Heute in den Feuilletons

Aus der Distanz der Verklärung, der Entrückung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2011. In der FAZ spricht Luc Tuymans über seinen Freund Ai Weiwei und die schwierige Arbeit in China. In der FR konstatiert  Opernregisseur Stefan Herheim, dass Kunst nicht demokratisch funktionieren kann. Diedrich Diederichsen schildert in der SZ ein prägendes Musikerlebnis: Und er verdankt es James Blake. Die NZZ ist von Stockhausen hin- und hergerissen: Sein "Sonntag" ist überragend, aber auch befremdlich.

FR, 13.04.2011

Der Opernregisseur Stefan Herheim spricht im Interview mit Jürgen Otten über seine "Salome" bei den Salzburger Festspielen, die Keller der männlichen Psyche und das Prinzip Macht in der Oper: "Natürlich habe ich eine gewisse Allmacht als Regisseur, aber das liegt daran, dass Kunst im Kern nie über ein demokratisches Prinzip funktionieren wird. Kunst kann nicht im herrschaftsfreien Raum entstehen. Kunst muss immer von einer Vision ausgehen, und die bleibt stets subjektiv."

Auf der Medienseite wagt Ulrike Simon leichte Kritik an dem allenthalben gehypten Aufsatz über die Bildzeitung.

Besprochen werden eine an den Zeichner und Essayisten Carlfriedrich Claus erinnernde Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin, das Album "DMD KIU LIDT" von Ja, Panik und Bücher, darunter Michel Onfrays Streitschrift "Anti-Freud" und Mareike Krügels Roman "Bleib wo du bist" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

NZZ, 13.04.2011

Musikalisch "überragend" nennt Marco Frei die Uraufführung von Stockhausens "Sonntag" in Köln, hält aber gleichwohl fest: "Dieses sonderbare kultische Weihefestspiel befremdet zweifellos." Außerdem besprochen werden die große Schau "Surreale Dinge" in der Frankfurter Schirn, Edwige Danticats Erzählungen "Der verlorene Vater", Johann Heinrich Mayrs Erinnerungen "Meine Lebenswanderung" sowie zwei Bücher über Italien von Paul Ginsborg und Birgit Schönau (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 13.04.2011

Ingo Arend besichtigt die blühende Istanbuler Kunstszene, ist sich aber nicht sicher, ob er sie für ein Zeichen politischer Liberalisierung halten soll: "Die Hoffnung, dass die Kunst als Katalysator und Speerspitze einer neuen, liberalen und multikulturellen Zivilgesellschaft fungieren könnte, schwindet nicht nur in dem Maße, wie sich ihr Betriebssystem professionalisiert und immer teurere Häuser bezieht. Zwar ziehen die immer häufigeren Kunstevents eine junge, selbst- und modebewusste Klientel aus der oberen Mittelschicht an... Dieser Vermehrung einer liberalen Öffentlichkeit stehen dann aber doch wieder Staatsaktionen wie die gegen Ahmet Sik gegenüber. Oder die plötzlichen Attacken gläubiger Kleinbürger."

Weiteres: Brigitte Werneburg berichtet, wie die Guggenheim Foundation auf den Boykottaufruf des libanesischen Künstlers Walid Raad gegen das im Bau befindliche Guggenheim Abu Dhabi reagiert hat: konstruktiv nämlich, im Gegensatz zu den deutschen Organistoren der Pekinger Aufklärungsschau. Julia Gwendolyn Schneider schwärmt von Antonia Lows Spiegelbodeninstallation in der Städtischen Galerie Nordhorn.

Und Tom.

Welt, 13.04.2011

Gemeldet wird, dass nun auch Mitarbeiter Ai Weiweis festgenommen wurden.

Mara Delius liest im Aufmacher die Erinnerungen der ehemaligen Susan-Sontag-Mitarbeiterin und Freundin ihres Sohns David Rieff Sigrid Nunez an Susan und David (Auszug). Wieland Freund liest Jonathan Franzens New Yorker-Text über seine Reise auf die Robinson-Crusoe-Insel Alejandro Selkirk und David Foster Wallace. Ekkehard Kern empfiehlt die heute abend laufende Dokumentation "Der Rechtspopulist" über Geert Wilders. In seiner Kolumne "J'accuse" sieht Alan Posener die Burqa als "Ausdruck eines extremen Schamgefühls", das nun von den Franzosen auf dem Altar eines extremen Säkularismus geopfert werde. Der Philosoph Martin Gessmann musste sich von den arabischen Revolten in seinem postmodernen Glauben, "zuerst kämen die Codes und dann erst das Leben", erschüttern lassen.

Besprochen werden eine Ausstellung der Sammlung Pinault in Venedig, Nis-Momme Stockmanns Stück "Die Ängstlichen und die Brutalen" am Deutschen Theater Berlin und das Ballett "La Esmaralda" an der Berliner Staatsoper.

SZ, 13.04.2011

Diedrich Diederichsen, der Doyen der Popkritik, hat nach längerer Zeit mal wieder ein prägendes Musikerlebnis gehabt: die erste, in den Feuilletons bereits mehrfach für das Ausmaß ihrer Pausen gefeierte Pop-CD des DJs James Blake: "Bei Blake sind die von seiner überklaren Stimme in ein Fast-Nichts aus Hall, Echo, Maschinenlärm- und Sakralsounddesign hineingetragenen Songfragmente Reliquien einer heiligen Subjektivität, die man nicht allen Ernstes mehr leben kann oder können will. Aber vor dem Hintergrund dieser auf Samtkissen ausgestellten Individualismus-Kristalle kann man weitermachen - aus der Distanz der Verklärung, der Entrückung."

Weitere Artikel: Einige Kuratoren deutscher Museen berichten in kurzen Statements von ihren Erfahrungen in China. Im ganzseitigen Aufmacher erklärt Rudolf Neumaier, wie man bei Bedarf billig an einen Doktortitel kommt. Jan Füchtjohann stellt das Gerücht richtig, Google habe sich mit Street View wegen der in Deutschland zahlreich protestierenden Schrebergärtner zurückgezogen - das sei ein Missverständnis, Deutschland ist einfach abfotografiert. Der wegen seiner liberalen Positionen zu Stammzellenforschung und ähnlichen Themen einst erfolgreich als Verfassungsrichter verhinderte Horst Dreier erklärt, warum er Präimplantationsdiagnostik für ein legitimes medizinisches Verfahren hält. Dirk von Gehlen annonciert den von Netzpolitik.org-Gründer Markus Beckedahl ins Leben gerufenen Verein "Digitale Gesellschaft", der sich ebenfalls für netzpolitische Themen einsetzen wird. Auf der Medienseite berichtet Reymer Klüver, dass einige Blogger der Huffington Post nach der Übernahme durch AOL Klage wegen ihres Status eingereicht haben (mehr bei der NYT).

Besprochen werden Bücher, darunter Oswald Eggers "lyrischer Roman" "Die ganze Zeit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 13.04.2011

"In China wird alles kaputtgemacht, um reine, ungefährliche Repräsentationsausstellungen zu schaffen", erklärt der belgische Maler Luc Tuymans, der seine eigenen Erfahrungen mit chinesischen Behörden gemacht hat. 2010 gelang es ihm aber, zusammen mit Ai Weiwei die Ausstellung "State of the Things" (mehr hier) mit zeitgenössischen Künstlern aus Belgien und China auf die Beine zu stelle. Wie ihnen das gelang? "Die Person Ai Weiwei war natürlich auch schon 2010 unmittelbar politisch, da war keine Diplomatie mehr denkbar. Jede Handlung war explizit. Also durch Unerschrockenheit und Direktheit und, man muss es so klar sagen, mächtige politische Unterstützer, nämlich Jose Manuel Barroso, den Präsidenten des europäischen Parlaments. Und auf der chinesischen Seite hatten wir einen progressiven Kurator Fan Di'an."

Weitere Artikel: Skandalös findet Andreas Rossmann die Zustände am Bonner Beethoven-Hauses, dessen Vorstand offenbar jahrelang geschlampt hat und dies zu verbergen sucht, indem er den als Reformer geltenden Direktor Philipp Adlung loszuwerden versucht. In Sachen PID wirft Christian Geyer der Ethikkommission vor, sie wolle das Parlament ersetzen. Auf der Geisteswissenschaftenseite schreibt Martin Eich über eine Tagung am Fritz-Bauer-Instituts zum Eichmann-Prozess und nutzt dabei aus undurchsichtigen Gründen die Gelegenheit, der Philosophin Bettina Stangneth eins reinzuwürgen, "die für sich in Anspruch nimmt, in ihrem Buch Eichmanns Rolle bei der Vernichtung des europäischen Judentums einer Neubewertung unterzogen und seine von Hannah Arendt übernommene Selbststilisierung zum subalternen Bürokraten enttarnt zu haben".

Auf der Medienseite fordert der LKA-Direktor Wolfgang Gatzke die Politik auf, endlich eine gesetzliche Regelung für die Mindestdatenspeicherung zu schaffen - im Rahmen des jüngsten Bundesverfassungsgerichtsurteils, versteht sich (mehr dazu hier und hier). Konrad Schuller meldet, dass in Weißrussland der für die polnische Gazeta Wyborcza arbeitende Journalist Andrzej Poczobut verhaftet wurde: wegen "Beleidigung" und "Verleumdung" des Staatsoberhaupts (mehr dazu hier).

Besprochen werden ein Theaterstück über die Ermordung der Juden in Jedwabne im Warschauer Teatr na Woli (hier die Kritik in der NZZ), Michel Leclercs Filmkomödie "Der Name der Leute", der Broadway-Hit "The Book of Mormon", einige Lumet-Filme auf DVD und Bücher, darunter Mischa Kläbers "Doping im Fitness-Studio" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).