Heute in den Feuilletons

Osama bin Laden died on Walpurgisnacht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.05.2011. "We caught him while he was at home in bed", ruft Anne Applebaum in Slate. Salman Rushdie stellt in The Daily Beast Fragen nach der Rolle Pakistans. Für Bernard-Henri Levy in La regle du jeu ist die Aktion gegen bin Laden auch ein Erfolg des Afghanistan-Kriegs. Spiegel Online klagt: Das war "Gerechtigkeit auf Amerikanisch!" War dies eines Rechtsstaats würdig?, fragt auch Henryk Broder in der Welt. In der taz plädiert Claus Leggewie für Mitbeteiligung von Bürgern, außer vielleicht bei Windrädern.

Weitere Medien, 03.05.2011

Anne Applebaum ist in Slate recht happy darüber, wie es gelaufen ist: "We caught him while he was at home in bed. Apparently the whole operation took 40 minutes, and no Americans were killed. "

Salman Rushdie skizziert in The Daily Beast zunächst das jahreszeitliche Setting des Ereignisses: "Osama bin Laden died on Walpurgisnacht, the night of black sabbaths and bonfires. Not an inappropriate night for the Chief Witch to fall off his broomstick and perish in a fierce firefight." Dann beleuchtet er die Rolle Pakistans: "This extremely large house had neither a telephone nor an Internet connection. And in spite of this we are supposed to believe that Pakistan didn't know he was there, and that the Pakistani intelligence, and/or military, and/or civilian authorities did nothing to facilitate his presence in Abbottabad, while he ran al Qaeda, with couriers coming and going, for five years?"

Wie viele staunt auch Steve Coll auf der Website des New Yorkers über Osama bin Ladens komfortables Versteck: "The city is most notable for housing the Pakistan Military Academy, the Pakistani Army's premier training college, equivalent to West Point. Looking at maps and satellite photos on the Web last night, I saw the wide expanse of the Academy not far from where the million-dollar, heavily secured mansion where bin Laden lived was constructed in 2005."

Für Bernard-Henri Levy in La regle du jeu ist der Einsatz gegen Osama bin Laden auch ein Erfolg des Afghanistan-Kriegs: "Was heißt, dass die antiterroristische Koalition Recht hatte, in Afghanistan zu bleiben, und dass dieser so verschrieene Krieg, den man angeblich schon verloren hatte und in den selben Sack steckte wie den absurden Irak-Krieg, ein notwendiger Krieg war, dessen Früchte der Versöhnung und des Friedens wir heute ernten."

Die Zeitschrift Foreign Affairs stellt einige ältere Artikel über Osama bin Laden online. darunter Bernward Lewis' Artikel "License to Kill: Usama bin Ladin's Declaration of Jihad" von 1998.

Eine ausführliche Zusammenfassung der Ereignisse liefert die NYT. Eine vorzügliche Presseschau hat Max Read für Gawker zusammengestellt.

NZZ, 03.05.2011

Mona Naggar schildert, wie die revolutionären Umbrüche in den arabischen Ländern die großen Schriftsteller und Intellektuellen unter Druck setzen, die wie Adonis, Mahmud Darwish oder Azmi Bishara nie klar Stellung gegen die Autokraten bezogen haben: "Die Öffentlichkeit reagiert sensibler auf Äußerungen, die Diktatoren in Schutz nehmen oder mit verbrämter Rhetorik statt klaren Positionsbezügen aufwarten. Noch bevor sich die Proteste in Ägypten und Tunesien in erfolgreiche Revolutionen wandelten, solidarisierten sich etliche Schriftsteller mit den Aufständischen. Sie marschierten mit zum Tahrir-Platz oder auf der Avenue Bourguiba. Andere versuchten mit Stellungnahmen auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Eine aktive Rolle bei den Geschehnissen jedoch spielten sie nicht."

Mona Sarkis erklärt, wie vor allem die syrischen Schriftsteller ihrem Regime in die Falle gegangen sind: "Auf dem Gebiet der Literatur freilich liegt die Verantwortung für mangelnde Loyalität und Durchsetzungskraft zynischerweise beim Schriftstellerverband. Schärfer als jeder Beamte im Informationsministerium überwacht ausgerechnet dieser die Aktivitäten der Literaturschaffenden im Land."

Weiteres: Joachim Güntner stellt ein Modell der Dresdner Justiz vor, die junge Straftäter nicht mehr Schnee schippen oder Laub harken, sondern ein Buch lesen lässt. Michelle Ziegler berichtet von einem Symposium über "Interpretation und Autorschaft in neuer Musik" in Basel. Besprochen werden die beiden neuen Bücher über das Böse von Terry Eagleton und Eugen Sorg sowie Leonardo Paduras Roman "Der Mann, der die Hunde liebte" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Auf der Medienseite stellt Rainer Stadler eine Reihe neuer Schweizer Internetmagazine vor, die stärker von der "Freude an der Publizistik" angetrieben werden als von der "Hoffnung auf Gewinn": "Die Neulinge heißen Infosperber, Neuland, Journal 21, Medienwoche, Literatur und Kunst, Clack, Finews und Brander."

FR, 03.05.2011

Der chinesische Rockmusiker Zuoxiao Zuzhou erzählt von seiner Freundschaft mit Ai Weiwei. Christian Thomas ist überrascht, dass die Amerikaner kein Bild des toten Bin Laden zeigen. Jürgen Otten feiert das "postmigrantische Theater", weil es, ähm, "provoziert", "Grenzen überschreitet" und "die Sprache der Straße" spricht. Auf der Medienseite beschreibt Bettina Rühl die Schwierigkeiten von Journalisten, aus Failed States wie Somalia, Kongo oder Sudan zu berichten. Daniel Baumann berichtet über die vermutliche Kooperation von Bild.de mit Groupon (mehr dazu bei meedia).

Besprochen werden Keith Warners Inszenierung von Ildebrando Pizzettis Oper "Murder in the Cathedral" in Frankfurt und Choreografien bei den Wiesbadener Maifestspielen.

Spiegel Online, 03.05.2011

Das war "Gerechtigkeit auf Amerikanisch"! Die Liquidierung Osama bin Ladens - wenn er es denn war - war eines Rechtsstaat unwürdig, findet Thomas Darnstädt in einem beeindruckenden, besorgten Leitartikel. "Was hatte Amerika überhaupt auf dem Territorium einer fremden Macht, also in Pakistan, zu suchen? Ein militärischer Übergriff über die Grenzen, soweit er nicht nur Selbstverteidigung geschieht, wird allgemein als Souveränitätsverletzung gesehen - es sei denn, Pakistans Regierung hätte die USA zu Hilfe gerufen."
Stichwörter: Rechtsstaat, USA, Laden, Osama Bin

Welt, 03.05.2011

Die Liquidierung Osama bin Ladens - wenn er es denn war - war eines Rechtsstaats unwürdig, findet Henryk M. Broder in einem beeindruckenden, besorgten Leitartikel: "Auch in den USA gilt die Regel, dass jeder Verdächtige bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig zu gelten habe. Über Schuld oder Unschuld kann nur ein ordentliches Gericht entscheiden. Osama Bin Laden freilich wurde ein 'kurzer Prozess' gemacht. Er bekam nicht einmal die Gelegenheit, sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, kein rechtliches Gehör, keinen Anwalt."

Fast nur noch zweitrangig findet Hamed Abdel-Samad die späte Tötung des Terrorführers Osama bin Laden: "Es waren nicht nur die US-Elitesoldaten, die Bin Laden endgültig ausgeschaltet haben, sondern lange davor die arabischen Revolutionen. Jetzt kann Bin Laden für immer in der Meerestiefe ruhen oder in der Hölle schmoren, denn die arabische Bevölkerung braucht keinen Mörder mehr, der in ihrem Namen spricht oder sie zum Aufstand anstiftet."

Für die reinste Mogelpackung hält Stefan Koldehoff die Max-Liebermann-Schau in der Bonner Bundeskunsthalle: "Zahlreiche Hauptwerke fehlen, stattdessen hängt viel Mittelmaß an den Wänden: nicht-museale Bilder aus Privatbesitz, ephemere Studien, Kunsthandelsware, deren Leihgeber in mehreren Fällen tatsächlich als Auktionshäuser und Galerien ausgezeichnet sind. Erinnerungen an die skandalöse Bonner Modigliani-Ausstellung vor zwei Jahren werden wach, bei der es an mehreren der ausgestellten Gemälde begründete Zweifel gab. Eines von ihnen wurde eine Woche nach Eröffnung per Kleinanzeige zum Verkauf angeboten."

Weiteres: Kai Luehrs-Kaiser fürchtet nach dem Berliner "Wagner-Concil" Schlimmstes für die geplante Bayreuther Tannhäuser-Inszenierung. Hanns-Georg Rodek berichtet, wie sich Scientology jetzt mit dem Kauf des Filmstudios KCET auf Hollywoods Sunset Boulevard breit macht. Thomas Lindemann unterhält sich mit dem Pianisten Francesco Tristano.

TAZ, 03.05.2011

Claus Leggewie erklärt im Interview, wie er sich einen neuen Gesellschaftsvertrag vorstellt, der die Umstellung der Energieversorgung komplett auf umweltfreundliche Quellen vorsieht: Der Bürger soll vorab in die Diskussion einbezogen werden, zum Beispiel Windräder im Schwarzwald aufzustellen. Nach der Diskussion muss er sich aber fügen. "Wenn lange gut debattiert worden ist, darf die Polizei auch den Schlagstock benutzen?", fragt Hannes Koch. "Was für eine erpresserische Frage! Aber sicher: In letzter Konsequenz kann der Staat sein Gewaltmonopol durchsetzen, zumal wenn die Bürger stärker in die Entscheidungen einbezogen worden sind."

Weitere Artikel: Micha Brumlik erzählt, warum man in einem Kibbuz am Rand der Karmelberge ein Museum für ostasiatische Kunst findet. Reinhard Wolf erzählt, wie in Schweden die Filmzensur abgeschafft wurde, die Zensur aber munter weiterblüht.

Besprochen wird Rainer Balcerowiaks "Das demokratische Weinbuch", dass sich auch weinähnlichen Getränken widmet: "Die TSAC OHG aus Essen bietet eine auf Flasche gezogene Mixtur aus Dornfelder und Cola namens 'Kalte Muschi' an", lernt man in der Besprechung von Dago Langhans.

Der vordere Teil ist Osama bin Laden gewidmet. Dazu zwei Kommentare: Ingo Arend glaubt, Osama werde jetzt endgültig zur mythischen Figur. Christian Semler hält das für unwahrscheinlich: "Der Grund hierfür liegt in der Initiative und der Kraft der demokratischen Bewegungen, die heute die Herrschaft der Autokraten in der arabischen Welt bedrohen." Auf der Meinungsseite erklärt Bahman Nirumand die Verflechtungen und Interessen des Iran im Nahen Osten.

Und Tom.

SZ, 03.05.2011

Ina Hartwig beobachtet einen neidvollen Literatenblick in den Nachbarsgarten, den sie etwa in Michel Houellebecqs Roman "Karte und Gebiet" oder in Silke Scheuermanns "Schanghai Performance" verortet: "Die Tatsache, dass auf dem überhitzten zeitgenössischen Kunstmarkt unendlich viel mehr Geld im Spiel ist als in der Literatur, zieht das Thema gewissermaßen hinüber ins andere Fach: Nicht der innerliterarische Dialog wird als Motor angeworfen, sondern die Auseinandersetzung mit der anderen, der finanzstarken Kunstform. Die Reichen und Mächtigen, das sind die bildenden Künstler und deren Galeristen, nicht die Literaten."

Weitere Artikel: Noch zirkulieren zwar keine Bilder des getöteten Osama, aber Bernd Graff dreht ihm schon mal das kulturhistorische Löckchen auf der Glatze, indem er erklärt, "warum selbst Hochzivilisationen noch den Drang kennen, die Bilder ihrer toten Erzfeinde zu zeigen und zu verbreiten." Johan Schloemann liefert dazu die Kritik der Rede, in der Obama das große Ereignis verkündete. Alex Rühle begrüßt den neuen Duden online (nun müsste nur noch die SZ ins Netz gehen!) Thomas Steinfeld gratuliert dem Germanisten und Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Dieter Borchmeyer, zum Siebzigsten. Kristina Maidt-Zinke erinnert an die Urmutter der Alten-Musik-Bewegung, die Cembalistin Wanda Landowska, der im Eisenacher Bachhaus eine Ausstellung gewidmet ist.

Besprochen werden Elfriede Jelineks "Winterreise" in Karlsruhe, die Ausstellung "Heroinen" in der Stiftung Thyssen-Bornemisza in Madrid, eine von Stefan Hantel (alias Shantel) herausgebrachte CD mit Swing- und Popnummern, die einst von der jüdischen Mafia in den USA in Umlauf gebracht wurden, ein neues Spektakel der britisch-deutschen Performance-Gruppe Gob Squad im Berliner HAU und Bücher, darunter eine Biografie des Staatskundlers Friedrich Christoph Dahlmann.

FAZ, 03.05.2011

Auf dem Weg zum von seinen Anhängern verehrten Märtyrer sieht Joseph Croitoru angesichts seiner Todesumstände Osama Bin Laden: "Ob Bin Ladin, wie er es seinen Selbstmordterroristen stets nahelegte, in der für ihn ausweglosen Situation das Kapitulationsangebot der Angreifer tatsächlich ausgeschlagen und sich so willentlich für den Helden- oder gar den Freitod entschieden hat, wird man wohl nie erfahren. Reichlich Stoff für einen vermutlich bereits im Entstehen begriffenen Dschihadisten-Mythos ist damit allemal gegeben." Über recht zurückhaltende Reaktionen auf die Todesnachricht in New York berichtet Jordan Mejias. Zu den Folgen befragt wird Thomas Lehr, Autor des 9/11-Romans "September. Fata Morgana".

Mit Blick nicht zuletzt auf seine eigene Sozialisation in der Diktatur DDR protestiert der Maler Norbert Bisky dagegen, im Umgang mit China nach der Verhaftung Ai Weiweis zur Tagesordnung überzugehen: "Es hat in den letzten Tagen viele Kommentare zur westlichen Betroffenheit und zur scheinbaren Hilflosigkeit üblicher Protestnoten gegeben, und natürlich werden diese Zeilen nicht das Pekinger ZK aus den Sesseln fegen: Aber wie zynisch wäre es, über alles hinwegzusehen und mit routinierter Selbstverständlichkeit zur nächsten Shanghai Art Fair zu pilgern?"

Weitere Artikel: Die Schwierigkeiten bei der Wiederinbetriebnahme der Kaiser-Wilhelm-Brücke zwischen Remscheid und Solingen glossiert Andreas Rossmann. Den peinlichen Fall des Denis Avey, der einmal auf eigene Faust ins KZ Auschwitz gelangt sein wollte - das aber wohl einfach erfunden hat -, kommentiert Lorenz Jäger. Abgedruckt wird Heribert Prantls Laudation auf Oskar Negt zur Verleihung des August-Bebel-Preises. 

Besprochen werden eine Frankfurter Aufführung von Ildebrando Pizzettis Oper "Murder in the Cathedral", Inszenierung des "Macbeth" und des Shakespeare in Teilen (oder Spurenelementen) zugeschriebenen Stücks "Cardenio" in Stratford-upon-Avon, und Bücher, darunter Klaus Modicks Feuchtwanger-Roman "Sunset" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).