Heute in den Feuilletons

Dem Gesunden, Schönen, Reichen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2011. Die FR ist trotz mäßigen Proseccos bei der Eröffnung ganz angetan von dem Schlingensief-Gedächtnis-Pavillon in Venedig. Die Welt lobt an der Biennale Venedig die Nüchternheit und den Verzicht auf glamouröse Inszenierungen. Die taz ist dagegen eher enttäuscht. In der Jüdischen Allgemeinen meint Julius H. Schoeps 25 Jahre nach dem Historikerstreit: Ernst Nolte hat gewonnen.

FR, 03.06.2011

Tobi Müller besuchte in Venedig die Eröffnung des deutschen Biennale-Pavillons, den Christoph Schlingensief nicht mehr zu Ende planen konnte. Mit dem gereichten Prosecco konnte er sich nicht anfreunden, aber aus dem Pavillon haben die Kuratoren das Beste gemacht, findet er. "Gerade weil sich das Team nicht an halbgare Entwürfe hielt und aus etwas Bestehendem etwas Neues schuf, überzeugt diese Arbeit so sehr. [Carl] Hegemann sagte beim abendlichen Empfang zum viel zu leichten Wein, man könne doch nicht Konzeptscherze der Frühphase als fertige Kunst verkaufen."

Weitere Artikel: Jürgen Verdofsky fordert, Monika Maron "soll weiterschreiben. Gleich nach ihrem 70. Geburtstag, den sie heute feiert." Ith. schreibt zum Tod von Hans Keilson.

Besprochen werden eine Ausstellung der neu erworbenen Kafkabriefe in Marbach, Markus Bothes Inszenierung des "Sommernachtstraums" am Schauspiel Frankfurt, Duncan Jones' Film "Source Code", David Martons "Rheingold"-Inszenierung in Dresden und Sönke Neitzels und Harald Welzers Buch "Soldaten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 03.06.2011

Hans-Joachim Müller flaniert über die Biennale in Venedig: "Es ist eine überaus sorgfältig gedachte, subtil rhythmisierte Ausstellung, die aus den üppig wuchernden Treibhauskulturen der zeitgenössischen Kunst eine eher strenge Auswahl trifft. Die großen Inszenierungen, um die sich das Publikum scharen könnte, sind rar."

Weitere Artikel: "Entspannt Euch", ruft Richard Kämmerlings dem greisen Stephane Hessel und mehr noch dem Publizisten Richard David Precht zu, dem er in Antwort auf ein mäanderndes Zwiegespräch der beiden in der Zeit empfiehlt, seine Zeitdiagnosen noch ein bisschen zu schärfen. Tilman Krause schreibt zum Tod Hans Keilsons, der gerade seine Memoiren vorlegte, im Alter von 101 Jahren. Hanns-Georg Rodek empfiehlt eine DVD-Box des vergessenen Regisseurs Peter Pewas.

Besprochen werden das neue Album von Death Cab for Cutie, eine Händel-Choreografie in Kostümen von Vivienne Westwood in den Herrenhäuser Gärten und eine Ausstellung der frisch erworbenen Briefe Kafkas an seine Schw3ester Ottla in Marbach.

TAZ, 03.06.2011

Brigitte Werneburg berichtet recht enttäuscht von der Kunstbiennale in Venedig, welche die diesjährige Leiterin, die Schweizer Kritikerin und Kuratorin Bice Curiger unter das Motto "ILLUMInazione" gestellt hat. Etwas eintönig und eher unpolitisch erscheint ihr das Ganze: "Freilich steht und fällt das Programm, Helligkeit und Transparenz in das Dunkel des Nationalen bringen zu wollen, mit der Annahme, die heute weithin geschätzte Gegenwartskunst zeige auch attraktive, avancierte Positionen auf, die mit dem Wahren, Schönen, Guten paktierten statt nur mit den Gesunden, Schönen und Reichen, deren öffentlich demonstrierter Sammelleidenschaft die zeitgenössische Kunst ja vor allem ihre Populärität verdankt. Natürlich spricht Bice Curiger nicht vom Wahren, Schönen, Guten. Sie spricht von Werten, die es zu schützen gelte. Komplexität etwa benennt sie als ein solch kostbares Gut. Doch wo bitte ist diese zu finden im internationalen Pavillon?"

Weiteres: Julia Niemann resümiert eine Veranstaltung im Berliner Haus der Kulturen der Welt, wo der britische Houseproduzent Matthew Herbert in der Reihe "Über Lebenskunst" von seiner Verantwortung als DJ sprach. Andreas Fanizadeh berichtet, dass die Ravensburger Buchhandlung "Die Wolke" aufgeben muss. Auf der Medienseite unterhält sich Jan Scheper mit dem FAS-Feuilletonchef Claudius Seidl über dessen Kandidatur als ZDF-Intendant (hier sein Bewerbungsschreiben auf Facebook).

Auf den vorderen Seiten berichten Agnes Tandler und Sven Hansen über die Ermordung des pakistanischen Journalisten Syed Saleem Shahzad kurz nach Erscheinen seines Buchs "Inside al Qaida and the Taliban: Beyond Osama bin Laden and 9/11": "Am Sonntagabend wurde der bekannte pakistanische Journalist in Islamabad entführt. Er war auf dem Weg zu einer Fernsehtalkshow, in der er von seinen Recherchen berichten sollte. Am Dienstag wurde seine Leiche rund 150 Kilometer südöstlich der Hauptstadt in einem Straßengraben gefunden. Sein Körper wies schwere Folterspuren auf."

Besprochen werden neue Alben des House-Produzenten Theo Parrish, des Detroiter Techno-Produzenten Rick Wilhite und von Terre Thaemlitz und seinem Projekt K.-S.H.E.

Und Tom.

NZZ, 03.06.2011

Martin Meyer huldigt zu ihrem Siebzigsten der großen Martha Argerich: "Dass Martha Argerich keineswegs bloß die unbeirrte und unbeirrbare Königin des Instruments war, blieb damals den meisten verborgen. Verletzlichkeit und Selbstkritik wurden im wahren Sinn des Wortes überspielt von einer beängstigenden Kompetenz im Umgang mit den Lasten und Tücken des Steinways. Anderseits: War La Argerich nicht manchmal zu schnell? Zu flink? Ein wenig unbedacht? Aber gewiss. Notierte Schumann nicht in seiner g-Moll-Sonate 'So schnell wie möglich', etwas später: 'Noch schneller'? Eben."

Hier Argerich mit Scarlattis Toccata in D-Moll:



Weiteres: Bernhard Furrer beschreibt, wie die Immobilienbranche mit immer neuen Luxusappartements das schöne Lugano verschandelt. Brigitte Kramer unterhält sich mit dem spanischen Autor Manuel Rivas über die Proteste in Spanien gegen die Wirtschaftspolitik. Martin Zingg gratuliert der Schriftstellerin Monika Maron zum Siebzigsten. Roman Bucheli schreibt zum Tod des Schriftstellers Hans Keilson. Besprochen werden Krystian Zimermans Aufnahmen von Klavierstücken der polnischen Komponistin Grazyna Bacewiczs.

Aus den Blogs, 03.06.2011

Joshua Benton schreibt im Nieman Journalism Lab einen ganz interessanten Hintergrundartikel zum Chefredakteurswechsel bei der New York Times: "We can only guess what Jill Abramson's promotion will mean for the Times' digital strategy - but to the extent that she's carved out an outward-facing identity on the subject, it?s been notably pro-web." Abramson hat im Jahr 2006 einen Artikel unter dem Titel "When Will We Stop Saying 'First Woman to...'?" geschrieben, bemerkt Xeni Jardin in BoingBoing.

Warum ist es eigentlich "rechts", sich Sorgen um Israel zu machen?, fragt Richard Herzinger in Antwort auf einen Artikel Seyla Benhabibs, die einen Perlentaucher-Artikel Herzingers als Beispiel rechter Denkungsart geschmäht hatte und fragt die Philosophin, "ob sie ihre eigene Heuchelei eigentlich noch selbst ertragen kann. Während sie 'europäische Rechte' und 'Konservative' als die vermeintlichen Feinde der arabischen Freiheitsrevolutionen identifiziert, überlässt sie es den konservativen Regierungschefs David Cameron und Nicolas Sarkozy, die libische Freiheitsbewegung per militärischer Intervention vor der Vernichtung zu retten. Dagegen scheint es ihr nichts auszumachen, dass es 'linke' Regime wie das von Hugo Chavez in Venezuela sind, die in Treue fest an der Seite von Massenmördern wie Gaddafi und Syriens Diktator Assad stehen."

Weitere Medien, 03.06.2011

Vor 25 Jahren tobte der der Historikerstreit. Julius H. Schoeps meint in der Jüdischen Allgemeinen, dass Ernst Noltes Bedeutung seinerzeit überschätzt worden sei - und dass er doch einen späten Sieg davongetragen habe: "Heute dürften Noltes Thesen kaum noch so breiten Widerspruch auslösen wie vor 25 Jahren. Das gesellschaftliche Klima hat sich seit den achtziger Jahren weitgehend verändert. Juden sind wieder berührbar geworden. Wer sich als Antisemit outet, muss nicht mehr mit Sanktionen rechnen, wie das Beispiel mancher Linken-Politiker zeigt. Altbekannte Vorurteilsbilder tauchen wieder auf, wie der 'jüdische Spekulant'."

Recht ausführlich berichtet die New York Times über den Rücktritt ihres Chefredaktuers Bill Keller und seine Nachfolgerin, Jill Abramson, die erste Chefredakteurin in der Geschichte der Zeitung.

FAZ, 03.06.2011

Carsten Germis ist sehr enttäuscht über Anna Netrebko und Jonas Kaufmann, die im letzten Moment ein Soli-Gastspiel der Met in Japan absagten - aus Angst vor Strahlung. Jürg Altwegg berichtet, dass im Zuge des DSK-Skandals immer mehr sexuelle Verfehlungen französischer Politiker, über die bisher nur gemunkelt wurde, ans Licht gehoben werden. Dieter Bartetzko ärgert sehr über die Bahn, die zuerst die Pünktlichkeit und den Zustand ihre Züge und nun - Beispiel München! - auch die Architektur der Bahnhöfe ausschließlich dem Profitdenken opfert. Heinrich Detering schreibt zum Tod Hans Keilsons. Oliver Tolmein ist nicht mit dem Ethik-Preis der Giordano-Bruno-Stiftung für Peter Singer einverstanden.

Besprochen werden ein "Sommernachtstraum" am Schauspiel Frankfurt, Hans Steinbichlers Film "Das Blaue vom Himmel", ein Konzert der Abschiedstournee von Georg Kreisler und Mozarts "Cosi fan tutte" in Stockholm.

SZ, 03.06.2011

Mit Bezug auf die aufgeflogene Doktortitelfabrik in Würzburg fordert Jeanne Rubner die Modernisierung und Internationalisierung der deutschen Hochschulstrukturen, die noch viel zu sehr auf die wenig umschränkte Macht der LehrstuhlinhaberInnen gebaut sind. Freundlich kommentiert Robert Probst den Stabwechsel am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung (unter Wolfgang Benz zuletzt nicht ganz unumstritten) und begrüßt die neue Leiterin Stefanie Schüler-Springorum. Ins tiefe Surrey ist Alexander Menden gereist, zur Pressekonferenz, die Ringo Starr vor dem Start seiner Europatournee gab. Carlo Jimenez hat gar nichts gegen die Verleihung des höchst angesehenen Prinz-von-Asturien-Literaturpreises an Leonard Cohen. Kristina Maidt-Zinke gratuliert der Schriftstellerin Monika Maron zum Siebzigsten. Lothar Müller schreibt zum Tod des Psychoanalytikers und spät wiederentdeckten Schriftstellers Hans Keilson.

Besprochen werden das Album "Icke Wieder" des Techno-Musikers Paul Kalkbrenner, Netelie Brauns beim Jüdischen Filmfestival in Berlin gezeigter Dokumentarfilm "The Hangman" über den Mann, der Adolf Eichmann hinrichtete, die Alexander-Mc-Queen-Ausstellung im New Yorker Metropolitan Museum (die Jörg Häntzschel "inhaltlich dürftig" findet), die Ausstellung "Street Life and Home Stories" mit Fotografien aus der Sammlung Ingvild Goetz in der Münchner Villa Stuck und Bücher, darunter Olaf Asbachs Begriffsgeschichte "Europa - Vom Mythos zur Imagined Community" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).