Heute in den Feuilletons

Die Klänge sterben jedes Mal anders

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.05.2011. Die taz unterhält sich mit Irena Grudzinska-Gross und Jan Tomasz Gross über das Verhalten der Polen im Holocaust. In der FR mag Germanist Manfred Schneider den Krieg gegen den Terrorismus nur als Krieg der Bilder sehen. Die SZ-Redakteure möchten, dass die Zeitung keine Artikel mehr kostenlos online stellt. Die Zeit staunt sehr: Otto Sander wird siebzig. In der Jungle World spricht Pierre Boulez über seine Methode. Und die FAZ fragt: Warum soll man die Pekinger Aufklärungsaustellung schließen? Es geht ja sowieso keiner hin.

TAZ, 05.05.2011

Irena Grudzinska-Gross und Jan T. Gross, Autoren des Buchs "Goldene Ernte" über Polen im Holocaust wehren sich im Gespräch mit Gabriele Lesser zwar gegen den Vorwurf der Pauschalisierung, halten aber an einigen unschönen Wahrheiten fest: "Es war .. eher die Regel denn die Ausnahme, dass Polen Juden an die Deutschen verrieten oder sogar auslieferten, statt sie zu schützen. Anders als dies im polnischen Bewusstsein verankert ist, war der Verrat an Juden eben nicht die Domäne des Pöbels oder einer gesellschaftlichen Randgruppe, sondern zählte zum üblichen Verhalten. Nur so ist auch zu erklären, dass Polen, die Juden retteten, dies auch vor anderen Polen geheim halten mussten, während Polen, die Juden an die Deutschen auslieferten, damit öffentlich hausieren gingen."

Weitere Artikel: Kirsten Rießelmann trifft in den USA den ehemaligen journalistischen Fälscher Tom Kummer, der sich inzwischen als Tennislehrer verdingt hat. Sven von Reden unterhält sich mit dem äthiopischen Regisseur Haile Gerima über seinen Film "Morgentau", der sich auch kritisch mit der eigenen linken Geschichte auseinandersetzt: "Leider war der Sozialismus mit einem menschlichen Gesicht nicht in der Lage, über das faschistoide Gesicht des Sozialismus zu triumphieren."

Besprochen werden eine Ausstellung des Künstlers Richard Long im Hamburger Bahnhof in Berlin, Marleen Gorris' Film "Mitten im Sturm" (mehr hier), drei Filme von Thomas Arslan auf DVD und Ereignisse des Donaufestivals in Krems.

Und Tom.

Jungle World, 05.05.2011

Felix Klopotek besucht Pierre Boulez in seinem Büro im Ircam - "Kann es wirklich sein, dass jemand seine Grammys schlichtweg als Regalstützen verwendet?" - und spricht mit ihm über die Musik des 20. Jahrhunderts. Die eigene natürlich inbegriffen. Gibt es eine generelle Methode, die in allen Stücken steckt? Dazu Boulez: "Die Methode hängt von jedem Stück selbst ab. 'Eclat/Multiples' geht von einem Klang aus, die klanglichen Besonderheiten, die sich ergeben, wenn man bestimmte Resonanzinstrumente anschlägt - also ein Klavier oder ein Glockenspiel. Mich interessiert in diesem Stück, was die Zeit mit Klängen macht, wie die Klänge nach einer gewissen Dauer sterben. Diese Klangentwicklung wollte und konnte ich auch nicht in einem Taktschema fixieren. Die Ansage für den Dirigenten ist: Warten Sie, bis ein Klang gestorben ist. Aber die Klänge sterben jedes Mal anders, das hängt vom Raum ab, vom Anschlag."

Was wollen die Demonstranten in Syrien, die Kopf und Kragen riskieren, konkret? Darauf antwortet ein syrischer Aktivist im Interview: "Sie wollen Freiheit und Gleichheit. Sie wollen Demokratie. Dieser Staat ist durch und durch korrupt und ein Unrechtsstaat. Wir haben mindestens 13 Geheimdienste. Jeder Mitarbeiter des Geheimdienstes kann dich aus einem nichtigen Grund mitten auf der Straße, zu Hause, einfach überall, beleidigen, schlagen, mitnehmen. Und du kannst nichts dagegen machen. Es gibt keine Menschenwürde in diesen Staat."

NZZ, 05.05.2011

Barbara Spengler-Axiopoulos erinnert an das Schicksal der 28.000 griechischen Partisanenkinder, die während des Bürgerkriegs 1948 von der KP in sozialistische Länder verfrachtet wurden und dort dreißig Jahre lang bleiben mussten.

Besprochen werden die choreografische Oper "Matsukaze" von Toshio Hosokawa und Sasha Waltz in Brüssel, Dany Boons italienische Ch'tis-Version "Benvenuti al Sud", Regis Sauders Dokumentation über Jugendliche in der Banlieue "Nous, princesses de Cleves", Florian Klenks Reportagen "Früher war hier das Ende der Welt" und Volkmar Siguschs Studie "Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 05.05.2011

USA, Al Qaida - wo ist da der Unterschied? Gänzlich unbeeindruckt von der Tatsache, dass die amerikanische Regierung das Bild des toten Bin Laden nicht gezeigt hat, sieht der Germanist Manfred Schneider Politik und Terrorismus sich in einem Krieg der Bilder angleichen: "Die vermeintliche Schlüsselfigur des 11. September 2001 war längst zu einer Ikone geworden, zu einem politischen Zeichen und entfaltete als Symbol und Bild mehr imaginäre Kräfte, als es konkrete politische oder militärische Machtmittel vermöchten. Auch hier zeigt sich die Spiegelbeziehung zwischen der Weltmacht und ihren terroristischen Feinden. Ihr Konflikt spielt vor allem im visuellen Raum, er ist ein Krieg der Bilder und der wechselseitigen Überwältigung durch den Augenschein dessen, was sich auf Bildschirmen zeigt."

Besprochen werden die Marbacher Ausstellung "Schicksal", Miklos Gimes' Porträtfilm "Bad Boy Kummer", Marlen Gorris' Film "Mitten im Sturm" und Bücher, darunter Alfred Gottwaldts Studie über "Die Reichsbahn und die Juden 1933 - 1939" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 05.05.2011

In der Jüdischen Allgemeinen erklärt der amerikanische Jurist Alan Dershowitz, warum gezielte Tötungen durchaus legitim sein können, selbst wenn sie von den USA oder Israel ausgeführt werden: "Die Kommandoaktion der Navy Seals war eher darauf ausgerichtet, bin Laden zu eliminieren, als ihn festzunehmen. Wäre der Beschuss mit Raketen militärisch sinnvoller gewesen, hätte man sich bestimmt für diese Option entschieden. Dieses Mittel wählten zum Beispiel jüngst die NATO-Streitkräfte in Libyen, um den Wohnsitz von Diktator Muammar al-Gaddafi anzugreifen. Tatsächlich wurde der Tod bin Ladens einer Gefangennahme und einem möglichen Prozess letztendlich vorgezogen. So sollte verhindert werden, dass Al Qaida Geiseln nimmt und versucht, sie gegen den Terrorpaten auszutauschen."

Und angesichts der Vorfälle bei der Duisburger Linkspartei erklärt der Autor Tilman Tarach worin sich Linke und Antisemiten einig sind: in der Ablehnung des Individualismus. (Mehr zu den antisemtischen Ausfällen der Linkspartei in Duisburg bei den Ruhrabonen.)

Die New York Times erzählt die Geschichte der zwölf Bronzefiguren des chinesischen Tierkreiszeichens, eine Skulpturengruppe von Ai Weiwei, die seit drei Tagen in New York präsentiert wird, mehr auch im Readwriteweb.


Welt, 05.05.2011

Schon wieder ein Artikel zum 11. September. Heute erinnert sich Herfried Münkler, wie er an diesem einen Tag zum Oberexperten für asymmetrische Kriege avancierte. Der Architekt Hans Kollhoff zeigt anhand verschiedener Beispiele, wie man den Kudamm aufhübschen könnte und mit wenigen Eingriffen die schlimmsten Bausünden beheben könnte. Im Interview mit Peter Beddies erklärt Wes Craven, was denn nun das Neue an seiner vierten "Scream"-Folge sei: Gags zu Twitter und Facebook, "die wer mag als Konsumkritik verstehen kann". Ulrich Weinzierl begrüßt die Ernennung von Markus Hinterhäuser und Shermin Langhoff zur Wiener Festwochenintendanz ab 2014.

Besprochen werden Fabienne Berthauds Film "Barfuß auf Nacktschnecken" und die von Sasha Waltz choreografierte Oper "Matsukaze" von Toshio Hosokawa in Brüssel.

Zeit, 05.05.2011

Otto Sander wird siebzig. Moritz von Uslar hat ihn zu einem Drehtag begleitet und ist verblüfft: "Dastehen, Hände in den Manteltaschen. Das Auto verspätet sich zwei Minuten. Er raucht erst mal eine. Es liegt in der Art, wie er dasteht und die Zigarette hält, eine tolle Ruhe, Konzentration, Gefasstheit. Da hat man gleich Lust, noch ein bisschen genauer hinzugucken. Und den Betrachter durchfährt es: Wie man von Menschen, die einfach nur dastehen, schon gequält war, weil es ein absichtsvolles, bedeutungsheischendes Dastehen war! Er macht es anders. Er steht einfach nur da. Dastehen, denkt der Mensch, Otto Sander betrachtend, kann nicht jeder."

Weitere Artikel: Thomas Assheuer sieht Osama bin Laden als Produkt der Moderne, vielleicht aber auch ihrer Dialektik: "Er war modern, weil seine Botschaften sich komplementär verhielten zum Kernbestand der westlichen Überzeugungen." Der Philosoph Kenichi Mishima beschreibt die Lage in Japan und erklärt die atomfreundliche Stimmung so: "Große Zeitungen und Fernsehstationen sind inzwischen von den Einnahmen aus den Reklamekosten der Stromfirmen abhängig." In einem Kommentar zeigt sich Adam Soboczynski betroffen über die Gewalt in U-Bahnhöfen - und dann kann man sie auch noch auf Youtube sehen! Peter Kümmel erkennt in dem royal-missmutigen Blumenmädchen Grace die geborene Theaterkritikerin. Katja Nicodemus erzählt, wie sich Hongkongs Filmindustrie auf den chinesischen Markt stürzt, nachdem andere Märkte zusammengebrochen sind. Tobias Timm erkundet die neue Machtfigur des Kurators.

Besprochen werden Wes Cravens vierte "Scream"-Version und Bücher, darunter Abbas Khiders Roman "Die Orangen des Präsidenten" und Oliver Hilmes' Liszt-Biografie (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 05.05.2011

In China sind die Interessenlagen zwischen den verschiedenen Machtfraktionen in Politik und Kommunistischer Partei, betont Mark Siemons, komplett unübersichtlich. Damit, dass der Weiterbetrieb oder die Schließung der ohnehin "phänomenal unbekannten" Ausstellung zur "Kunst der Aufklärung" irgend etwas bewirkten, sei jedenfalls kaum zu rechnen: "Wenn man auch nicht mehr glaubt, die chinesische Bevölkerung durch sie der Aufklärung entgegenführen zu können, meint man nunmehr, mit der Drohung ihrer Schließung ein symbolisches Pfund zu haben, mit dem man wuchern könnte. Die eine Vermutung ist so verfehlt wie die andere. Nichts deutet darauf hin, dass der Ausstellung zurzeit ein propagandistischer Nutzen zugesprochen würde, der durch die Schließung geschmälert werden könnte."

Weitere Artikel: Von einer "Hamburger Begegnung", bei der Schriftsteller über den Realismus in der Literatur diskutierten, berichtet Sandra Kegel. In Großbritannien wird über eine Modifikation des Wahlrechts abgestimmt; Maximilian Steinbeis erklärt, warum unter den neuen Regelungen Polarisierer schlechtere Karten haben. Jürg Altwegg schildert, wie die rechtspopulistische französische Zeitschrift Medias gegen die vermeintliche Dominanz der Schoah im politischen Diskurs und gegen die Debattenhoheit "kultureller Minderheiten" zu Felde zieht. Patrick Bahners missfallen die Argumente, mit denen sich gestern die "Das Amt"-Historiker gegen die Kritik Johannes Hürters verteidigt haben: Wer selbst Arbeitsteilung betreibt, muss auch eine Arbeitsteilung der Kritik zulassen.

Das alte Suhrkamp-Haus in der Frankfurter Lindenstraße wird abgerissen: Felicitas von Lovenberg nimmt Abschied. Russische Diskussionen über den richtigen Dresscode für den Kirchgang glossiert Kerstin Holm. Auf der Kinoseite blickt Stefan Grissemann voraus auf die William-E-Jones-Retrospektive bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen. Andreas Platthaus zieht die Bilanz des diesjährigen "Nippon Connection"-Festivals. Über ein Berliner Symposion zum Werk Ingmar Bergmans informiert Bert Rebhandl.

Besprochen werden Daniel Barenboims hoch politisches Konzert mit europäischen Musikern in Gaza, Sasha Waltz' Inszenierung von Toshio Hosokawas Oper "Matsukaze" in Brüssel, die Filipa-Cesar-Ausstellung "The Embassy" im Berliner Haus der Kulturen der Welt, das neue Fleet-Foxes-Album "Helplessness Blues", Marleen Gorris' Historienfilm "Mitten im Sturm" und Bücher, darunter der erste, Marie Marcks gewidmete von vierzig geplanten Bänden einer Bibliothek "Meister der komischen Kunst" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 05.05.2011

Auf der Medienseite erklärt Detlef Esslinger, warum in der heutigen SZ Schmalhans Küchenmeister ist: Der Großteil der Redakteure streikt für einen besseren Tarifvertrag. Esslinger selbst stellt Fragen an die Herren Verleger: "Warum haben sie sich die Immobilienanzeigen wegnehmen lassen, anstatt selber rechtzeitig Online-Portale dafür zu gründen? Warum verschenken sie immer noch die Texte ihrer Journalisten auf den Online-Portalen ihrer Blätter, anstatt endlich Geld von Menschen zu kassieren, die sich lieber dort als in der Zeitung über das Ende von Osama bin Laden informieren?" Na, gut dass die SZ wenigstens diesen Artikel online gestellt hat.