Heute in den Feuilletons

Mutierende Mikroben, explodierende Sonnen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.05.2011. Die NZZ fährt begeistert Rolltreppe im neuen Antwerpener Museum aan de Stroom von Neutelings & Riedijk. In der taz erklärt die chinesische Schriftstellerin Zhang Yihe: Wenn wir Ai Weiwei verteidigen, verteidigen wir auch uns. Die SZ lernt: Der Dirigent Fritz Busch wurde nicht von NS-Parteibonzen vertrieben, sondern von den lieben Künstlerkollegen. In Cannes sind FAZ und SZ ergriffen von Terrence Malicks "Tree of Life", FR und Welt gähnen, die taz musste draußen bleiben.

FR, 17.05.2011

Terence Malicks überladener neuer Film "The Tree of Life" wurde in Cannes ausgebuht, erzählt Daniel Kothenschulte, der dafür Verständnis hat: "Malicks Erhabenheitsmaschine kennt alles - außer Stockhausen. Im tragisch scheiternden Versuch, den Prolog von Kubricks '2001' an Bildgewalt zu übertreffen, ersetzt er buchstäblich Affen durch Dinosaurier ('Wir haben schon darüber gesprochen, ob sie nötig sind', erklärte in Cannes schicksalsergeben einer seiner Produzenten)." Ganz anders dagegen die Filme der Brüder Dardenne ("Le Gamin au Velo") und Kim Ki-Duks, der in "Arirang" seine Depression während einer Schaffenskrise in den Mittelpunkt stellt: "Seine Bilder haben das, was den meisten anderen in Cannes bisher fehlte: eine innere Notwendigkeit, einen sichtbaren Grund, das es sie gibt."

Weitere Artikel: Christian Schlüter bewundert bei einer Frankfurter Diskussion mit Joschka Fischer, Stephane Hessel und Daniel Cohn-Bendit über "Realpolitik gestern - heute - morgen" die Wachheit, die Klarheit, die "vornehme Zurückhaltung, ja Höflichkeit" Hessels. Christian Thomas erzählt, wie es am Wochenende bei den Meisterschaftsfeierlichkeiten in Dortmund zuging.

Besprochen werden Patrick Kinmoths Inszenierung von Camille Saint-Saens' Oper "Samson und Dalila" an der Deutschen Oper Berlin, die Uraufführung von Jörn Arneckes Oper "Kryos" in Bremen, Simon Stephens' Stück "Wastwater" bei den Wiener Festwochen und Fritz Reheis' Buch "Wo Marx Recht hat" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 17.05.2011

Roman Hollenstein erzählt vom Antwerpener Architekturwunder, bei dem das abgetakelte Schelde-Ufer in ein modernes Wohn- und Kulturviertel verwandelte. Am liebsten mochte er Rolltreppefahren im neuen Museum aan de Stroom von Neutelings & Riedijk: "Mit dem als MAS-Boulevard bezeichneten Aufstieg, der ebenso wie das Restaurant und die Dachterrasse frei zugänglich ist, haben Neutelings & Riedijk die Idee einer Auffahrt in die Stadtlandschaft, wie sie beim Centre Pompidou erprobt wurde, in eine neue Dimension gesteigert."


Auf der Medienseite berichtet Sayed Yaqub Ibrahimi von den Arbeitsbedingungen für Journalisten in Afghanistan: "Ich kann keine Verbesserungen feststellen, denn nach wie vor kontrollieren drei Gruppen den Informationsfluss: Warlords, die für zahllose Kriegsverbrechen verantwortlich sind; die im Westen ausgebildeten korrupten Technokraten; und die dritte Gruppe besteht aus den fundamentalistischen Islamisten."

Besprochen werden eine Inszenierung von Schönbergs "Moses und Aron" im Opernhaus Zürich, Shakespeares "Othello" in der Salzburger Version von Peter Sellars und Toni Morrison, die Londoner Aufführung von Jon Fosses Stück "I Am the Wind", das Leo Tuors Roman "Settembrini" und Yanick Lahens' Haiti-Journal "Und plötzlich tut sich der Boden auf" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 17.05.2011

Die chinesische Schriftstellerin Zhang Yihe war aktive Kulturrevolutionärin, saß dafür zehn Jahre lang im Gefängnis und stellt sich nun hinter Ai Weiwei: "Ich hatte plötzlich das Gefühl: 'Jetzt fängt es wieder an' ... Deshalb bin ich so alarmiert, und deshalb glaube ich, dass sich die Intellektuellen und vor allem die Künstler hinter Ai Weiwei stellen müssen. Wir müssen ihn verteidigen, auch zu unserem eigenen Schutz. Es geht nicht nur um ihn allein. Viele Leute sind betroffen, Aktions-, Konzept- und Avantgardekünstler im ganzen Land stehen unter Druck. Niemand ist sicher, das ist das Schockierende."

Julia Große berichtet von den Sorgen britischer Eltern, deren Kinder süchtig nach der BBC-Sendung "Rastamouse" geworden sind: Die Maus ist cool, spricht aber üblen Slang: "Rastamouse sagt 'Me wan go!' ('I want to go!'), 'Irie!' ('Happy!'), 'Wagwan' ('What's going on?')."

Weiteres: Diedrich Diederichsen hat sich Pepe Danquarts Dokumentarfilm "Joschka und Herr Fischer" angesehen, den darin Porträtierten aber kaum wiedererkannt: "Zu allem anderen ist er gedrängt worden, nie war er es, der etwas wollte." Cristina Nord durfte mit ihrer Akkreditierung in Cannes leider nicht in Terrence Malicks "The Tree of Life". Besprochen werden Soeren Voimas Stück "Ursprung der Welt" in Hannover und Sandra Trostels Film "Utopia Ltd."

Und Tom.

Weitere Medien, 17.05.2011

(via Bookslut) Im Wall Street Journal erklärt die amerikanische Bestsellerautorin Danielle Steele, warum sie mit 63 Jahren nach Paris gezogen ist: "The French don't really exercise and I'm originally French. I used to ride horses and ice skate as a child, but I would rather die than exercise today. I smoke, I drink and while I have a trainer, I avoid her by all means necessary. People in California always want to know about your workout program; I don't really know what to tell them."

Karl Lagerfeld plaudert mit Bruce LaBruce in einem Interview für txtpost über Champagnersozialisten, Aids, Beth Dito und den Voyeurismus Andy Warhols: "It was something new then. What he did could be considered porn, but it’s art now, because the world thinks it’s erotic art. I don’t know where the borderline between pornography and erotic art is. Look at the attributes; you have to be very intellectual to see any borderline there. You know, I was in a Warhol movie. It was called L’Amour. I knew him and I knew all the people around him. It was a trendy, funny thing to do then."

Und in Vanity Fair erzählt der krebskranke Christopher Hitchens, dass er seine Stimme verloren hat: "To my writing classes I used later to open by saying that anybody who could talk could also write. Having cheered them up with this easy-to-grasp ladder, I then replaced it with a huge and loathsome snake: 'How many people in this class, would you say, can talk? I mean really talk?' That had its duly woeful effect."

Welt, 17.05.2011

Erstaunlich, wie unterschiedliche Bilder man aus Terrence Malicks "Tree of Life" mitnehmen kann. Bei Hanns-Georg Rodek, der nicht ganz so ergriffen wirkt wie manche seiner Kollegen in Cannes, ist es dieses: "Dann liegt ein geschwächter Saurier im Bachbett, ein Artgenosse trabt heran, setzt ihm den Fuß auf den Kopf - und verschont ihn. Nicht die Natur hat gesiegt, sondern die Gnade."

China-Korrespondent Johnny Erling war dabei, als Lu Qing, die Frau von Ai Weiwei, zur Presse sprach. Endlich hatte sie Ai an einem unbekannten Ort besuchen dürfen: "Ai Weiwei habe zwar weder über die Haftbedingungen noch die Verhöre Auskunft geben dürfen, aber er sagte, nicht gefoltert oder geschlagen worden zu sein. Der Künstler habe gesund und unverändert ausgesehen. Doch als das Treffen nach etwa zehn Minuten endete, habe sie noch immer 'nicht gewusst, worum es in seinem Fall geht, wo er inhaftiert ist. Er wiederum weiß nichts davon, was draußen passiert.'"

Weitere Artikel: Mara Delius versucht, sich Dominique Strauss-Kahn in der Leitglosse als sexbesessene alte Frau vorzustellen, schafft es aber nicht. Während sich Richard Herzinger im politischen Teil über den eigentümlichen Widerspruch von sexueller Freiheit und neuer Prüderie in unserer Gesellschaft Gedanken macht. Britta Nagel unterhält sich mit dem Architekten Christoph Ingenhoven, dessen Entwurf für Stattgart 21 nun möglicherweise nicht verwirklicht wird - nun darf er aber zum Trost für Google in Kalifornien bauen.

Besprochen werden eine Ausstellung über Ludwig II. in Herrenchiemsee und neue englische und amerikanische Stücke bei den Wiener Festwochen.

Aus den Blogs, 17.05.2011

In Slate fragt sich Anne Applebaum, warum so viele kluge und vernünftige Menschen im Fall Dominique Strauss-Kahn an eine Verschwörung glauben: "When I first heard that Dominique Strauss-Kahn was alleged to have emerged naked from a New York hotel bathroom, sexually assaulted a chambermaid, run out of the hotel, and been arrested while boarding the next plane to Paris, my first thought was: Sarkozy must be behind this. I know I am not alone in this thought, because several people emailed me the same idea-and only half in jest. Nicolas Sarkozy, the president of France, is so wacky, so unpredictable, so far behind in the opinion polls, and so desperate to be re-elected that he would do anything to reverse his fortunes... Since his election, Sarkozy has evolved from erratic to eccentric."

SZ, 17.05.2011

Die Dresdner Oper zeigt eine Ausstellung über den Dirigenten Fritz Busch, der bei den örtlichen Nazis unbeliebt war, weil er weiter mit jüdischen Kollegen arbeiten wollte. Hannes Heer hat die Ausstellung kuratiert, schreibt Christiane Kohl. Und er zeigt deutlich, dass die Demontage Buschs nicht von oben, sondern von den Kollegen selbst betrieben wurde: "Die schnelle Absetzung war nur möglich, weil es in Dresden längst eine 'Theaterfachgruppe der NSDAP' gab. 1933 gehörten ihr 275 Musiker und Schauspieler an, auch in der sächsischen Staatskapelle gab es viele NS-Anhänger."

Überwältigt ist Tobias Kniebe in seiner Cannes-Kolumne von Terrence Malicks Film "Tree of Life", der einerseits eine Familiengeschichte erzählt, und "dann, als wechsle hier eine Symphonie in die Subdominante, fluten auf einmal Farben die Leinwand und Choräle den Saal, Formen leuchten auf und verglühen, fließen zusammen und wieder auseinander, entstehen und vergehen. Unmöglich zu sagen, was das alles sein könnte, mutierende Mikroben, explodierende Sonnen."

Weitere Artikel: Laura Weißmüller begutachtet die Hutzelhäuschen der künftigen neualten Frankfurter Altstadt, deren Entwürfe in einer Ausstellung in der Paulskirche gezeigt werden. Alex Rühle freut sich: "Endlich: Die beste deutsche Indie-Band The Notwist und die Hip-Hop-Crew Themselves sind wieder "13 & God". Thomas Kirchner berichtet über eine Zürcher Volksabstimmung, die nun schon den Kindergartenkindern den hochdeutschen Akzent vorenthalten will - nur noch Schwyzerdeutsch soll gesprochen werden. Volker Breidecker flaniert über die Turiner Buchmesse. Johan Schloemann schreibt über die Rückgabe der bisher in Berlin ausgestellten "Sphinx von Hattusa," an die Türkei.

Besprochen werden eine gigantische Installation des Künstlers Anish Kapoor im Pariser Grand Palais, Mahlers Zweite unter Mariss Jansons in München, das Stück "Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss", inszeniert von der scheidenden Intendantin Amelie Niermeyer in Düsseldorf, die Uraufführung von Philipp Löhles Stück "Das Ding" bei den Ruhrfestspielen, die Tagung "Die Untoten - Life Science & Pulp Fiction" (mehr hier) in Hamburg und Bücher, darunter Michaele Krützens "Dramaturgien des Films" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 17.05.2011

Manchmal ein bisschen wie Gottesdienst, außerdem etwas zu viel gewisperter Voiceover-Text, insgesamt aber ein überwältigendes Erlebnis. Verena Lueken hat in Cannes den mit großer Spannung erwarteten neuen Film "Tree of Life" von Terrence Malick gesehen: "Es war eine Erfahrung, vergleichbar jener, als wir zum ersten Mal Stanley Kubricks '2001: Odyssee im Weltraum' gesehen haben. In einem sich ständig verändernden Universum aus Bildern und Tönen, aus Szenen von Kindheit und Verlust, aus Gefühlen von Freude und Trauer, Leere und den ersten wie den letzten Fragen treibt man als Zuschauer durch diesen Film wie durch einen Fluss."

Kerstin Holm porträtiert den korruptions- und staatskritischen russischen Blogger Alexej Nawalnij (hier Ulrich M. Schmids Porträt in der NZZ), der auch vor dem vorzugsweise im virtuellen Raum reformfreudigen Präsidenten keinen falschen Respekt kennt: "Russlands Twitter-Präsident erscheint ihm als Kanarienvogel, den die bösen Jungs im Käfig mit sich führen, um die übrigen Bewohner des russischen Waldes zu täuschen."

Weitere Artikel: Auf den Staatsbesuch Elizabeth Windsors, die neuerdings aber sogar für Gerry Adams "Ihre Majestät" heißt, in Irland blickt Gina Thomas voraus. Für keine gute Idee hält Niklas Maak die nun erfolgte Verlängerung des Leihvertrags des Hamburger Bahnhofs mit der Sammlung Flick, deren Werke ihm allzu austauschbar scheinen, um weitere zehn Jahre. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Cellisten Bernard Greenhouse. Heinrich Detering nimmt Abschied von der schwedischen Autorin Birgitta Trotzig, die auch Mitglied der Nobelpreisjury war. Stefan Weidner trauert um den libanesischen Dichter Fuad Rifka. Auf der Medienseite sieht sich Marcus Jauer durch die Causa Eisenbahnkeller zu grundsätzlichen Gedanken zum Thema Reportage bewegt.

Besprochen werden Inszenierungen neuer Stücke von Toni Morrison (für Dirk Schümer in jeder Hinsicht ein Graus) und Simon Stephens (das findet er dagegen sehr überzeugend) bei den Wiener Festwochen, Achim Freyers Züricher Inszenierung von Arnold Schönbergs "Moses und Aron", Anish Kapoors "Leviathan"-Installation im Grand Palais in Paris, eine Ausstellung mit Fotografien von Hans-Christian Schink im Neuen Museum Weimar, und Bücher, darunter Salka Viertels Autobiografie "Das unbelehrbare Herz" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).