Heute in den Feuilletons

Gäbe es zehn

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.04.2011. Die Welt bringt ein Interview mit der Philosophin Bettina Stangneth, die das Bild von Adolf Eichmann als banalem Bürokraten in Frage stellt. Die taz berichtet über geradezu hysterische Reaktionen auf Joseph Lelyvelds Gandhi-Biografie "Great Soul", die fragt, ob Gandhi ein Verhältnis mit einem Deutschen hatte. Der FAZ scheint die deutsche Aufklärungs-Goodwill-Aktion in Peking anlässlich der Verhaftung Ai Weiweis noch schaler. Die SZ bringt ein Interview mit Ai Weiwei, das vor der Verhaftung geführt wurde: Er bekennt darin seine Angst vor dem Regime.

Welt, 05.04.2011

Mit Verspätung weisen wir auf Alan Poseners großes WamS-Interview mit der Philosophin Bettina Stangneth hin, die in ihre demnächst erscheinenden Studie "Eichmann vor Jerusalem" das Bild Adolf Eichmanns als gesichtslosem Funktionär radikal in Frage stellt. Auch Hannah Arendt sei mit ihrer berühmten Formel von der "Banalität des Bösen" einer Selbststilisierung Eichmanns in seinem Prozess aufgesessen: "Ich konzentriere mich also auf das Eichmann-Bild, bevor er selbst hineinpfuscht. Mein Schwerpunkt in der Philosophie ist die Lügentheorie, und dafür ist Eichmann besonders interessant. Ich war mir sicher, dass er in Jerusalem in ungeahntem Ausmaß gelogen hatte. Aber ich musste es beweisen. Dass er eine perfide Show abgezogen hat, auf die auch Hannah Arendt hereingefallen ist."

Posener erklärt in einem beistehenden Artikel, warum auch er die Formel von der "Banalität des Bösen" für unzutreffend hält. In der heutigen Ausgabe gibt es noch ein Interview zu Eichmann: Martin Eich unterhält sich mit Gabriel Bach, dem Ankläger im Prozess, der für die Eröffnung einer Ausstellung über den Prozess in der "Topografie des Terrors" nach Berlin gekommen ist.

Wieland Freund liest David Foster Wallace' nachgelassenen Roman "The Pale King" schon mal auf Englisch: "Das große Thema des 'Pale King' sollte die Langeweile werden. Bereits 1998, zwei Jahre nach Erscheinen von 'Unendlicher Spaß', hat Wallace Steuerrechtskurse besucht; schon damals muss er den Plan gehabt haben, seinen großen Roman um ein Gegenstück zu ergänzen: Wenn 'Unendlicher Spaß' davon erzählt, wie wir uns zu Tode amüsieren, sollte 'The Pale King' zeigen, wie wir qua Langeweile zurück ins wahre Leben jenseits der Bildschirme finden."

Weiteres: Johnny Erling bemerkt, dass Chinas Behörden erst die Delegation der Aufklärungsausstellung wieder nach Hause verabschiedeten, bevor sie den kritischen Künstler Ai Weiwei festnahmen. Richard Kämmerlings freut sich, dass Kafkas Briefe an Ottla vom Literaturarchiv Marbach angekauft wurden. Heiko Zwirner erinnert an den Bombenanschlag auf die Berliner Disko La Belle vor 25 Jahren. Hanna Engelmeier resümiert ein Lyrikertreffen in Münster. Ekkehard Kern berichtet über die Recherche, mit der die taz einige Zeitungen (aber nicht unbedingt die wichtigen) auf ihre Käuflichkeit prüfte. Besprochen wird Barbara Freys Zürcher Inszenierung von Tschechows "Platonow".

TAZ, 05.04.2011

Agnes Tandler berichtet von hysterischen Reaktionen in Indien auf Joseph Lelyvelds Gandhi-Biografie "Great Soul", die Gandhi ein Verhältnis mit dem in Südafrika lebenden Deutschen Hermann Kallenbach zuschreibt: "Der Bundesstaat Gujarat hat das Buch bereits am Mittwoch verbieten lassen. Gujarats Ministerpräsident, Narendra Modi, bezeichnete das Buch als 'pervers und beleidigend für die Ikone des gewaltlosen Widerstands'."

Klaus Hillenbrand behandelt die Ausstellung "Ordnung und Vernichtung" im Deutschen Historischen Museum in Berlin über die Verstrickung der Polizei in das NS-Regime und den Völkermord: Zwar habe die Polizei schon in der Weimarer Republik das Bild vom Freund und Helfer genährt, schreibt Hillenbrand, "andererseits war die Polizei schon damals ein stockreaktionärer Apparat, von kriminellen Freikorps durchsetzt und politisch in die Nähe rechtsextremer Organisationen gerückt. Große Teile der antidemokratischen Polizeiführung begrüßten entsprechend die Machtübernahme der Nationalsozialisten - schließlich versprach sie vor allem Ordnung und damit eine Aufwertung des Beamtendaseins."

Weiteres: Aram Lintzel kommt bei unseren Fernost-Projektionen nicht mehr ganz mit: "Der sogenannte 'Ferne Osten' steht zugleich für Turboismus und Stoizismus, für Beschleunigung und Entschleunigung." Besprochen werden Luk Percevals Inszenierung von Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" am Hamburger Thalia Theater und Siri Hustvedts Roman "Ein Sommer ohne Männer" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und noch Tom.

NZZ, 05.04.2011

"Diverses Herkommen, dissidentes Denken und divergentes Fühlen" erlebte Stefan Gmünder bei den Rauriser Literaturtagen. Marion Löhndorf klingt angesichts der unaufhaltsam näherrückenden königlichen Hochzeit in London schon jetzt das weiße Rauschen der Medien in den Ohren. Dirk Pilz berichtet von einem Kölner Symposium zur Frage: "Wem gehört die Bühne??".

Besprochen werden die Ausstellung "Zoom" im Vitra Design Museum in Weil, die italienisches Design in der Fotografie von Aldo und Marirosa Ballo präsentiert, eine Inszenierung von Wagners "Parsifal" am Theater Basel, Giorgio Vastas Palermo-Roman "Die Glasfresser" und Raoul Schrotts mit dem Neurowissenschaftler Arthur Jacobs verfasstes Buch "Gehirn und Gedicht" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 05.04.2011

Elke Brüns denkt über das gesteigerte Interesse an Obdachlosen in Kunst und Fernsehen nach. Hans-Klaus Jungheinrich berichtet über das Archipel-Festival für neue Musik in Genf. Marbach und die Bodleian Library haben gemeinsam Kafkas "Briefe an Ottla" erworben, die Kaufsumme wurde nicht genannt, meldet Harry Nutt. Auf der Medienseite erklärt Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo auf die Frage, warum der Spiegel eine derartig miserable Frauenquote hat, in seinem besten Politikerdeutsch: "Es sind zu wenige Frauen in Führungspositionen. Dass muss sich ändern." (Der Interviewer der FR hat übrigens eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Medwedew, wie Dirk von Gehlen auf Twitter bemerkt.)

Besprochen werden Luk Percevals Inszenierung von Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" am Hamburger Thalia Theater, die Ernst-Jandl-Show im Münchner Literaturhaus, Calixto Bieitos Inszenierung von Lorca Stück "Bernarda Albas Haus" in Mannheim, Alan Bennetts Kurzgeschichtenband "Miss Fozzard findet ihre Füße" und Philipp Bloms Band "Böse Philosophen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 05.04.2011

Recht scharf kritisiert Niklas Maak die Liebedienerei (nicht nur) deutscher Kunstzuständiger gegenüber autoritären Regimen, die sich angesichts des Falls Ai Weiwei mal wieder aufs peinlichste offenbart: "Es ist das Paradox eines sich aufklärerisch gerierenden Kunstbetriebs, dass er zwar auf die Aura 'kritischer Hinterfragung' und allgemeiner Bewusstseinsbildung setzt, sich aber im gleichen Atemzug einem Regime andienen kann, das die legitimen Nachfolger einer aufklärerischen Kunst verschleppt und misshandelt." Einer der Hauptgemeinten, der Leiter der Kunstsammlungen Dresden Martin Roth, der für die "Kunst der Aufklärung"-Ausstellung in Peking mitverantwortlich ist, kann die Aufregung im knappen Interview freilich überhaupt nicht verstehen und wird sogar richtig pampig: "Ich bin schockiert über den Umgang mit diesem Thema, der Art und Weise, wie alles kleingemacht wird, gerade in Deutschland."

An einem Beispiel aus Bayern - einem Missbrauchsfall, in dem der ehemalige evangelische Pfarrer von einem kirchlichen Disziplinargericht ohne viel Beweise nach 36 Jahren verurteilt wurde - macht der Theologe Friedrich Wilhelm Graf deutlich, dass in Deutschland die Kirchen auf ihren "Scharia"-ähnlichen nicht-säkularen "Eigenrechten" beharren: "Kulturstolz sind wir Christen darauf, dass wir anders als manche Muslime Dieben nicht die rechte Hand abhacken und ehebrüchige Frauen nicht mehr steinigen. Unsere klerikale Strafjustiz ist wahrlich subtiler: Sie vernichtet die bürgerliche Existenz des Ehebrechers, der sich nach staatlichem Recht aber gar keines Ehebruchs schuldig gemacht hat."

Weitere Artikel: Als wahren Sieger des gemeinsamen Kaufs der Kafka-Briefe an Ottla durch die Bodleian Library und das Marbacher Literaturarchiv sieht Andreas Kilb uns, das heißt: "die literatursüchtige, vom Geniebegriff nie losgekommene, nostalgisch nach dem Leidensglanz der Geisteshelden gierende Öffentlichkeit des digitalen Zeitalters". Den Berlin-Umzug der verbleibenden Teile des Eichborn-Verlags kommentiert Sandra Kegel mit der Frage: "Was bleibt von einem Verlag, der ... nur noch aus einem Viertel seiner ursprünglichen Belegschaft besteht?" In der Glosse dreht Patrick Bahners das gegenwärtige Politikdurcheinander durch die Zukunftsmangel. Jan Brachmann resümiert das Berliner Maerzmusik-Festival.

Besprochen werden die Zürcher Uraufführung von Heinz Spoerlis Tanz-Choreografie zu Mahlers "Lied von der Erde", Calixto Bieitos Mannheimer Inszenierung von Federico Garcia Lorcas "Bernarda Albas Haus", die Ausstellungen zum Thema "Leipzig. Fotografie seit 1839" in gleich drei Leipziger Museen, die Ausstellung "The Speed of Colors" im Berliner Kunstraum Tanas und Bücher, darunter Colson Whiteheads Roman "Der letzte Sommer auf Long Island" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 05.04.2011

Von Ai Weiwei gibt es nach seiner Festnahme nach wie vor kein Lebenszeichen. Die SZ bringt ein Interview, das der China-Korrespondent Henrik Bork vor fünf Tagen geführt hat. Auf die Frage, warum er sich als einer der wenigen traue, offen mit ausländischen Journalisten zu sprechen, antwortete Ai Weiwei: "Ja, ich frage die Journalisten oft, warum sie nicht einmal einen anderen befragen. Das wäre wohl besser für mich. Gäbe es wenigstens [mehr] Leute wie mich, dann wäre meine Last nur noch halb so groß. Gäbe es zehn, dann wäre meine Last nur noch ein Zehntel. Aber es ist immer noch mein Job, ganz allein meiner. Es ist lustig. Und gleichzeitig habe ich große Angst."

Weitere Artikel: Florian Kessler wirft einen ernüchternden Blick auf die deutsche Literatur im Netz: Es sind die Verlage, die mit Facebook und Twitter experimentieren, während die Autoren mit wenigen Ausnahmen keine müde Idee zum Netz entwickeln. Michael Stallknecht resümiert eine Tutzinger Diskussion über Religion und Aufklärung, in der der Theologe Friedrich Wilhelm Graf die Aufklärung verteidigte. Die in Deutschland lebende französische Journalistin Pascale Hugues versucht der Frage auf die Spur zu kommen, warum Deutsche die Atomkraft so sehr und die Franzosen so gar nicht fürchten - und macht in Frankreich immerhin zaghafte Ansätze zu einer Kritik an der Atompolitik aus. Lothar Müller freut sich bekanntgeben zu dürfen, dass ein Konvolut mit Kafka-Briefen nach manchen Peripetien glücklich im Literaturarchiv Marbach landete. Aus unklaren Gründen wird gemeldet, dass demnächst ein Roman von Charlotte Roche erscheint. In der "Zwischenzeit" fragt Wolfgang Schreiber, warum Günther Anders noch nicht vertont wurde. Laura Weißmüller meldet, dass Peter Zumthor die diesjährige "Serpentine Gallery" entwirft. Jörg Häntzschel besucht die Kunststadt Los Angeles, die New York den Rang ablaufen möchte.

Auf der Medienseite staunt Hans Leyendecker über eine Studie zweier Journalisten, die behaupten, "Bild sei gar keine richtige Zeitung, sondern inszeniere sich nur so, um Geschäfte machen zu können... Das Blatt sei mit seinen 'Volksprodukten' und seiner 'Marketing- und Verkaufsmaschine' zu 'einem der großen Einzelhändler Deutschlands geworden'." (Als wäre nicht gerade die SZ ein Pionier der Tschiboisierung gewesen!)

Besprochen wird Tschechows "Platonow" in Barbara Freys Zürcher Inszenierung.