Heute in den Feuilletons

Und sei es der fernste Spitzenton

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.04.2011. Ai Weiwei ist am Flughafen von Peking festgenommen worden. Seitdem fehlt jeder Kontakt -  die FAZ liest Twitter. "Die Katastrophe ist da", sagt die pakistanische Autorin Sara Suleri Goodyear nach den extremistischen Morden in Pakistan. Der Islam hat nichts mit Genitalverstümmelung zu tun, sondern wendet sich mit aller Schärfe (wenn auch ohne Erfolg) dagegen, versichert die FAZ. In der Welt reagiert Moshe Zimmermann auf eine von dem Historiker Johannes Hürter und dem Spiegel aufgeworfene Kritik an der Studie über das Auswärtige Amt. In der taz spricht Rafik Schami über die Revolte in Syrien. Außerdem: Hymnen auf Anna Netrebko.

TAZ, 04.04.2011

Jutta Lietsch meldet die Verhaftung des chinesischen Künstlers Ai Weiwei: "Damit weitet sich die Repression aus, die nicht nur in Peking, sondern in vielen Teilen Chinas zu Verhaftungen geführt hat: In den vergangenen Wochen sind nach Informationen von Menschenrechtlern in China Dutzende Anwälte, Schriftsteller, Journalisten und Internetkommentatoren festgenommen oder unter Hausarrest gestellt worden." Dem Schriftsteller Liao Yiwu zudem wurde die Ausreise verboten.

Im Interview mit Andreas Fanizadeh berichtet der syrische Exilschriftsteller Rafik Schami von den Aufständen in Syrien: "Die Revolte ging dort von einer Gruppe von zehnjährigen Kindern aus. Klingt unglaublich, ist aber wahr. Die Kinder schrieben mit Kreide und Sprayfarben Parolen gegen das Regime auf die Mauern. Ein Cousin von al-Assad ist Chef des Geheimdienstes in Daraa. Die Geheimdienste schlugen brutal zu. Das war den Menschen zu viel. Daraa war einst die Kornkammer des Römischen Reiches. Heute ist es heruntergewirtschaftet und bettelarm. Die Präsenz des Geheimdienstes in den Großstädten Damaskus, Aleppo, Homs, Hama und Latakia ist sehr groß. Doch auch dort rebellieren die Menschen, nachdem in Daraa die Geheimdienste in die Menge schossen, auf Kinder, auf Ärzte. Inzwischen sind die Namen von 103 Opfern bekannt, die für Freiheit und Demokratie stehen. Die Syrer riefen zuerst: 'Aljom mafi Chof' (dt. etwa: 'Wir haben keine Angst mehr')."

Weiteres: Barbara Behrendt berichtet vom 8. Körber Studio Junge Regie in Hamburg. Besprochen wird. Rudolf Walther liest Martin Graffs Roman "Grenzvagabund".

Auf den vorderen Seiten drängt der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe im Interview mit Nora Bierich und Sabine Seifert auf eine Wende in der Atompolitik: " Allerdings betonte unsere Regierung erneut die Wichtigkeit eines atomaren Schutzschirms. Sie ist von der Macht und Effektivität der atomaren Abschreckung überzeugt, vertraut auf das Militärbündnis mit den USA und glaubt andererseits fest daran, dass Atomkraft die größte und beste Energiequelle ist. Diese beiden Faktoren sind, was die Entscheidung für die Zukunft Japans betrifft, unweigerlich miteinander verknüpft. Ich hoffe sehr, dass die schrecklichen Ereignisse in Fukushima ein nationales Nein zur Atompolitik auslösen."

Und Tom.

NZZ, 04.04.2011

Seit Beginn des Jahres wurden in Pakistan zwei führende Politiker ermordet, die sich gegen das drakonische Blasphemie-Gesetz ausgesprochen hatten. Anja Kampmann schildert in einen deprimierenden Bericht, wie Autorinnen und Autoren die zunehmende Radikalisierung des Landes beurteilen. Zum Beispiel die Schriftstellerin Sara Suleri Goodyear: "'Davor, dass wir uns an diese furchtbaren Attentate gewöhnen, habe ich Angst. Natürlich kann man sagen, die westlichen Medien sollten sich beim Blick auf Pakistan nicht so sehr nur auf die Katastrophe fixieren, aber seien wir doch ehrlich: Die Katastrophe ist da. Man darf sich nicht daran gewöhnen.' Die Angst vor Extremisten ist für Suleri sehr real. Von Dingen, die früher ganz selbstverständlich waren, würde sie heute nicht einmal mehr träumen. Dazu gehören Kleinigkeiten, wie alleine auf den Markt zu gehen oder nachts allein zu Fuß nach Haus zu gehen."

Für "quicklebendiges Glück" sorgte Barbara Frey mit ihrer "Platonow"-Inszenierung in Zürich bei Barbara Villiger Heilig: "Michael Maertens schlenzt den Charismatiker mit überragender Nonchalance hin. Die Gesellschaft reagiert erst erleichtert, dann irritiert: Maertens balanciert die Figur auf schmalem Grat zwischen schlagfertigem Charme und aggressiver Boshaftigkeit."

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino spaziert über einen Rummelplatz: "Als Jugendlicher konnte ich die Glitzerwelt des Rummelplatzes kaum aushalten, ohne selbst glitzern zu wollen." Lilo Weber hat sich Heinz Spoerlis Mahler-Choreografie "Das Lied von der Erde" angesehen.

Welt, 04.04.2011

Der Spiegel hat die Kritik von Johannes Hürter an der Studie "Das Amt" aufgegriffen und von einem "Skandal" gesprochen. Hürter ist ehemaliger Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und heute Mitararbeiter am Münchner Institut für Zeitgeschichte. Moshe Zimmermann, Mitautor der Studie, hält das ganze für ein politisches Manöver des Münchner Instituts, mit dem "die sogenannten 'anständigen' Leute, wie z.B. Ernst von Weizsäcker" vor Kritik in Schutz genommen werden sollen: "Hürter hält es für abwegig, die vorhandenen Dokumente neu zu deuten. Aber was er für abwegig hält, halten wir für notwendig. ... Zweitens ist der Anspruch der 'Differenzierung' sehr oft ein Alibi für diejenigen, die relativieren wollen. Unsere Schlussfolgerungen sind das Ergebnis differenzierter Forschung, und deshalb kann die Forderung nach weiterer 'Differenzierung' nur bedeuten, diese Schlussfolgerungen zu zerbröseln und das Auswärtige Amt rückwirkend zu entlasten. Gerade am Institut für Zeitgeschichte in München gibt es eine gewisse Tradition, die alten Eliten aus der Schusslinie zu nehmen."

Weiteres: Mara Delius beobachtete die Eröffnungsfeierlichkeiten zur Ausstellung "Kunst der Aufklärung" in Peking: "Der Titel der Performance: 'Wie man beständig von Dialog redet, aber trotzdem keinen zustande bekommt.'" Besprochen werden das Konzert von Justin Bieber in Berlin, Donizettis Oper "Anna Bolena" mit Anna Netrebko und Luk Percevals Inszenierung von "Draußen vor der Tür" am Hamburger Thalia Theater.

Auf den vorderen Seiten spricht der amerikanische Politologe Francis Fukuyama recht optimistisch über die Revolutionen in der arabischen Welt. Die Intervention in Libyen hat seiner Ansicht nach allerdings einen Schönheitsfehler: "Das Problem ist, dass das Stück keinen zweiten Akt hat. Wenn Gaddafi nicht ziemlich schnell gestürzt wird, könnte das Land geteilt werden, und dann gibt es auf lange Sicht die Frage, ob die Koalition gegen Gaddafi hält. Das hat niemand richtig durchdacht."

Aus den Blogs, 04.04.2011

Ai Weiwei ist am flughafen von Peking festgenommen worden (mehr unten in der FAZ). Hier der letzte Tweet von Ai Weiweis englischprachiger Twitter-Adresse:


Hier Ai Weiweis chinesische Twitter-Adresse.
Stichwörter: Ai Weiwei

FR, 04.04.2011

Der von BMW gesponsorten Schau "Kunst der Aufklärung" in Peking widmet die FR nochmal zwei Seiten: Harry Nutt entwirft ein eher zwiespältiges Bild von Ausstellung und dem damit verbundenen Polit-Spektakel. Bernhard Bartsch inspiziert den von Meinhard von Gerkan entworfenen und den chinesischen Funktionären verhunzten Ausstellungsbau am Platz des Himmlischen Friedens.

Im Aufmacher liest Christoph Schröder Peter Kurzecks viel gefeierten Monumentalromen "Vorabend". Besprochen werden außerdem Barbara Freys "Platonow"-Inszenierung in Zürich und die Abschiedsausstellung des Kurators Chris Dercon am Münchner Haus der Kunst.

SZ, 04.04.2011

Keine Sängerin kommt zur Zeit Anna Netrebko gleich, meint Helmut Mauro in seiner Besprechung von Donizettis "Anna Bolena" an der Wiener Staatsoper: "Ihre Höhe, und sei es der fernste Spitzenton, wird niemals scharf oder schrill, und so wird man nicht unschön erschreckt und macht die Ohren zu, sondern hört, wie sie die gesamte Tragik und alles Leid in ihre Gesangslinie einbindet und dabei größtmöglichen Ausdruck erreicht. "

Die Ernährungskritikerin Tanja Busse antwortet auf eine Polemik Johan Schloemanns gegen grüne Heuchler, die mit ihrem Porsche-Allradwagen zur Altglastonne Fahren: "Es sind vor allem die Grünwähler, die die Notwendigkeit eines Politikwechsels erkennen, während in anderen Milieus immer noch die naive Vorstellung vorherrscht, Wirtschaftswachstum werde weiter Wohlstand bringen und neue technologische Lösungen würden die drohenden Knappheiten schon rechtzeitig beseitigen. Das aber ist nicht heuchlerisch, sondern ignorant."

Weitere Artikel: Kirsten Harms geht als Intendantin der Deutschen Oper - und hat das Haus trotz anfänglicher Kritik auch beim Publikum wieder attraktiv gemacht, resümiert Reinhard Brembeck. In den "Nachrichten aus dem Netz" zitiert Niklas Hofmann aus einer Rede Michel Serres' (hier als pdf-Dokument) vor der Academie francaise, die mit dem Internet eine solche Fortschrittsemphase verbindet, dass der in Deutschland grassierende Kulturpessimismus recht schal wirkt.

Besprochen werden eine große Lorenzo-Lotto-Ausstellung in Rom (von Gottfried Knapp kundig und begeistert empfohlen), ein Konzert der Strokes und LCD Soundsystem in New York, "Draußen vor der Tür" in der Regie Luk Percvevals am Thalia Theater, und Bücher, darunter Peter Heathers große Monografie über die "Invasion der Barbaren - Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus".

FAZ, 04.04.2011

Der Künstler Ai Weiwei wurde gestern in Peking festgenommen, sein Büro durchsucht, alles weitere ist noch sehr unklar. Mark Siemons dokumentiert erste chinesische Reaktionen auf Twitter: "15.54 Uhr: Bei Twitter gibt es über siebzigtausend Grasschlammpferde (Anmerkung: im chinesischen Internet gebräuchlicher Ausdruck für Blogger). Sie kommen aus dem Land und aus aller Welt. Wir müssen handeln. Ihr, die ihr Ai Weiwei festnehmen wollt, nehmt euch in Acht."

Georg Brunhold, ehemaliger Afrika-Korrespondent der NZZ, erklärt, dass, mancher Behauptung von Islamkritikern zum Trotz, die Beschneidung der Frauen nicht im Islam wurzelt und von bedeutenden Religionsgelehrten ausdrücklich abgelehnt wird (und das seit 1400 Jahren ohne jeden Erfolg!) Sehr scharf kritisiert Ulf Erdmann Ziegler die Direktorin des Frankfurter Völkerkundemuseums Clementine Deliss (zu poststrukturalistisch), die Pläne für einen Neubau (zu unterirdisch) und den Umgang der Politik mit der seit Jahrzehnten unbefriedigenden Angelegenheit. In der Glosse empört sich Jürg Altwegg über die "Gesinnungsfestspiele" gegen den angeblichen Gaddafi-Freund Jean Ziegler (mehr Links zu den Vorwürfen gegen Ziegler im Perlentaucher). Rolf Dobelli warnt in seiner "Klarer Denken"-Kolumne vor falschen Ankern. Über die spektakulären Funde in einem Prunkgrab aus der Eisenzeit nahe dem schwäbischen Heuneburg berichtet Timo John.

In der Sonntags-FAZ verteidigte Frank Schirrmacher die German Angst vor der Atomkraft.

Besprochen werden Barbara Freys Züricher "Platonow"-Inszenierung, Luk Percevals Hamburger Inszenierung von "Draußen vor der Tür", bei der sich Dieter Bartetzkos schlimme Befürchtungen schnell in Bewunderung verkehren, eine Aufführung von Gaetano Donizettis selten gespielter "Anna Bolena" mit Anna Netrebko an der Wiener Staatsoper, und Bücher, darunter Pavel Kohouts Memoiren "Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).