welche Rolle Rapper und Pop-Avantgardisten bei den Umstürzen gespielt haben. Darunter auch einige ganz schön unsympathische Früchtchen: "In den europäischen Medien wurde in den vergangenen Wochen der tunesische Rapper El General als wichtige arabische Rap-Stimme gefeiert - wegen des Songs 'Rayes Lebled', einer Attacke gegen den tunesischen Präsidenten Ben Ali. Ignoriert wurde hingegen, was für Töne El General sonst anschlägt. In 'Allah Akbar' etwa wendet er sich gegen eine Welt, in der 'Juden die Herrscher' und 'Muslime die Sklaven' seien."

Weiteres: Gerhard Gnauck berichtet von einem Warschauer Theaterstück, das den Fall von Jedwabne aufgreift. Besprochen werden eine Ausstellung des Schweizer Künstlers Adolf Hölzel in Konstanz, ein Konzert des russischen Pianisten Grigory Sokolov in der Zürcher Tonhalle, der Briefwechsel zwischen Helmuth James und Freya von Moltke aus dem Gefängnis Tegel, David Shields' Plädoyer fürs Plagiat "Reality-Hunger" (hier unser Vorgeblättert) und Andre Acimans Roman "Acht helle Nächte" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 23.03.2011

In Frankreich unterstützten Intellektuelle wie BHL vehement die Intervention in Libyen, schreibt Richard Herzinger. In Deutschland dagegen: risikoloser Moralismus. "Die Angst vor möglichen Folgen der UN-Intervention in Libyen scheint bei deutschen Moralisten weit höher zu sein, als es das Entsetzen über den Gedanken jemals war, der Westen könne dem blutigen Rachefeldzug eines verbrecherischen Despoten gegen sein eigenes Volk tatenlos zusehen."

Weitere Artikel: Warum der Name für die Intervention, "Odysee Morgendämmerung", schlecht gewählt ist, erklärt Berthold Seewald. Warum er gern Museen baut, erklärt der Architekt Volker Staab. Alan Posener, von den Pius-Brüdern gerade als "Wegbereiter des neuen Auschwitz" beschimpft, erklärt noch einmal nachdrücklich, warum die Pius-Brüder antisemitisch und verfassungsfeindlich sind. Kai-Hinrich Renner ist sich nicht ganz sicher, ob es wirklich ein Skandal ist, dass der Moderator Ranga Yogeshwar Vorträge für Eon gehalten hat.

Besprochen werden die große Heinz-Mack-Retrospektive in der Bonner Bundeskunsthalle und Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Hebbels "Judith".

Weitere Medien, 23.03.2011

Das Google Book Settlement ist vorerst geplatzt, meldet Buchreport "Der US-District Court hat das modifizierte Google Settlement abgelehnt. 'Google hätte einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenten', heißt es in der Begründung von Richter Denny Chin. Dies wäre eine Belohnung dafür, dass Google ohne Zustimmung urheberrechtliche Werke kopiert, erklärt Chin." (Hier die Urteilsbegründung als pdf-Dokument). Buchreport bringt auch erste Reaktionen.

(via BoingBoing) Die chinesische Regierung hat die Zensur verschärft. Wenn man jetzt am Telefon das Wort "Protest" ausspricht, wird die Verbindung gekappt, berichten Sharon LaFraniere und David Barboza in der NYT: "A host of evidence over the past several weeks shows that Chinese authorities are more determined than ever to police cellphone calls, electronic messages, e-mail and access to the Internet in order to smother any hint of antigovernment sentiment. In the cat-and-mouse game that characterizes electronic communications here, analysts suggest that the cat is getting bigger, especially since revolts began to ricochet through the Middle East and North Africa, and homegrown efforts to organize protests in China began to circulate on the Internet about a month ago."

Berliner Zeitung, 23.03.2011

Im Interview mit Harald Jähner spricht Peter Schneider (nicht ohne spöttische Bemerkungen über BHL, die in deutschen Medien offenbar unverzichtbar sind) für die Intervention in Libyen aus, allerdings mit Grenzen: "Wir garantieren eine No-Fly-Zone. Aber weiter sollten wir nicht gehen. Mehr haben die Aufständischen nicht verlangt und ein weiter gehendes Engagement würden auch die Staaten der Arabischen Liga nicht mitgehen."

FR, 23.03.2011

Sylvia Staude unterhält sich ausführlich mit der Autorin Rebecca Solnit über das oft sehr kreative und mutige Verhalten von Menschen in Katastrophen. Von wegen Chaos, Plünderung, Anarchie! "Es wird gesagt, dass die Japaner nicht plündern, unausgesprochen bleibt, dass wir anderen es tun. Aber ich meine, ein Wort wie Plündern sollte überhaupt nicht verwendet werden. Wer schert sich um Besitz, wenn es um Leben geht."

Weiteres: Peter Michalzik kapituliert angesichts globalen Lage: "Überhaupt fühlt sich das Denken angesichts der japanischen Katastrophe stumpf an. Es verspricht keine Erkenntnis." Arno Widmann berichtet von der Vergabe des neuen August-Bebel-Preises an Oskar Negt, was auch wirklich alle Beteiligten als Auszeichnung empfanden. Besprochen werden Aris Fioretos' neuer Roman "Der letzte Grieche" und Stephane Moses' Erinnerungen "Momentaufnahmen. Instantanes" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 23.03.2011

Mit knapper Not entkam Jürgen Todenhöfer aus Libyen, sein libyscher Freund Abdul Latif kam ums Leben. Dringend braucht das Land Hilfe, so Todenhöfer, aber Bomben braucht es nicht: "Ich appelliere an die Staatengemeinschaft: Helft dem libyschen Volk schnell, mutig, wirkungsvoll, aber auch klug! Es gibt klügere und mutigere Aktionen als Bombenangriffe nach vierzig Jahren Kooperation mit einem mordenden Tyrannen. Bomben töten immer auch unschuldige Zivilisten. Sie bergen stets die Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalation. Auch Abdul Latif vertrat leidenschaftlich diese Meinung." (Es folgt eine Aufzählung von Hilfsmaßnahmen: Vermittlung durch den UN-Generalsekretär, Blauhelme, Verteidigungswaffen für die Rebellen - Federführung für die muslimisch-arabischen Staaten.)

Weitere Artikel: Der Völkerrechtler Christian Tomuschat widerspricht seinem Kollegen Reinhard Merkel, der im gestrigen FAZ-Feuilleton den vom Sicherheitsrat sanktionierten Krieg gegen Gaddafi für "illegitim" erklärte. In Köln erlebte Oliver Jungen einen Joschka Fischer, der zum Krieg blies und an der Bundesregierung kein gutes Haar ließ. Den erstaunlichen Aufschwung, den das akademische Ghostwriter-Gewerbe nicht zuletzt dank KT zu Guttenberg zu nehmen scheint, glossiert Regina Mönch.

Auf den Natur- und Wissenschaftsseiten wägt Joachim Müller-Jung - aus aktuellem Anlass, aber nicht darauf beschränkt - Für und Wider der schnellen sozialen Netzwerkkommunikation für die Naturwissenschaft. Ziemlich skeptisch sieht er dabei Twitter, weil er den Nutzern nicht recht zutraut, sich im Gewirr der Meinungen und Lobbyisten und Informations-Schnellschüsse zurechtzufinden. Als "verkappte staatliche Einmischung" in innerislamische Angelegenheiten kritisiert der Islamwissenschaftler Lukas Wick die Imam-Ausbildung an deutschen Universitäten. Der Soziologe Jens Alber beklagt die "kollektive Gehirnwäsche", die inzwischen dafür sorgt, dass in Fragen der Frauenförderung Widersprüchlichkeit in der Argumentation keinen mehr zu stören scheint - mit der häufigen Folge, dass Frauen ungerechtfertigt bevorzugt werden.

Besprochen werden Klaus Weises Bonner Inszenierung von Ödön von Horvaths "Geschichten aus dem Wiener Wald", die Jubiläums-Ausstellung der "Sammlung Wagener" in der Berliner Alten Nationalgalerie, die Ausstellung "Brian Brake - Lens to the World" im Te Papa Museum im neuseeländischen Wellington, Francois Ozons Filmkomödie "Das Schmuckstück" mit Catherine Deneuve, Richard Cobbs historische Studie "Tod in Paris" (Leseprobe) mit einem "kenntnisreichen Vorwort" (so Jochen Schimmang) von Patrick Bahners (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 23.03.2011

"Die dümmste Abstraktion, die es gibt, heißt: das Leben," teilt SZ-Feuilletonchef Thomas Steinfeld an die Adresse seines Kritikerkollegen Georg Diez mit (ohne diesem die Ehre einer Namensnennung zuteil werden zu lassen). Diez hatte in einer Spiegel-Online-Kolumne dem weiteren Kritikerkollegen Richard Kämmerlings (den er anders als Steinfeld immerhin nennt) und seinem Buch "Das kurze Glück der Gegenwart" Betriebsnudeligkeit vorgeworfen. Schon Lothar Müller hatte Diez in der SZ dafür kritisiert (unser Resümee). (Erstaunlich übrigens: Müller und Steinfeld werfen Diez vor, dass er regelmäßig bezahlt wird - schreiben SZ-Redakteure neuerdings auf Zeile?)

Weitere Artikel: Roland Huschke wurde von der SZ-Redaktion nach Mexiko gesandt, wo er Dreharbeiten für einen neuen Film von Kenneth Brannagh beobachtete. Rudolf Neumaier sucht die Reste eines gigantischen Rüstungsbunkers auf, den die Nazis von Zwangsarbeitern in der oberbayerischen Provinz haben bauen lassen. Tanjev Schultz unterhält sich nach der Guttenbergschen Kernschmelze mit Bernhard Kempen, dem Präsidenten des Hochschulverbandes über neue und strengere Regeln für Dissertationen. Auf Seite 3 porträtiert Tobias Kniebe Catherine Deneuve.

Besprochen werden "Dantons Tod" am Schauspiel Stuttgart, die Ausstellung "John Constable - Maler der Natur", ebenfalls in Stuttgart, und Bücher, darunter die Erinnerungen Alfred Grossers (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).