Heute in den Feuilletons

Mahnmal heiterer Angriffslust

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2011. In der SZ protestiert der Islamexperte Stefan Weidner gegen die Friedenspreisentscheidung für den allzu kritischen Autor Boualem Sansal. Die SZ bringt auch einen Hintergrund zur Demokratisierung in Tunesien. In der FAZ verteidigt Ulrich Beck den Abschied von der Atomkraft. Sehr streng verurteilt der New Yorker den Amerikaner Tom MacMaster, der das Blog einer angeblichen lesbischen Syrerin von vorn bis hinten erfunden hat.  Überhaupt stellt sich inzwischen heraus, dass viele lesbische Bloggerinnen ein Mann sind. Die taz erinnert daran, dass es tatsächlich syrische Blogger gibt, die ihr Leben riskieren.

TAZ, 14.06.2011

In dem Moment, wo sich herausstellt, dass die angebliche lesbische syrische Bloggerin Amina Abdallah ein Fake war (auch die taz berichtet), erinnert Gabriela M. Keller daran, dass es tatsächlich syrische Blogger gibt, die ihr Leben riskieren, zum Beispiel Rami Nakhle, 28 Jahre alt, ein Politikwissenschaftsstudent aus Damaskus: "Vor einigen Monaten ist er in der libanesischen Hauptstadt Beirut untergetaucht. Er versteckt sich bei Freunden, bleibt nie länger als ein paar Nächte an einem Ort. Er weiß, dass er auch im Libanon nicht sicher ist."

Weitere Artikel: Der Grünen-Politiker Aram Lintzel untersucht die große Karriere des Begriffs der "Hysterie", die natürlich immer den anderen zugeschrieben wird. Stefan Reinecke verfolgte das Jenaer Symposion "Den Holocaust erzählen?" (Programm)

Besprochen werden Stephen Belbers Stück "Tape" mit Nina Hoss am Deutschen Theater in Berlin, Jarg Patakis und Viola Hasselbergs Stück "Die Grünen. Eine Erfolgsgeschichte" in Freiburg (laut Claudia Gass ein "ein erhellender und nachdenkenswerter (Rück)blick auf die Geschichte der Grünen") und Anja Baums und Andre Meiers Dokumentarfilm "Hollerbusch statt Hindukusch".

Und Tom.

Aus den Blogs, 14.06.2011

Sehr streng verurteilt die New Yorker-Redakteurin Amy Davidson in ihrem Blog den in Scholtland lebenden Amerikaner Tom MacMaster, der das Blog einer syrisch-amerikanischen lesbischen Autorin Amina Arraf von vorn bis hinten erfunden hat. Ihre Geschichte ging durch die Presse, weil sie in Syrien angeblich verschwunden war. Der Fake wurde mit den Mitteln des Internets bewerkstelligt, aber auch entlarvt, schreibt Davidson: "Most of all, there was a stubborn belief that, if Amina did exist, she, or someone who knew her personally, must be findable via social media. That is a remarkable place to have arrived at. We assume that a gay girl in Damascus wouldn't be alone, or unreachable." Die BBC war eines der ersten Medien, die über das Fake berichteten - auch sie hatte wie viele andere Medien "Aminas" Blog als echt angesehen und als Quelle zitiert. Erst die New York Times hatte am Freitag Zweifel angemeldet.

Inzwischen hat die Washington Post herausgefunden, dass auch Paula Brooks, die Redakteurin der lesbischen Website LezGetReal, die Amina als erste eine Plattform gab, ein Mann ist: Bill Graber, ein verheirateter und pensionierter Militär. "Graber said he started the site to write about gay issues after seeing the mistreatment of close friends who were a lesbian couple. He said the site was 'done with the best of intentions.' As a former Air Force pilot, he also said he used the site to argue in favor of the Don?t Ask Don?t Tell repeal. 'I didn?t start this with my name because... I thought people wouldn?t take it seriously, me being a straight man,' he said."

Das Blog 3quarksdaily veröffentlicht seine Shortlist auf der Suche nach dem besten wissenschaftlichen Blogbeitrag des Jahres: Einer fragt, ob blinde Fische schlafen, ein anderer nach dem Geheimnis homosexueller Mäuse.

Welt, 14.06.2011

Marko Martin hat in Tel Aviv die israelische Gay Pride erlebt und erzählt vom jüngsten Outing einiger Zahal-Offiziere: "Das offizielle Armee-Journal 'Bamachane', in dem die Interviews mit den Offzieren erschienen, bedeutet auf englisch 'Camp'. Eine Pointe, wie sie sich auch die ironische Susan Sontag nicht schöner hätte ausdenken können."

Weiteres: Als "Mahnmal heiterer Angriffslust" bejubelt Ulf Poschardt den neuen Porsche 911, sozusagen als Triumph über die grüne Vernunft: "Er gibt von vorne den Intellektuellen und hat hinten die Maske des Rächers übergezogen." Besprochen werden Riccardo Mutis Aufführung des "Figaro" in Salzburg und eine Grünen-Revue im Theater Freiburg.

NZZ, 14.06.2011

Marc Zitzmann stellt den von einer Schriftstellergruppe um Francois Bon betriebenen Online-Verlag publie.net vor, der inzwischen 400 Titel im Programm hat, alle Genres, auch Klassiker, vor allem aber zeitgenössische Autoren: "Die Originalität von publie.net gründet in der Ausrichtung seines Katalogs: zugleich experimentell und in der sozialen Realität von heute verankert. Aber auch - und vielleicht vor allem - in seiner Funktionsweise. Der Online-Verlag ist eine Kooperative: durch Autoren geführt und im Dienst von Autoren stehend. Kommerzielle Erwägungen stehen völlig hintan, ins Programm aufgenommen werden Autoren, mit denen Francois Bon und seine kleine, informelle Equipe auf gleicher Wellenlänge sind."

Weiteres: Joachim Güntner beobachtet, dass die deutschen Fernsehtürme mit dem digitalen Funk an Sinn und Majestät eingebüßt haben. Für Andrea Köhler stellt sich heraus, dass das Whitney Museum einfach zu uptown für seine neue Downtown-Adresse ist. Alfred Zimmerlin berichtet von den Ittinger Pfingstkonzerten. Georg Sütterlin schreibt zum Tod des Reiseschriftstellers Patrick Leigh Fermor.

Besprochen werden die eher konzeptuelle Ausstellung "unExhibit" in der Generali Foundation in Wien, Pierre Michons Roman "Die Grande Beune" und Kwame Anthony Appiahs Essay "Eine Frage der Ehre" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 14.06.2011

Robert Kaltenbrunner meditiert über die Darmstädter Studie "Eigenlogik der Städte". Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod von Ingmar Bergmans Kameramann Gunnar Fischer.

Besprochen werden Shakiras Konzert in Frankfurt, Stefan Puchers Inszenierung von Stephen Belbers Stück "Tape" am Deutschen Theater in Berlin, die Uraufführung von Dirk Lauckes Stück "Alles Opfer! Oder Grenzenlose Heiterkeit" bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen und Yanick Lahens Buch über das Erdbeben in Haiti "Und plötzlich tut sich der Boden auf" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 14.06.2011

(via 3quarks daily) Im Independent erzählt der Autor Aravind Adiga von seiner Liebesaffäre mit Mumbai, wo er seinen ersten, mit dem Bookerpreis ausgezeichneten Roman "Der weiße Tiger" schrieb: "The broker who had found me the place called one day: 'The neighbours complain that you make no noise at all.' To frighten my neighbours less, and to give myself a routine, I took the train every morning to the British Council Library in Nariman Point; for a change I would visit the Prithvi Theatre's outdoor cafe, where, if the writing had gone well, I would buy a ticket for a play in the evening."
Stichwörter: Noise, Mumbai

SZ, 14.06.2011

Der Islamexperte Stefan Weidner protestiert gegen die Friedenspreisentscheidung für Boualem Sansal. Er hätte lieber die Israel- (aber auch Machismo-)Kritikerin Sahar Khalifa oder den Großdichter Adonis als Preisträger gesehen. Dagegen spiegeln Sansals "Skepsis und seine Vorbehalte gegen die arabischen Revolten weitgehend den islamkritischen Mainstream". Ganz schlimm findet Weidner, dass Sansal in dem Buch "Das Dorf des Deutschen" Kontinuitäten und Affinitäten zwischen arabischen Ideologien und dem Nationalsozialismus thematisiert: "Indem es unsere historische Mitschuld aufgreift, spricht es uns paradoxerweise frei."

Sarah Mersch schickt eine lesenswerte Reportage über die Demokratisierung in Tunesien, wo sich eine Kommission auch mit den Verbrechen des Regimes befasst - sie lässt sich von Hubertus Knabe, dem Leiter der Gedenkstätte in Hohenschönhausen, beraten: "Er wird nicht müde zu betonen, dass man bloß nicht in Verklärung und Diktatur-Nostalgie verfallen dürfe. 'Wenn die Freiheit erst einmal da ist, gewöhnt man sich schnell daran und hält sie für etwas Selbstverständliches. Aber man sollte sich den Abgrund, die Folterkeller des Innenministeriums, immer vor Augen halten'." Die Deutschen werden international gern als Fachleute für Vergangenheitsbewältigung herangezogen, erklärt Cornelius Wüllenkemper in einem ergänzenden Artikel.

Weitere Artikel: "Ornette brachte das Feuer nach Moers zurück", schreibt Karl Lippegaus nach einem überraschenden Auftritt des Freejazz-Erfinders Ornette Coleman beim Festival von Moers. Im Aufmacher erklärt Andrian Kreye, warum die Gefühle von Atheisten nicht respektiert werden müssen (nämlich "weil Menschenrechte zwar ethisch begründet, jedoch juristisch ausformuliert werden und somit im Gegensatz zum Wort Gottes verhandelbar sind"). Gottfried Knapp setzt in der "Zwischenzeit" seine Serie "Immer Ärger mit der Bahn" fort. Thomas Steinfeld schreibt zum Tod des Reiseschriftstellers Patrick Leigh Fermor. Auf der Medienseite staunt Stefan Ulrich über den Erfolg der französischen Internetzeitung Mediapart.

Besprochen werden das Freiburger Spektakel "Die Grünen - Eine Erfolgsgeschichte" (das laut Theaterkritiker Jürgen Berger leider nur Klischees über die Partei produziert) und Meyerbeers Oper "Les Huguenots" unter Marc Minkowski und Olivier Py in Brüssel.

FAZ, 14.06.2011

Der Abschied von der Kernenergie ist eine vernünftige Sache, meint ganz entschieden Ulrich Beck. Aus risikotheoretischen Gründen, aber auch, weil andere Energieformen sehr viel demokratischer sind: "Nukleare Energie ist ihrer Natur nach antidemokratisch. Das genaue Gegenteil gilt für die erneuerbaren Energien der Sonne, des Windes. Wer seine Energie von einem Atomkraftwerk bezieht, dem wird, wenn er die Rechnung nicht bezahlt, der Strom abgeschaltet. Demjenigen, der seine Energie aus Sonnenkollektoren auf seinem Haus bezieht, kann das nicht passieren. Sonnenenergie macht Menschen unabhängig." (Vorausgesetzt, er muss nicht sein Haus verkaufen, weil er die Wärmedämmung nicht bezahlen kann.)

Weitere Artikel: Jürg Altwegg glossiert eigentümliche Rechenergebnisse, zu denen französische Politiker gelangen. Zigtausende E-Mails der ehemaligen Gouverneurin von Alaska Sarah Palin werden gerade mit Argusaugen durchforstet - bislang allerdings fanden sich, berichtet Jordan Mejias, ausschließlich Banalitäten. Rolf Dobelli warnt davor, Prognosen jedweder Couleur zu vertrauen. Tilman Spreckelsen schreibt zum Tod des Reiseschriftstellers Patrick Leigh Fermor

Besprochen werden Stefan Puchers deutsche Erstaufführung von Stephen Belbers Stück "Tape" am Deutschen Theater Berlin, Nikolaus Lehnhoffs Baden-Badener Inszenierung von Richard Strauss' "Salome", Olivier Pys Brüsseler Inszenierung der Meyerbeer-Oper "Les Huguenots", die große Ausstellung "The Cult of Beauty" im Londoner Victoria und Albert Museum und Bücher, darunter Klaus Harpprechts biografisches Buch "Arletty und ihr deutscher Offizier" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).