Heute in den Feuilletons

Massenkompatibel und zeitgemäß

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.05.2011. Im FAZ-Feuilleton nennt Cem Özdemir den FAZ-Feuilletonchef wichtig, klug und längst überfällig. In der Welt fürchtet Philipp Blom um die Errungenschaften der Aufklärung. Müssen uns die Regierungen vor dem Internet schützen, oder muss man nicht eher das Internet vor den Regierungen schützen?, fragt die Wirtschaftswoche mit Jeff Jarvis. Die New York Times meldet: Facebook geht in seiner Übernahme des Internets einen Schritt weiter und wird jetzt auch ein Musikdienst

Welt, 27.05.2011

Philipp Blom, Autor einer Hommage an die Radikalaufklärer Diderot und d'Holbach ("Böse Philosophen") sieht die Werte der Aufklärung im Gespräch mit Paul Jandl in Gefahr: "Ich glaube, dass es eine echte Gefahr ist, wenn der Kreationismus, der Glaube, dass hinter allem die göttliche Schöpfung steckt, wieder Akzeptanz gewinnt. Man kann die Schritte der Aufklärung offensichtlich auch wieder zurückgehen. Debatten um Wissenschaft werden theologisch geführt. Da heißt es dann beim Klonen oder bei der aktiven Sterbehilfe: Man darf nicht Gott spielen! Warum eigentlich nicht?"

Weitere Artikel: Alan Posener verfolgte in New York eine Tagung über die Zukunft der Stadt und wurde dabei von den Limousinen des Sponsors Audi chauffiert. Jenny Hoch ist gar nicht einverstanden mit dem von Ursula März in der Zeit dekretierten Ende der Debatte um die Frauenfrage. Eckhard Fuhr berichtet über den neuen Exportschlager des Goethe-Instituts, die "German Bildung". Berthold Seewald referiert Forschungsergebnisse des amerikanischen Historikers Gabriel Liulevicius über die in der Forschung weniger beachtete Ostfront des Ersten Weltkriegs. Tim Ackermann besucht die Kunstmesse in Hongkong, wo man Ai Weiwei zwar thematisert - aber das Geschäft geht am Ende vor..

Besprochen werden die "Meistersinger" in Gyndebourne.

Weitere Medien, 27.05.2011

Recht skeptisch berichtet Oliver Voß in der Wirtschaftswoche über die Verlautbarungen der G8-Politiker zum Internet: "Kritiker (befürchten) den Beginn einer stärkeren Regulierung des Internet. 'Die Regierungen verhalten sich so, als ob sie uns vor dem Internet beschützen müssten. Dabei benötigt das Internet Schutz vor den Regierungen', kommentierte der amerikanische Professor Jeff Jarvis."

(Via Mashable) Facebook ersinnt in seiner freundlichen Übernahme des Internets immer neue Schritte. Nun will es auch Musikdienst Nummer 1 werden, berichtet Ben Sisario in der New York Times: "The company is in discussions with several online music services, including the European company Spotify, to develop a tab or widget that would display a user?s most-played songs and provide an easy way for friends to hear them, two people involved in the discussions said."

(Via Clemens Wergin) Würde Daniel Pearl fassen können, was heute geschieht?, fragen seine Eltern zu seinem siebten Todestag im Wall Street Journal. Zum Beispiel, dass sich sein Mörder heute in Guantanomo seiner Tat brüstet: "Or that this ideology of barbarism would be celebrated in European and American universities, fueling rally after rally for Hamas, Hezbollah and other heroes of 'the resistance.' Or that another kidnapped young man, Israeli Gilad Shalit, would spend his 950th day of captivity with no Red Cross visitation while world leaders seriously debate whether his kidnappers deserve international recognition."

FR, 27.05.2011

Der Autor Raoul Schrott erzählt im Interview mit Arno Widmann, wie er mit Hilfe des Hirnforschers Arthur Jacobs dem Zauber der Dichtung nachspürte: "Sehen Sie all diese Farbschattierungen hier von Grau. Das ist doch ein ungeheurer Reichtum. Die Vorstellung, die Welt ließe sich einteilen in Substantive, Adjektive und Verben, ist primitiv. Die poetischen Stil- und Denkfiguren sind doch nur Mittel, um durch eine kleine Komplexität die ungeheuer viel größere Komplexität der Wirklichkeit aufscheinen zu lassen."

Weiteres: Nikolaus Bernau berichtet von einer offenbar recht hitzigen Diskussion zum Berliner Schloss, dem aus Kostengründen die Fassade weggespart wird. Besprochen werden Lothar Kittsteins "Bürgschaft"-Thriller bei den Ruhrfestspielen und Stefanie Sourliers Erzählungen "Das weiße Meer" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 27.05.2011

Ingo Arend kommentiert den Entwurf für das Humboldtforum, das der italienische Architekt Franco Stella und die Stiftung Berliner Schloss gerade vorstellten so: "Das Dilemma des Baus ließe sich auf die Formel bringen: Mischnutzung essen Symbolkraft auf." Doris Akrap unterhält sich mit dem Autor, Musiker und Radiomoderator Danko Rabrenovic über die Geschichte seiner Integration in Deutschland und sein Buch "Der Balkanizer". Seine Einschätzung: "Ich heiße nicht Ismael und bin kein Moslem, und deswegen war ich für die meisten Medien nicht interessant." Elias Kreuzmar porträtiert die Musiker-Brüder Markus und Micha Acher aus Weilheim, die mit der Gruppe The Notwist bekannt wurden.

Besprochen wird das Album "The Moonlight Butterfly? der vom Jazz beeinflussten Postrock-Band The Sea and Cake aus Chicago und das Buch "Kulturwelten in Köln", die erste empirische Untersuchung einer Stadt über ihr interkulturelles Kulturleben (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 27.05.2011

Urs Schoettli, lange Korrespondent in Tokio und Peking, sieht für Japan einen Reformbedarf, der in seinem Ausmaß der Meiji-Restauration vergleichbar wäre. Sein Vorbild ist China: "Es ist diese Langfristigkeit, die besonders scharf mit der chronischen Orientierungslosigkeit der unzähligen japanischen Regierungen kontrastiert."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel war auf dem Marx-Kongress in Berlin. Furchtbar eintönig findet Pascal Münger Lady Gagas neues Album "Born This Way". Hanspeter Künzler empfiehlt die CD "On A Mission" von Katy B. Besprochen werden die Ausstellung zur Polizei im NS-Staat "Ordnung und Vernichtung" im DHM in Berlin und die "Lisztomania"-Veranstaltungen im Burgenland.

Tagesspiegel, 27.05.2011

Darauf hätten wir gestern schon hinweisen müssen. Diedrich Diederichsen bespricht Lady Gaga: "Bei Lady Gaga wurde dagegen die Idee von der Nebensächlichkeit der Musik zu wörtlich genommen und in ein neoliberales Outsourcing-Programm eingespeist: hier die große Kreativität um Kostüme, Bühnenbilder, Videoskripte, Queer-Activism, dort die Musik. Für das erste wird der künstlerische, politisierte, feministische, anti-essentialistische Ehrgeiz der Künstlerin mobilisiert, für das zweite, die Musik, lediglich die Direktive ausgegeben, massenkompatibel und zeitgemäß zu klingen."

SZ, 27.05.2011

Ganz schön was los war, glaubt man Gottfried Knapp, im Münchner Stadtrat, als am Mittwoch der Planungsmanager der Bahn den Träumen der Stadt von einem schmucken neuen Bahnhof ein jähes Ende bereitete: "Als der Herr bekanntgab, dass sein Unternehmen in München, wo seit Jahren ein stadtbildprägender Bahnpalast ... im Gespräch ist, nicht den beim Wettbewerb prämierten Entwurf umsetzen, sondern eine nach eigenen Vorstellungen gebastelte Sparversion realisieren wolle, kam es im Rathaus zu tumultuarischen Szenen."

Weitere Artikel: Nach der jüngsten Informationsveranstaltung zum Werden des Berliner Stadtschlosses sieht ein demonstrativ unaufgeregter Jens Bisky "ein durchschnittlich gelungenes Museumsgebäude mit historisch bedeutenden, handwerklich und ästhetisch anspruchsvollen Fassaden" entstehen. Über die jetzt in einer Ausstellung zusammengefassten Ergebnisse einer monatelangen Recherche der Leiterin des Mailänder Goethe-Instituts Annesusanne Fackler zum Deutschlandbild im Corriere della Sera berichtet Henning Klüver. Wenig beeindruckt lässt Dorion Weickmann das Wolfsburger Tanzfestival "Movimentos" Revue passieren. Camilo Jimenez kann vermelden, dass der venezolanische Präsident Hugo Chavez jedenfalls als Twitter-Nutzer unter seinen Kollegen in Lateinamerika Vorbildwirkung besitzt. Harald Eggebrecht bestaunt das neue Kelten-Museum am Glauberg.

Besprochen werden Christoph Diems Uraufführung von Wolfram Lotz' Polittheaterbeschimpfungsstück "Großer Marsch" in Recklinghausen, die Schwetzinger Aufführung von Christoph Willibald Glucks Homer-Oper "Telemaco", eine Carl-Andre-Werkschau im Museum Kurhaus Kleve, das neue, als Ennio-Morricone-Hommage angelegte Danger-Mouse-Album "Rome" und Bücher, darunter der bislang nur im spanischen Original erschienene Nachlassband "Los sinsabores del verdadero policia" von Robert Bolano und Jan Eike Dunkhases Biografie des Historikers "Werner Conze" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 27.05.2011

Grünenchef Cem Özdemir mischt sich auf der Feuilletonaufmacherseite in die Islamdebatte, teilt Richtung Kelek ebenso aus wie Richtung Sarrazin und findet, dass "Patrick Bahners ein wichtiges, kluges und längst überfälliges Buch geschrieben" hat, in dem er "mit chirurgischer Präzision die Diskursstrategien der radikalen Islamkritik offenlegt." Am Ende seiner Tour d'horizon landet Özdemir bei der folgenden Einsicht: "Wer individuelle oder kollektive Religionsfreiheit beansprucht, muss auch das Grundgesetz respektieren."

Weitere Artikel: Als "Manifest der Unsicherheit" kritisiert Andreas Kilb die nun vorgestellten aktuellen Planungen der Bauherrin "Stiftung Berliner Schloss - Humboldtforum" für die Bespielung des Berliner Stadtschlosses - für Vertrauen ins Konzept "Weltkulturenmuseum" spreche die Verschiebung der Ethnologischen Sammlungen in die niedrigen Obergeschosse jedenfalls nicht. Von einer Berliner Podiumsdiskussion zur Literaturkritik nimmt Wiebke Porombka die Einsicht mit, dass zur Rettung der Zunft mehr und strenger kritisiert werden muss. In ihrer "Aus dem Maschinenraum"-Kolumne warnt Constanze Kurz vor der wenig beachteten ständigen Vergrößerung der DNA-Datenbanken. In Großbritannien schließen aus Geldnot viele öffentliche Leihbibliotheken, wie Gina Thomas in der Glosse beklagt. Den Münchner Klavierwettbewerb "Ton und Erklärung" resümiert Lennart Schneck.

Besprochen werden zwei Barockoperinszenierungen: Johann Adolf Hasses "Didone abbandonata" in München und Glucks "Telemaco" in Schwetzingen, ein Kölner Konzert von Vincent McMorrow, die Ausstellung "William Wauer und der 'Berliner Kubismus'" im Berliner Georg-Kolbe-Museum, die Horst-Ademeit-Ausstellung "Secret Universe" im Hamburger Bahnhof, die Jubiläums-Ausstellung "Von Kirchner bis heute" im Museum Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, Guillermo Arriagas Film "Auf brennender Erde" und Bücher, darunter Oliver Silligs Roman "Schule der Gaukler" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).