Heute in den Feuilletons

1905 meldete sich eine Stimme

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2011. In der NZZ erklärt Barbara Vinken, warum das "o" in "Madame Bovary" kurz ausgesprochen werden muss. Im Zeit-Dossier zum Thema "Was Journalisten anrichten" hätte es auch Geschichten aus der Zeit zu erzählen gegeben, meint das Blog Meedia. In der Welt erklärt Elisabeth Badinter, warum sie ein Burka-Verbot befürwortet. Die SZ wünscht sich politischen Pop aus Deutschland (während wir selbst sehr gern darauf verzichten!) Und die FAZ teilt mit: Nicht Wassily Kandinsky hat abstrake Malerei erfunden, sondern die schwedische Malerin Hilma af Klint.

NZZ, 16.04.2011

Kurz muss das "o" in "Emma Bovary" ausgesprochen werden, schreibt Barbara Vinken, die bei Flaubert Spuren der orientalischen Mode im späten 19. Jahrhundert sucht: "Das kurze Aussprechen des 'o' in Bovary bringt die Wurzel 'bovis' und damit den Verweis auf das archetypische Opfertier heraus. Unter der Oberfläche erzählt dieser Roman des Ehebruches die Geschichte eines Sühneopfers."

Weiteres in der Beilage Literatur und Kunst: Anton Holzer erzählt "von den Schwierigkeiten, eine globale, ja nur schon eine europäische Geschichte der Fotografie zu schreiben". Ursula Seibold-Bultmann besucht die Ausstellung "Serious Games - Krieg, Medien, Kunst" in Darmstadt. Und Franziska Meier liest die auf französisch neu erschienene Korrespondenz zwischen Andre Gide und Paul Valery.

Im Feuilleton beginnt Samuel Herzog seine Besprechung der Pariser Cranach-Ausstellung mit einer sehr persönlichen Bemerkung: " Es gibt nur zwei Dinge, von denen sich echte Jungs im Kunstmuseum Basel beeindrucken lassen: das fliegende Pest-Monster von Arnold Böcklin und die Bäuche der Göttinnen im 'Paris-Urteil' von Lucas Cranach dem Älteren (1472-1553)."

Weitere Artikel: Andrea Eschbach ist nach dem Salone Internazionale del Mobile in Mailand über neueste Tendenzen im Design informiert. Peter Hagmann berichtet vom Osterfestival in Luzern. Und Hoo Nam Seelmann schildert die Furcht der Koreaner vor einem neuen Ausbruch des Vulkans Baek-du-san.

Aus den Blogs, 16.04.2011

Nachdem das Zeit-Magazin ein leicht sülziges Dossier zum Thema "Was Journalisten anrichten" gebracht hat, erinnert Georg Altrogge in Meedia nochmal an die Rolle der Zeit-Reporterin Sabine Rückert im Fall Kachelmann. In einer Rückert-Mail an einen Kachelmann-Anwalt heißt es demnach zum Beispiel: "Wir können nur zusammen kommen, wenn Ihre Verteidigung in dem angedeuteten Sinne professionalisiert wird, dazu sollten Sie sich überlegen, einen Kollegen einzubinden, der Verfahren dieser Art auch gewachsen ist. Wenn Sie mein Buch gelesen haben, wissen Sie, wen ich in einem solchen Fall wählen würde."
Stichwörter: Rückert, Sabine

FR, 16.04.2011

Judith von Sternburg glossiert unter Rückgriff auf einen Guardian-Artikel das bedauerliche Ende der mexikanischen Sprache Ayapaneco: Es gibt nur noch zwei Sprecher, aber die reden nicht miteinander. Gemeldet wird, dass Künstler in einer internationalen Protestaktion je 1001 Stühle vor chinesische Botschaften stellen wollen, um die Freilassung Ai Weiweis zu fordern. Oliver Herwig ist nicht zufrieden mit den Neubauten des Münchner Arnulfparks. Tim Gorbauch stellt den zwischen Klassik, Pop und Moderne irrlichternden Pianisten Francesco Tristano vor.

Besprochen werden Tennessee Williams' "Die Katze auf dem heißen Blechdach" in Frankfurt, Milan Peschels Inszenierung der Lubitsch-Komödie "Sein oder Nichtsein" am Berliner Gorki-Theater, Poulencs "Dialogues des Carmelites" in Stuttgart und Bücher, darunter Gisela Elsners kulturkritische Schriften (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 16.04.2011

Die taz hat einen der ersten Comics von Ralf König ausgegraben, der die Strafverfolgung eines Mannes anprangert, der einen Teenager zum Oralsex animiert hat. "Peinlich", sagt König im Interview. Würde er heute natürlich nicht mehr machen. Aber die Siebziger waren nun mal die Siebziger: "Man verurteilte nicht so schnell und es war vieles nicht bekannt, die ganzen Missbrauchsfälle, man wusste nichts von den Dimensionen, egal ob schwul oder nicht. Im Kino lief 'Schulmädchen-Report', das gäbe es heute auch nicht mehr."

Viele Intellektuelle in den arabischen Ländern haben sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert, was Kritik an den herrschenden Verhältnissen anging. Der syrische Philosoph Sadiq al-Azm möchte das im Interview jedoch nicht überbewerten: "Ich möchte mit den meisten Intellektuellen nicht zu hart ins Gericht gehen - es sei denn ihr Verhalten ist so klar wie bei Jaber Asfur, dem früheren Direktor der obersten Kulturbehörde Ägyptens und letzten Kulturminister unter Mubarak. Früher hielt er eine gewisse Distanz zum Regime, dann nicht mehr. Es ist unmöglich, diese Menschen zu respektieren."

Weiteres: Ingo Arend findet das Einheitsdenkmal von Johannes Milla und Sasha Waltz zwar nicht gerade brillant, aber: "wer jetzt beobachtet, wie sich in der Debatte über das neueste deutsche Identitätsmöbel ein Bedürfnis nach Pathos, Sinnstiftung und Zentralität Bahn bricht, ist schon fast wieder fast erleichtert, dass es auf eine Art Alessi für alle hinausläuft." Julia Seeliger berichtet über die re:publica und die Gründung der Digitalen Gesellschaft. Besprochen werden die neue CD von John Foxx und Bücher, darunter Najat El Hachmis Roman "Der letzte Patriarch" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 16.04.2011

Im Feuilleton erklärt die französische Philosophin Elisabeth Badinter, warum sie absolut für ein Burka-Verbot ist und warum das Argument, diese Frauen würden jetzt gar nicht mehr aus dem Haus gehen, nicht zieht: "Im Namen dieses idiotischen Arguments werden in Schwimmbädern geschlechtlich getrennte Öffnungszeiten eingerichtet, obwohl das gegen das Gesetz der republikanischen Gleichheit verstößt. Auch da hört man immer wieder: 'Ja, aber sonst gehen ja diese Frauen gar nicht mehr ins Schwimmbad.' Wen kümmert's? Diese Frauen isolieren sich doch selbst, in dem sie den Blickkontakt verweigern! Na dann bleiben sie eben zu hause, was soll's? Deswegen werden wir doch nicht unsere republikanischen Gesetze ändern. In der Geschichte gibt es nur ein einziges Beispiel für eine Person, der es erlaubt war, ihr Gesicht zu verhüllen: Es war der Scharfrichter!"

Weiteres: Cosima Lutz spaziert durch den Berliner Ernst-Thälmann-Park. Alan Posener berichtet über die Zensur bei Facebook, wo man Courbets "L'Origine du Monde" verbot. Elmar Krekeler lädt den Schauspieler Benjamin Sadler zum Essen ein. Besprochen wird Bettina Bruiniers Inszenierung der "Katze auf dem heißen Blechdach" in Frankfurt.

In der Literarischen Welt erklärt der Historiker Jan Tomas Gross, warum sein Buch "Goldene Ernte" über die Kollaboration von Polen mit den Nazis eine so hitzige Debatte ausgelöst hat. "Als die deutschen Besatzer schließlich mit der Vernichtung der Juden begannen, sahen viele Polen darin eine Gelegenheit, daraus materielle Vorteile zu ziehen und halfen den Deutschen. Das geschah, wie ich es in meinem Buch schildere, an den 'Rändern des Holocaust', dennoch war es allenthalben zu bemerken. Diejenigen Polen, die Juden aufnahmen, zu verstecken versuchten und vor der Maschinerie des Massenmords bewahren wollten, wurden von ihrem eigenen Umfeld geächtet und gingen große persönliche Risiken ein, weil sie Gefahr liefen, von ihren Nachbarn verraten zu werden (die Strategie der Deutschen war es, jeden zu töten, der Juden half)."

Weiteres: Tilman Krause besucht Stephane Hessel. Jacques Schuster stellt die Künstler Johan Potma und Matheo Dineen vor. Besprochen werden u.a. Bruno Schulz' Erzählband "Das Sanatorium zur Sanduhr", die Memoiren von Hans Keilson, Meir Shalevs Familiengeschichte "Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger" und Sabine Appels Buch über Nietzsche.

SZ, 16.04.2011

Jens-Christian Rabe ist unzufrieden mit dem Zustand des politischen Pop in Deutschland, der "merkwürdigerweise fast nichts mit der Gegenwart zu tun" habe. "Schon seine Musik fügt dem drahtig-zackigen Post-Punk der Vorbilder von den Gang Of Four bis zu den Fehlfarben eigentlich nichts hinzu. Im schlechtesten Fall scheitert er so unabsichtlich kläglich wie die aus unerfindlichen Gründen im vergangenen Jahr zur 'interessantesten deutschen Band der letzten Jahre' ausgerufenen 1000 Robota aus Hamburg, deren Wut etwa so zeitgenössisch und mutig ist wie eine zerrissene Jeans. Große Rosinen in kleinen Köpfen."

Weitere Artikel: Ökologisches Wirtschaften ist wichtiger als soziale Gerechtigkeit, die in Deutschland ohnehin bereits "weitgehend erreicht" ist, meint der Philosoph Vittorio Hösle, die Grünen und ihre Wähler ermunternd. Peter Burghardt berichtet über den ungeheuer grausamen Drogenkrieg in Mexiko: Eines der jüngsten Opfer war der 24-jährige Sohn des Dichters Javier Sicilia, "unbekannte Mörder hatten ihn und sechs weitere junge Männer gefesselt, gefoltert und erstickt". Khalid al-Khamissi lässt sich von einem Taxifahrer erzählen, warum die in Frankreich lebende Schwiegertochter auf dem Niqab besteht. Egbert Tholl sah beim Münchner Theaterfestival "Radikal jung" zwei Berliner Kiez-Stücke - "Verrücktes Blut" und "Arabqueen" -, deren "respektlose Natürlichkeit im Umgang mit Migrationsthemen" Vorbild für das deutsche Stadttheater sein sollten. Lothar Müller singt ein kleines Loblied auf Richard Starks Krimihelden Parker.

In der SZ am Wochenende erzählt Martin Wittmann, wie es war, neben einem AKW aufzuwachsen. Kurt Kister schickt den zweiten Teil seiner Artikelserie über den amerikanischen Bürgerkrieg. Verena Stehle interviewt den Modedesigner Tomas Maier (Bottega Veneta).

Besprochen werden Konzerte der Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, Bernard Haitink und Jordi Savall beim Lucerne Festival, die Ausstellung "Mondrian und De Stijl" im Kunstbau München und Peter Kurzecks Roman "Vorabend" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)

FAZ, 16.04.2011

Nicht Wassily Kandinsky hat die ersten abstrakten Gemälde gemalt, sondern die hierzulande nicht sehr bekannte schwedische Malerin Hilma af Klint (Bilder), erzählt eine begeisterte Julia Voss. Die Gemälde kommen zum Teil jetzt erst zum Vorschein, in Stockholm wird für 2013 eine große Ausstellung vorbereitet. Klint war, wie viele Künstler um 1900, von theo- und später anthroposophischen Praktiken beeinflusst: "1905 meldete sich .. eine Stimme, die folgende Nachricht an Klint hatte: 'Du sollst eine neue Lebensanschauung verkünden. Deine Bemühungen werden Früchte tragen.' Im November 1906 beginnt Klint ihre Arbeiten am 'Tempel', ein Projekt, das schließlich 193 Gemälde umfasst, die meisten davon abstrakt."

Der Autor, Jurist und Blogger Maximilian Steinbeis besucht Ungarn, wo sich Viktor Orban mit seiner Zweidrittelmehrheit eine Verfassung auf den Leib schreibt: "Zweck dieser Verfassung ist es, dafür zu sorgen, dass Ungarn nationalkonservativ bleibt, egal, wie künftige Wahlen ausgehen."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann glossiert die Sehnsucht nach einem neuen Ruhrgebiets-"Tatort". Jürgen Dollase geht für seine Gastrokolumne ins "Aqua" in Wolfsburg essen und empfiehlt den Koch Sven Elverfeld als einen der besten in Deutschland. Tilman Spreckelsen besucht den 101-jährigen Autor Hans Keilson in den Niederlanden - gerade legt er seine Autobiografie vor. Gina Thomas berichtet von der Eröffnung eines Kunstzentrums im heruntergekommenen britischen Badeort Margate, Architekt ist David Chipperfield (Bilderstrecke und Interview im Guardian). "tens" schreibt zum Tod des serbischen Autors Brana Crncevic. Und Edo Reensts porträtiert den Liedermacher Hannes Wader.

Besprochen werden Tennessee Williams' "Katze auf dem heißen Blechdach" in Frankfurt, eine Ausstellung mit Webcam-Bildern des Schweizer Künstlers Kurt Caviezel in Winterthur und neue CDs, darunter ein Album von Alison Krauss (Musik) und Madrigale und Motetten von Heinrich Schütz.

In einem Essay für Bilder und Zeiten muss Melanie Mühl konstatieren, dass die Frau der schlimmste Feind der Frau ist. Aus einem neuen Buch von Constanze Kurz und Frank Rieger wird ein Kapitel über Datenschutz im Internet abgedruckt. Julia Voss liest Laura Redniss' bisher nur auf englisch erschienenes Buch "Radioactive - Marie & Pierre Curie: A Tale of Love and Fallout" (hier einige Seiten des schön illutrierten Werks ) Sebastian Balzter besucht die nordnorwegische Stadt Kirkenes. Für die letzte Seite unterhält sich Julia Spinola mit dem Opernregisseur Stefan Herheim.

Für die Frankfurter Anthologie liest Silke Scheuermann ein Gedicht von Doris Runge - "blind date:

es muss ja nicht
gleich sein
nicht hier sein
zwischen tür und
engel abflug
und ankunft
in zugigen höfen (...)"