Heute in den Feuilletons

In der Sauce des Allgemeinen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2011. Die FR war nochmal in der Pekinger Aufklärungsausstellung, die nach Auskunft einer Dame vom Informationsstand aber gar keine richtige Ausstellung ist, "sondern ein kommerzielles Projekt, für das die Deutschen bei uns einen Raum gemietet haben". In der Welt warnt Ian Buruma vor der Verflechtung von Wirtschaft und Bürokratie in Japan. Die FAZ berichtet über den von Tayyip Erdogan persönlich angeordneten Abriss des Mahnmals für die ermordeten Armenier in der türkischen Stadt Kars.

FR, 20.04.2011

Bernhard Bartsch war noch einmal in Pekings Nationalmuseum, das überhaupt nicht daran zu denken scheint, seine Besuchermassen auch in die Aufklärungsausstellung zu lotsen: "'Die deutsche Veranstaltung ist eigentlich keine richtige Ausstellung, sondern ein kommerzielles Projekt, für das die Deutschen bei uns einen Raum gemietet haben', erklärt die Frau am Informationsstand und weist den Weg in den zweiten Stock. So also wird Besuchern ein seit sieben Jahren geplantes deutsch-chinesisches Gemeinschaftsprojekt unter der Schirmherrschaft der beiden Präsidenten schmackhaft gemacht." (Heißt das, die Deutschen zahlen Miete, um den Propagandapalast bespielen zu dürfen?)

"Mit anderen Worten", sekundiert Christian Schlüter, "wir haben uns mit einem Prestigeprojekt von der Willkür des Pekinger Regimes vollkommen abhängig gemacht."

Weiteres: Oliver Herwig schlenderte über die Mailänder Möbelmesse und fand Beweise, dass sich Konsum, Ökologie und Design nicht mehr ausschließen. Besprochen werden Aleksandr Mindadzes Tschernobyl-Drama "An einem Samstag" (von dem Daniel Kothenschulte eigentlich nur das Schlussbild mochte), Barrie Koskys "Siegfried"-Inszenierung in Hannover und Anne Webers Roman "August" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 20.04.2011

Arte hat aus aktuellem und traurigem Anlass die Episode mit Ai Weiwei und dem belgischen Künstler Wim Delvoye aus der Reihe "Durch die Nacht" in der Arte-Mediathek online gestellt:



Die EU-Kommission möchte, dass Deutschland die Kommunikationsdaten seiner Bürger speichert, berichtet Christian Stöcker bei Spiegel Online. Obwohl die zugrunde liegende EU-Richtlinie derartig schwammig ist, dass sie nachgebessert werden muss. Bei Zeit Online meint dazu Kai Biermann: "Insgesamt belegt der Bericht, dass die EU eine transnationale Richtlinie verabschiedet hat, die sämtliche EU-Bürger zu Verdächtigen macht - ohne festzulegen, wer diese Daten sehen darf und wie sie gespeichert und übertragen werden müssen. Das darf man angesichts der Schwere des Eingriffs in Bürgerrechte getrost grob fahrlässig nennen. Nun auch noch zu fordern, wie Cecilia Malmström es gerade tat, das Werkzeug solle gefälligst in allen Ländern umgesetzt werden, grenzt an Vorsatz."

TAZ, 20.04.2011

Wenn Revolution, dann richtig, ruft Ilija Trojanow den Ägyptern und Tunesiern zu. Sonst läuft es wie in Osteuropa. "Ein nicht vollzogener Umbruch, eine nicht entmachtete Oligarchie, eine nicht vor Gericht gestellte Geheimpolizei und Allmachtspartei, mit anderen Worten: ein friedlicher, sich an den Gesetzen der faulen Kompromisse orientierender Übergang führt nicht zu wahrer Gerechtigkeit, sondern zu einer Rückkehr der Gestrigen in neuem Gewand. Das hat die Erfahrung der letzten zwei Jahrzehnte in Osteuropa schmerzhaft gezeigt."

Weitere Artikel: Bei einer Protestkundgebung gegen den Abriss von Mehmet Aksoys Versöhnungsdenkmal in Kars wurde der türkische Maler Bedri Baykam niedergestochen, meldet Jürgen Gottschlich, der für die heutige Ausgabe außerdem den 97-jährigen Avedis Demirci besucht hat, den letzten Lebenden, der bei den Aufständischen von Musa Dagh dabei war. Thomas Groh berichtet über das Filmfestival in Istanbul.

Besprochen werden Alexander Mindadzes Film "An einem Samstag" sowie Sönke Neitzels und Harald Welzers Studie "Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 20.04.2011

Tsafrir Cohen, Referent bei medico international, möchte zwar auch nicht aussprechen, dass der Theatermacher Juliano Mer Khamis in Dschenin höchstwahrscheinlich von einem Palästinenser ermordet wurde (ein Verdächtiger wurde festgenommen), aber er muss doch konstatieren: "Von der Außenwelt abgeschnitten, in dichtbevölkerte Enklaven gedrängt und beeinflusst von jahrzehntelanger islamistischer Propaganda aus Saudiarabien, scheinen Teile der palästinensischen Bevölkerung in einen Strudel selbstzerstörerischer und kaum noch zu beherrschender, da atomisierter Gewalt abzudriften."

Weiteres: Roman Bucheli besucht das wiedereröffnete Ernst-Jünger-Haus in Wilflingen. Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen Watteaus in der Royal Academy of Arts, Joachim Radkaus Weltgeschichte der Ökologie und Annette Mingels' Roman "Tontauben" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 20.04.2011

Dass die japanische Atomfirma Tepco über Jahre so undurchsichtig und teilweise grob fahrlässig operieren könnte, ist auch eine Folge eines undurchdrunglichen Bürokratie-Dschungels und mangelnder demokratischer Transparenz in Japan, meint Ian Buruma in einem Project Syndicate-Artikel: "Die trauten Beziehungen zwischen Regierungsvertretern und der Welt der Konzerne zeigte sich an der großen Zahl pensionierter Bürokraten, die im Ruhestand in die Aufsichtsräte diverser Unternehmen einzogen, die sie vorher angeblich reguliert hatten." (So etwas könnte in Deutschland nie passieren, wird Gerhard Schröder da sicher ausrufen!)

Richard Herzinger legt in einem kleinen Feuilletonessay dar, wie der Begriff der "Banalität des Bösen" gegen Hannah Arendts Intention im Zeichen einer linken Kultur- und Modernekritik selbst zu einer Banalisierung der Naziverbrechen führte - einer der ersten, der die Denkfigur so verwandte war Hans-Magnus Enzensberger in einem Essay von 1964: "Hannah Arendt warf ihm daraufhin in einem Brief 'Escapismus' vor, lasse er doch das Spezifische der NS-Verbrechen 'in der Sauce des Allgemeinen untergehen' und so das Besondere deutscher Schuld in einem vagen Allgemeinen aufgehen."

Außerdem im Feuilleton: Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit dem britischen Regisseur Chris Morris, dessen Terrorismuskomödie "Four Lions" (mehr hier) diese Woche anläuft - hier die zugehörige Kritik. Vatikan-Korrespondent Paul Badde will sich in der Leitglosse von Nanni Morettis Film "Habemus Papam" gar nicht provozieren lassen.

Besprochen werden Konzerte eines Soul-Festivals in Lübeck und ein Pariser "Freischütz" in Berlioz' kaum bekannter Bearbeitung unter John Eliot Gardiner.

SZ, 20.04.2011

Thomas Steinfeld kommentiert im Aufmacher die rigorose Abdichtung der EU-Grenzen: "Wie schnell es mit dem Schein von Gemeinschaft vorbei sein kann, lehrt gegenwärtig der Umgang Frankreichs und Deutschlands mit den in Italien an den Strand gespülten Flüchtlingen." In einem Kasten zitiert die SZ (ohne Leistungsschutzgeld zu bezahlen!) aus einem Nouvel-Obs-Interview mit Martin Amis über die britische Königsfamilie. (Wir empfehlen Christopher Hitchens in Slate.) Egbert Tholl porträtiert den Münchner Dirigenten Alexander Liebreich, der in Korea als Leiter des Musikfestivals von Tongyeong zum Superstar wurde. Henning Klüver würdigt die Arbeit einer 2009 von der deutschen und der italienischen Regierung eingesetzten deutsch-italienischen Historikerkommission, die die letzten Kriegsjahre in Italien untersucht. Jörg Häntzschel berichtet über die Insolvenz des Philadelphia Orchestras.

Besprochen werden der Tschernobyl-Film 'An einem Samstag' (mehr hier), Thomas Arzts Stück "Grillenparz" im Wiener Schauspielhaus, eine Werkschau des Renaissance-Malers Joos van Cleve in Aachen und Bücher, darunter Tino Hanekamps Romandebüt "So was von da" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 20.04.2011

Im Aufmacher des Feuilletons stellt Hanno Rauterberg zum Siegerentwurf von Milla/Waltz für das Einheitsdenkmal fest: Diese Riesenschale einer Eventagentur braucht kein Mensch. Anita Blasberg reist mit Christoph Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz nach Burkina Faso, um die Fortschritte des Operndorfs zu inspizieren. Thomas Assheuer beweist, dass Technik von Menschen gemacht ist und nicht Ergebnis einer natürlichen Evolution.

Im Literaturteil liest Ursula März zwei Werke der gehobenen Suchtliteratur, Gregor Hens' "Nikotin" und Peter Richters "Über das Trinken", und fragt angesichts zunehmender Enthaltsamkeit: "Liegt in der Vorstellung einer Gesellschaft, die sich den individuellen und sozialen Innendruck beständiger Verzichtsdisziplin zumutet, nicht etwas ausgesprochen Bedrohliches?" Außerdem besprochen werden die Salzburger Inszenierung der "Salome" von Stefan Herheim und Simon Rattle, Alban Bergs "Wozzeck" in der Berliner Inszenierung von Andrea Breth, Arthur Schnitzlers Komödie "Professor Bernhardi" an der Wiener Burg.

Zu Ostern gibt es außerdem gleich drei Seiten Glauben: "Wie halten wir es heute mit dem Heiland?"

FAZ, 20.04.2011

Auf Wunsch des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan soll Mehmet Aksoys Mahnmal für die ermordeten Armenier in Kars, das türkischen Nationalisten schon lange ein Dorn im Auge ist, abgerissen werden, berichtet Karen Krüger. "Erdogans nachgereichte, offizielle Begründung entspricht der muslimisch-konservativen Linie seiner Partei, der AKP: Das Mahnmal überschatte die Grabstätte des Sufi-Heiligen Hasan Harakani und eine Moschee. 'Es ist undenkbar, dass dieses Ding dort stehenbleibt', sagte der Ministerpräsident." (Mehr dazu hier und hier)

Weitere Artikel: In Syrien haben Demonstranten eine Geheimakte des syrischen Sicherheitsdienstes ins Netz gestellt, die genau beschreibt, wie die Demonstranten diskreditiert werden sollen, meldet Joseph Croitoru. Regina Mönch fasst die schlimmsten Schäden am Weltkulturerbe zusammen, die gerade in einem Bericht veröffentlicht wurden. In Jerusalem wollen die israelischen Behörden die Buchhandlung des in Jerusalem geborenen Palästinensers Munther Fahmi schließen (mehr dazu hier), meldet Hans-Christian Rössler. Jordan Mejias liest amerikanische Zeitschriften zur "Malcolm X"-Biografie Manning Marables (mehr hier). Matthias Grünzig lobt den "erhaltungsorientierten Umbau" der Chemnitzer Plattenbauten.

Besprochen werden Aleksandr Mindadzes Tschernobyl-Film "An einem Samstag", ein Konzert von Noah and the Whale in Köln (deren Videos in Deutschland nicht verfügbar sind, mehr dazu bei meedia), eine Ausstellung mit Fotografien des Malers Cy Twombly im Münchner Museum Brandhorst, Dieter Giesings Inszenierung von Schnitzlers "Professor Bernhardi" am Burgtheater und Bücher, darunter Frank Riegers und Constanze Kurz' Buch "Die Datenfresser" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).