Heute in den Feuilletons

Vorläufige Alltäglichkeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.06.2011. In der NZZ erklärt die argentinische Autorin Maria Sonia Cristoff ihre Techniken des Reisens. Das Blog Mashable erzählt, wie das Netz die Mode verändert. Die FAZ fürchtet, dass das Internet der Liberalisierung der Märkte Vorschub leistet. Die FAZ berichtet auch über den Iran, der das Netz abschaffen will. Die SZ begutachtet die digitale Währung der Bitcoins und stellt fest, dass sie den Gesetzen des Marktes unterliegt. 

NZZ, 20.06.2011

Die argentinische Autorin Maria Sonia Cristoff, die einige glückliche Wochen in Leipzig verbracht hat, mag nur eine Art des Reisens, und die auch immer allein: "Es gilt, mehrere, soll heißen: wenn möglich eine ganze Menge Tage dort zu verbringen, bis sich irgendwann eine Art Routine einstellt, die sich aus bestimmten Wegstrecken, Uhrzeiten, Cafes, in denen man sich niederlässt, - und anderen, die man tunlichst nicht betritt - und Namen von Leuten, bei denen man vorbeisehen kann, zusammensetzt. Anders gesagt: bis sich irgendwann eine 'vorläufige Alltäglichkeit' einstellt, eine gewisse Vertrautheit mit einem Ort, an dem ich, wie ich weiß, trotzdem nicht dauerhaft bleiben werde; das Gefühl, dort zu Hause zu sein, aber ohne die Last des Gewöhnlichen, allzu Bekannten - ein Rest Fremdheit gehört mit dazu."

Weiteres: Susanne Ostwald gratuliert dem britischen Regisseurs Stephen Frears zum Siebzigsten. Besprochen wird die Ausstellung "Manet, inventeur du Moderne" im Pariser Musee d'Orsay.

Aus den Blogs, 20.06.2011

Das Internet verändert die Mode. Lauren Indvik stellt in Mashable einige Modemarken vor, die die Nutzer über Kleidungsstücke abstimmen lassen, bevor sie sie produzieren: "Consumers - not buyers - were given the final say (collectively, at least) on what items became mass-manufactured. The most popular items were produced in quantities to match demand....Some brands are going a step further by inviting shoppers directly into the design process. Burberry is following the lead of startups such as Blank Label and Gemvara, which allow customers to choose between patterns, materials and other details in step-by-step web apps to create 'one of a kind' apparel and accessories. Later this year, Burberry will let customers design their own trench coats."

Schönen Lesestoff hat Open Culture in der vergangenen Woche gesammelt, darunter Artikel zu Hemingways Selbstmord, eine Liste der hundert besten Sachbücher, ein Video-Interview mit Fritz Lang zur Gewalt in Filmen und Richard Dreyfuss' Lesung von iTunes' Endbenutzer-Lizenzvertrag.
Stichwörter: Apps, Internet, Lang, Fritz, Itunes, Startup

FR, 20.06.2011

In Times mager empfiehlt Harry Nutt zum Thema Sexismus und Fußball, sich mehr um die Großartigkeit deutscher Spielerinnen zu kümmern, zum Beispiel Celia Okoyino da Mbabi. Henning Bolte berichtet von den drastischen Kürzungen in der niederländischen Kultur. Stefan Keim meldet Finanznot bei den Theatern in Bochum und Bonn. Christian Schlüter war auf einer Frankfurter Tagung zu Religion, Ethik und Polik heute.

Besprochen werden die Ausstellung des großen Fotografen Andre Kertesz im Berliner Martin-Gropius-Bau, die Inszenierung des "Eugen Onegin" von Stefan Herheim und Mariss Jansons in Amsterdam, im Frankfurter Mousonturm gezeigte Tanzstücke der Choreografin La Ribot, Harald Demmers Aufführung des "Don Karlos" bei den Bad Vilbeler Burgfestspielen und Dominik Perlers Emotionstheorie "Transformationen der Gefühle" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages).

TAZ, 20.06.2011

Was ist die Lehre aus der Griechenland-Krise? Sich mit den EU-Gegner auseinandersetzen und für die Schaffung der "Vereinigten Staaten von Europa" werben, erklärt Christian Calliess, Professor für Europarecht, im Interview. Nina Apin besucht den Aufbau Verlag in seinem "gediegenen" neuen Domizil am Moritzplatz. Tim Caspar Boehme berichtet über den Vortrag, den Jürgen Habermas letzte Woche an der Humboldt-Universität zum Zustand der Europäischen Union hielt. Barbara Kerneck schreibt den Nachruf auf die russische Bürgerrechtlerin Jelena Bonner. Brigitte Werneburg verteidigt den Künstler Thomas Kilpper, dessen "Pavillon for Revolutionary Free Speech" in Venedig kritisiert wurde (mehr bei Monopol und in der Welt), und mokiert sich über Andreas Platthaus, der in einem Kommentar in der FAZ den Eindruck erweckt hatte, er sei vor Ort gewesen. (Offenbar hatte die Agentur, auf deren Meldung der Artikel beruhte, Kurt Westergaard mit Fleming Rose verwechselt, die FAZ hat den Fehler zwei Tage später korrigiert.)

Besprochen wird eine CD von TV on the Radio.

Und Tom.

FAZ, 20.06.2011

Das Internet wird, je weiter die grenzenlose Liberalisierung der Märkte fortschreitet, immer mehr zum Angriffspunkt für kriegerische Attacken. Jörg Wittkewitz versucht sich an der Darstellung einer solchen hochgerüsteten Welt- und Marktsituation und warnt vor den gefährlichen Folgen einer immer stärkeren Kluft zwischen Nationalstaat und Markt: "Die neue politische Orientierung am Marktgeschehen ruft weltweit die Anhänger der ehernen Werte auf den Plan. Die Arroganz der Märkte radikalisiert sie zunehmend. Und sie versuchen, den Markt da zu treffen, wo er am empfindlichsten ist: in der Welt der Finanzgeschäfte in Lichtgeschwindigkeit."

Der Iran wiederum macht, wie Joseph Croitoru berichtet, jetzt ernst mit der Abschottung des Internet: "Es soll ein landesweites, nach außen abgeschottetes Netzwerk eingerichtet werden, Zugangsmöglichkeiten zum Internet soll es künftig nur für staatliche Behörden, Banken und ausgewählte Firmen geben. Das Konzept des 'Halal-Netzwerks' will das Regime schließlich in die islamische Welt exportieren, etwa nach Malaysia." 

Weitere Artikel: Das Kasperltheater der Trenddiagnosen glossiert Jürgen Kaube. Nicht überzeugen lässt sich Nils Aschenbeck von neuen Hochhausbauten in Zürich und Bremen. In seiner "Klarer Denken"-Kolumne weiß Rolf Dobelli, warum wir uns von Intuitionen verführen lassen. Über eine Reise von Mario Vargas Llosa nach und durch China informiert Mark Siemons. Helwig Schmidt-Glintzer schreibt zum Tod des Sinologen Herbert Franke. Der Nachruf auf den Springsteen-Musiker Clarence "Big Man" Clemons hat Edo Reents verfasst.

Besprochen werden Karin Henkels Münchner "Macbeth"-Inszenierung, Andre Engels Wiener Staatsoperinszenierung von Leos Janaceks "Katja Kabanova", gleich drei dem Künstler Heinz Mack gewidmete Ausstellungen in Mönchengladbach, Düsseldorf und Bonn, die Ausstellung "Who cares? Geschichte und Alltag der Krankenpflege" in der Berliner Charite, und Bücher, darunter Chaim Nolls neuer Roman "Feuer" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 20.06.2011

In den "Nachrichten aus dem Netz" stellt Tobias Moorstedt die Website Silk Road (die man ohne Entschlüsselungssoftware nicht ansteuern kann) als eine Art "Amazon der Unterwelt" vor, wo auch in der digitalen Währung der Bitcoins gehandelt wird: "Die Vorteile einer solchen, digital generierten Währung sind offensichtlich: Das Guthaben der Nutzer kann nicht eingefroren, und die Bitcoins können nicht zurückverfolgt oder besteuert werden. Außerdem sind die Transaktionskosten extrem gering." Auch Wikileaks nimmt Spenden in Bitcoins an. Allerdings unterliegt die Währung den Gesetzen des Geldmarkts. Als vor kurzem große Summen in reales Geld getauscht wurden, sank ihr Wert um ein Drittel.

Weitere Artikel: Burkhard Müller erinnert an die Gründung der Forstakademie im Städtchen Tharandt, in der der Gedanke der nachhaltigen Waldwirtschaft geboren wurde, vor 200 Jahren. Thomas Steinfeld fragt, warum die Europäer so wütend auf die Griechen seien, deren Krise nur repräsentativ für die Krise Europas stehe. Jens-Christian Rabe schreibt zum Tode des Rock-Saxofonisten Clarence Clemons, Erfinder des "röhrenden Saxofons", das bei Bruce Springsteen zum Klischee ehrlich schwitzender Rockmusik wurde. Henning Klüver berichtet über jetzt aufgetauchte angebliche Mussolini-Tagebücher, die aber von einigen Forschern als gefälscht oder manipuliert angesehen werden. Jens Bisky gratuliert dem Schauspieler Dieter Mann zum siebzigsten Geburtstag. Womit Mann am selben Tag geboren wurde wie Stephen Frears, dem wiederum Susan Vahabazadeh gratuliert.

Besprochen werden ein Konzert der Foo Fighters in Berlin, Karin Henkels Inszenierung des "Macbeth" an den Münchner Kammerspielen, neue DVDs und Ereignisse des Poesiefestivals in Berlin.