Heute in den Feuilletons

Giebel und Gaupen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2011. In der FR spricht Abdelwahab Meddeb über Chancen und Risiken der tunesischen Revolution. Die Shopping Mall ist tot, es lebe die Kaufstadt, meldet die Welt. In der NZZ spricht der ägyptische Autor Ibrahim Farghali über die Verfolgung von Christen in seinem Land. Die FAZ denkt über die Lage der Lyrik in Deutschland nach. Zum Tod des großen Jorge Semprun haben wir einige Links zu Interviews und Fernsehdokumenten gesucht.

FR, 08.06.2011

Im Interview erklärt der tunesisch-französische Philosoph Abdelwahab Meddeb die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Revolutionen in den arabischen Ländern: Zunächst haben die arabischen Völker "die Freiheit als etwas entdeckt, das den Menschen zusteht. Als ihr Recht. In Tunesien gibt es einen politischen, philosophischen, literarischen Diskurs, der diesen Kampf um die Freiheit seit langem unterstützt hat. Sie haben Kant gelesen, Condorcet, Rousseau. Sie habe diese westliche Kultur verinnerlicht. In weniger großem Maßstab gilt das auch für Ägypten. Aber sobald man sich nach Libyen bewegt, begreift man schnell, dass dieser Ruf nach Freiheit in einer kulturellen Leere steht. Die Menschen dort haben nicht dieselben Referenzen. Der Diskurs ist absolut heterogen und entspricht den unterschiedlichsten Ausdrucks formen des Islam, nicht mal als Religion, sondern als Kultur. Gaddafis Regime hat alle kulturellen Überreste restlos vernichtet."

Besprochen werden die Francesco-Clemente-Werkschau in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, Matthew Vaughns Film "X-Men: Erste Entscheidung", Christian Stückls Inszenierung von Hans Pfitzners Oper "Palestrina" in Hamburg, ein Konzert mit Emmylou Harris in Frankfurt und Paul Leautauds Kriegstagebuch (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 08.06.2011

Heute kann man besser spanisch. Jorge Semprun ist tot. Letras Libres bringt ein Dossier mit Texten und älteren Interviews mit dem Autor und resümiert sein Leben in einem Satz: "Sobrevivio al horror de Buchenwald, fue guionista de Costa-Gavras, ministro de Cultura en la España de Felipe Gonzalez y una de las inteligencias criticas decisivas de la cultura global." Hier der Nachruf in Le Monde, noch stark auf Tickern basierend. Nonfiction.fr bringt ein langes Interview aus dem letzten Jahr. Rue89 hat einige Interviews aus dem französischen Fernsehen zusammengestellt.

Hier ein einstündiges Porträt des spanischen Fernsehens:




Stichwörter: Rue89, Semprun, Jorge

Welt, 08.06.2011

Shopping Malls sind out, Kaufstädte sind in, berichtet Dankwart Guratzsch. Sehen Sie sich zum Beispiel das von John Quinn gebaute Factory Outlet im fränkischen Wertheim an: "Alles das, was Stadtbewohner in den heimischen Quartieren der architektonischen Nüchternheit vermissen, ist hier aufgeboten: Satteldächer in Ziegel-, Schiefer- und Metallausführung, Giebel und Gaupen in bizarren Spitz- und Rundformen, Bauornamentik und Fassadenschmuck in floralen und geometrischen Figuren, Laternen, Straßenbäume und Sitzbänke, die den Aufenthalt anheimelnd machen. Keine Fassade gleicht der anderen".

Weitere Artikel: "Spannend" findet Tim Ackermann die von Klaus Wowereit angestoßene "Leistungsschau" based in berlin - gerade weil sich die jungen Künstler den Repräsentationsträumen des OB verweigert hätten. Mara Delius berichtet mit leisem Spott über die Gründung einer Privatuniversität durch den britischen Philosophen A.C. Grayling. Stefan Koldehoff erzählt von einem Geschäftsmann, der im Ausland mehrere Kunstwerke hat pfänden lassen, um Forderungen an den tschechischen Staat einzutreiben. Michael Pilz feiert die amerikanische Bluegrass-Sängerin Alison Krauss: "Sie verkörpert die verlorenen Seelen. Überzeugend wie ein Schauspieler, der für seine Millionengage einen Bettler darstellt und uns das Herz bricht." Hier singt sie "Carolina In My Mind":



Besprochen werden Luc Bondys Inszenierung von Ionescos "Demenzkomödie" (so Ulrich Weinzierl) "Les Chaises" bei den Wiener Festwochen und Christoph Nels Inszenierung von Aulis Sallinens Oper "Kullervo" in Frankfurt ("Blutschande und Ehre, Wut und Stumpfheit, Gewalt und Zündelei", seufzt Manuel Brug).

NZZ, 08.06.2011

Der Schriftsteller und Journalist Ibrahim Farghali schildert die wachsende Entfremdung zwischen Kopten und Muslimen in Ägypten. Für den gefährlichsten Faktor hält er die laue Reaktion der Sicherheitskräfte auf interreligiöse Gewalt: "Auf behördlichen Druck hin enden die meisten derartigen Konflikte mit einer außergerichtlichen Versöhnung: So weisen die Statistiken fürs vergangene Jahr 52 Fälle gewaltsamer interreligiöser Auseinandersetzungen aus, die allesamt auf diese Weise beigelegt wurden. Das heißt, dass diejenigen, die diese Verbrechen begingen, sich bis auf den heutigen Tag nicht vor Gericht verantworten mussten."

Weiteres: Oliver Marc Hartwich berichtet von einer in Australien tobenden Diskussion über die Frage, ob eine Aborigines-Großmutter ausreicht, um die Rechte der Ureinwohner zu vertreten. Besprochen werden Günter Krämers Inszenierung der "Götterdämmerung" in der Pariser Opera de la Bastille und Bücher, darunter Neuerscheinungen zur Krise der Kirchen sowie die von Sönke Neitzel und Harald Welzer herausgegebenen Protokolle "Soldaten" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Online gemeldet wird der Tod des spanischen Schriftstellers, Buchenwald-Überlebenden und Franco-Gegners Jorge Semprun.

TAZ, 08.06.2011

Wolfgang Kraushaar berichtet von Bommi Baumanns Aussage im Stuttgarter RAF-Prozess gegen Verena Becker. Der Aufklärung im Sinne des Verfahrens diente sie wohl nicht, aber der Erheiterung. Sinngemäß gibt Kraushaar die Befragung durch Bundesanwalt Walter Hemberger so wieder:
"Frage: Herr Baumann, nehmen Sie Drogen?
Antwort: Ja.
Frage: Seit wann?
Antwort: Ich nehme seit 1967 Opiate.
Frage: Ununterbrochen?
Antwort: Nee. 1993 habe ich 15 Jahre lang gar nichts mehr genommen.
Frage: Und warum haben Sie mit Ihrem Drogenkonsum wieder begonnen?
Antwort: Wegen meiner geringen Lebenserwartung habe ich mir gesagt, jetzt kommt es auch nicht mehr drauf an. Irgend'n Hobby hat schließlich 'n jeder."

Weiteres: Da eine Frankfurter SPD-Veranstaltung zu den Grenzen des Wachstums von Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin geschwänzt wurde, denkt Ingo Arend eher allgemein über Fortschrittsskepsisoptimismus nach. Barbara Schweizerhof bespricht Matthew Vaughns Comic-Verfilmung "X-Men".

Auf der Meinungsseite fürchtet sich Georg Seeßlen vor der Münchner Mittelschicht, die einen Trend zu "Trachten, Dirndl und Lederhosen" pflegt, was ja nur in die Katastrophe führen kann: "Die Mitglieder dieser neuen Klasse des deutschen Volkstümlichkeitskleinbürgers sind insofern ein klitzekleines soziales Problem, weil die Sphäre zwischen 'Gut drauf sein' und Amoklaufen ausgesprochen knapp bemessen ist. Denn die Spannung zwischen Aufstiegslust und Abstiegsangst ist offensichtlich nur durch besonders rasche Wechsel von Regression und Aggression abzubauen."

Und Tom.

Weitere Medien, 08.06.2011

(Via The DailyBeast) Amina Arraf bloggte in Syrien über Homosexualität in der arabischen Welt. Nun ist sie verschwunden, berichtet Liz Sly in der Washington Post: "Nothing has been heard of her since she was seen being bundled into a car by three armed men in an area of central Damascus on Monday evening. With that, Arraf, 35, a Syrian American who was born in Staunton, Va., joined the more than 10,000 people who have been plucked from their homes or from the streets of cities since the Syrian uprising began 11 weeks ago."

FAZ, 08.06.2011

Keiner scheint's so recht zu merken. Aber die Lyrik boomt in diesem Lande, schreibt Wiebke Porombka in einem längeren Hintergrundtext zum Thema: "Bemerkenswert ist nicht nur die schiere Menge sehr guter, gerade junger Lyriker. Erstaunlich ist auch ihre Umtriebigkeit. Kaum eine Szene ist untereinander so gut vernetzt und so anspruchsvoll im Umgang mit der eigenen Arbeit: Die beständige Diskussion und gegenseitige Kritik von neuen Texten ist ebenso reflektiert wie wenig schonend."

Weitere Artikel: Den spanischen Zorn über das Fehlläuten der deutschen Gurkenwarnglocke kommentiert Paul Ingendaay. Über Kultur- und anderes Schaffen im russischen Perm informiert Kerstin Holm. Martin Otto hat in Den Haag eine Konferenz zum Thema Terroristenprozesse besucht. Begeistert kehrt Gina Thomas vom Besuch des neuen Opernhauses der Garsington Opera in Wormsley Park zurück. Zum 100. Deutschen Bibliothekentag blickt Klaus Garber zurück auf hundert Jahre deutsche Bibliothekengeschichte. Die Gründung des französischen E-Book-Verlags namens Owni meldet Jürg Altwegg. Auf der DVD-Seite würdigt Bert Rebhandl das Werk des öfter vergessenen als wieder entdeckten Regisseurs Peter Pewas. Vorgestellt werden außerdem eine Prachtbox der Firma Pathe und eine neue Truffaut-Edition. Dazu ein kurzer Nachruf mit DVD-Hinweisen auf Adolfas Mekas.

Besprochen werden die Francesco-Clemente-Ausstellung "Palimpsest" in der Frankfurter Schirn, die Ausstellung "Liebe ohne Glauben" über Thomas Mann und Richard Wagner im Buddenbrookhaus in Lübeck, eine Ausstellung über das literarisch-intellektuelle Leben während der Besatzung im Pariser Hotel de Ville, Matthew Vaughns Superheldenserien-Neustart "X-Men: First Class" und Bücher, darunter Michael Stavarics Roman "Brenntage" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 08.06.2011

Stefan Ulrich berichtet nach dem ersten Tag im Prozess gegen Dominique Strauss-Kahn über ein Frankreich, das anfängt, die erotischen Sitten seiner Politiker in Frage zu stellen: "Zugleich scheinen sich viele französische Journalisten für die Missstände verantwortlich zu fühlen, weil sie vieles wussten, aber aus Diskretion oder Sorge um ihre Karriere verschwiegen."

Weitere Artikel: Der Nachhaltigkeitsökonom Niko Paech vertritt in der Reihe zur "grünen Frage" einen rigorosen Standpunkt: Es kömmt nicht darauf, nachhaltigen Kaffee zu trinken, es kömmt darauf an, das Leben jedes Einzelnen so zu stutzen, dass er nicht mehr 11 Tonnen CO2 pro Jahr verbraucht. Reinhard J. Brembeck ist beeindruckt vom alten Schlosstheater in Drottningholm unweit von Stockholm, wo die originalen Maschinen noch exisistieren und die Gestik von Barockopern rekonstruiert wird. Antonia Kurz stellt eine Art Sartorialist-Blog für ältere Menschen, das Advanced Style Blog, vor. Ira Mazzoni begutachtet zwei Neubauten des Architekten Peter Böhm in München, die Hochschule für Fernsehen und Film und das Staatliche Museum Ägyptischer Kunst. Für die Medienseite verfolgte Camilo Jimenez ein Kolloquium der Ebert-Stiftung zu Pressekriegen in Lateinamerika.

Nur kurz bringt die SZ Online die Meldung vom Tod Jorge Sempruns.

Besprochen werden die Ausstellungen "Armut - Perspektiven in Kunst und Gesellschaft" und "Armut in der Antike"in Trier (mehr hier) und Bücher, darunter Gerhard Roths neuer Roman "Orkus".