Heute in den Feuilletons

Erdbeeren und Pflaumen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.06.2011. Den meisten Zeitungen wünschen wir heute einen Fronleichnam. Aber immerhin: Welt und Wall Street Journal bringen Neuestes zu Ai Weiwei. Die Berliner Zeitung annonciert einen Tsunami von Neuerscheinungen zum Kachelmann-Prozess. Die NZZ besucht den 102-jährigen Kinoveteran Manoel de Oliveira, der seit der Einführung des Tonfilms neue Impulse für das Kino vermisst. Verleger und Anstalten führen eine Schlacht von gestern, meinen taz und Perlentaucher. Endlich deutet sich auch eine Friedenslösung für Nahost an. Die Jüdische Allgemeine hat sie von Titanic erarbeiten lassen.

Welt, 23.06.2011

Johnny Erling erzählt die neuesten Neuigkeiten von Ai Weiwei und bringt seine Entlassung aus dem Gefängnis mit dem Europabesuch des chinesischen Premiers Wen Jiabao in Verbindung: "Noch nie hat Chinas Polizei einen von ihr Festgenommenen 'auf Kaution' freigelassen, ein Zeichen für die Verlegenheit, mit der die Behörden nun klein beigeben.""

Weitere Artikel: Matthias Heine hat recherchiert, was es mit den Guy-Fawkes-Masken (Bild) auf sich hat, die durch die Hacker-Bewegung Anonymous in Demonstrantenkreisen populär gemacht wurden. Es handelt sich bei Fawkes um einen katholischen Fundamentalisten, der 1605 das britische Parlament in die Luft sprengen wollte und darum als Freiheitsheld gilt. Für die Leitglosse beobachtet Ekkehard Kern drei ältere Journalisten beim fröhlichen Schwadronieren. Tim Ackermann erzählt vom Projekt einer James-Turrell-Lichtinstallation in einem jüngst wieder belebten ehemaligen Wasserwerk in Grunewald, das von ignoranten Behörden verhindert wird. Hannes Stein erzählt, wie er bei New York ein Atomkraftwerk besichtigte und sich völlig sicher fühlte.

Besprochen werden Opern in Glyndebourne und Ulrich Köhlers Film "Schlafkrankheit" (mehr hier).

Perlentaucher, 23.06.2011

Thierry Chervel schreibt einen Kommentar zur Klage der Zeitungsverleger gegen die Tagesschau-App für Smartphones und kann weder die Position der Verleger noch die der Anstalten teilen: "Im Grunde verhalten sich die Zeitungskonzerne also nicht anders als die öffentlich-rechtliche Anstalten selbst. Sie versuchen im Moment des Verschwimmens der Gattungsgrenzen zwischen den Medien ihren vormaligen Status zu zementieren. Sie handeln in konfliktueller Komplizenschaft auf schrumpfendem Terrain. Als könnten Eisbären die Schollen, die sie als Territorium betrachten, durch den Klimawandel retten."

TAZ, 23.06.2011

Für eine "Schlacht von gestern" hält Steffen Grimberg die Klage der Zeitungsverlage gegen die Tagesschau-App, da sich im Netz und in den Apps alles Journalistische in Wort, Ton und Wackelbild immer mehr ähnelt: "Weil die alte Dreifaltigkeit von gedruckter Presse, Funk und Fernsehen einfach nicht mehr taugt, ist das ein herzlich hilfloses Unterfangen. Bei den wahren großen Playern im Geschäft mit dem Digitalem, wie den 'Googles dieser Welt' kommen sie aus dem Staunen nicht mehr raus. Und in fünf bis sieben Jahren, so die Schätzungen aus der Branche, spricht dann das Bundesverfassungsgericht ein endgültiges Urteil. Mal sehen, ob es dann wenigstens Facebook noch gibt."

Brigitte Werneburg informiert über eine aktuelle Studie zur Situation Berliner KünstlerInnen, die unter anderem steigende Mieten für eine mögliche Abwanderung aus der Stadt ermittelte. Susanne Knaul berichtet über einen von der UN-Flüchtlingshilfe Nahost ausgelobten Kurzfilmwettbewerb für palästinensische Jugendliche, dessen Ergebnisse jetzt in Ramallah vorgestellt wurden.

Besprochen werden die Ausstellung "Gateways - Kunst und vernetzte Kultur" des Goethe-Instituts in Tallinn, Ulrich Köhlers Film "Schlafkrankheit" über die Fremdheitserfahrungen von zwei Europäern in Afrika, der Film "Die Frau, die singt" des kanadischen Regisseurs Denis Villeneuve, Brad Furmans Gerichtsthriller "Der Mandant" und die DVD von Jerzy Skolimowskis Film "Essential Killing".

Und Tom.

NZZ, 23.06.2011

Patrick Straumann besucht das portugiesische Regie-Urgestein Manoel de Oliveira, der sich mit 102 Jahren noch an seine Stummfilme erinnert. Große neue Impulse, meint Oliveira, gab es seit den Anfängen aber nicht: "Die Antwort ist ernst und ironisch zugleich: 'Fernando Pessoa sagte einst, alle Überseegebiete seien portugiesisch, weil Portugal das System der Meereserkundung erfunden habe. Mit dem Film verhält es sich ähnlich. Das System wurde von den Brüdern Lumiere, von Georges Melies und Max Linder erfunden.'"

Ho Nam Seelmann unterhält sich mit den beiden koreanischen Dichtern Kim Kwang Kyu (mehr hier) und Lee Hye Kyoung (mehr hier) über den Stand der Lyrik in ihrem Land. Frau Lee erzählt, wie sie zum Dichten kam: "In Korea sagt man: 'Wer Geschichten liebt, der verarmt.' Daher waren meine Eltern einerseits erfreut, aber andererseits auch besorgt, als sie mich ständig beim Lesen fanden. Gegen mein Schreiben hatten sie jedoch nie Einwände erhoben. Nur als ich meinen Lehrerberuf an den Nagel hängte, um mich ganz dem Schreiben zu widmen, sagte mein Vater: 'Wenn du schon schreiben willst, dann bitte nichts Vulgäres.'"

Karin Hellwig besucht im Madrider Prado eine Ausstellung mit Werken des jungen Jusepe Riberas. Besprochen werden Philippe Le Guays Komödie "Les Femmes du 6e etage" und John Cheevers Roman "Die Lichter von Bullet Park" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 23.06.2011

Der israelische Historiker Benny Morris glaubt in einem recht düsteren Interview, das Christian H. Meier für den Cicero führt, kaum, dass die Palästinenser je bereit sein werden, Israelis in Palästina zu akzeptieren: "Auf jeden Fall werden, solange diese Mentalität fortbesteht, die Führer der Palästinenser keinem Kompromiss zustimmen können, selbst wenn sie es aufrichtig wünschten. Sie würden am nächsten Tag auf der Straße erschossen werden, wenn nicht schon am selben Tag."

Morris weiß noch nicht, dass der Nahostkonfliket nun doch vor einer Lösung steht. Die Titanic hat für die Jüdische Allgemeine einen Friedensplan entwickelt: "Die Leitidee dabei war eine weitgehende Modularisierung der Verwaltungseinheiten. Israel und die palästinensischen Autonomiegebiete werden in fünfzig gleich große, sich selbst verwaltende Planquadrate eingeteilt, die turnusmäßig gegeneinander verschoben werden - eine Idee, die auf das Brettspiel 'Das verrückte Labyrinth' zurückgeht. Langfristige Grenzstreitigkeiten sind dadurch unmöglich, weil jeden Monat sowieso neue Grenzen gelten."

Die russischen Juden, die heute die jüdischen Gemeinden dominieren, werden das Bild von den Juden in Deutschland verändern, meint Michael Wuliger ebenfall in der Jüdischen Allgemeinen und illustriert seine These mit einer Episode, die sich vorm Reichtsag abspielte: "Hunderte Menschen stehen an, um die Glaskuppel auf dem Dach des Parlaments zu besichtigen. Die Schlange kommt nur langsam voran. Eine junge Frau, russischstämmige Jüdin, sagt zu ihrer Begleiterin: 'Mein Opa ist 1945 hier schneller reingekommen.'"

Sehr informativ berichtet das Wall Street Journal über die gestrige Freilassung Ai Weiweis: "Mr. Ai said his health was fine and thanked reporters for their support as he returned to his studio late Wednesday with his mother and his wife, according to witnesses. He added that he wasn't able to say more under the conditions of his bail. 'I can't say much. I can say I'm out. I'm on bail. But I can't say anything more under the conditions of my release,' he told The Wall Street Journal by telephone. Asked how long the media ban was in place, Mr. Ai said: 'One year, at least.'"

Aus den Blogs, 23.06.2011

Ralf Bendrath kommentiert in Netzpolitik.org neue europäische Regelungen zu Internetsperren. Zum Glück ist es nicht so drastisch gekommen wie befürchtet, aber "die Staaten, die bereits sperren, (können) das weiterhin ohne gesetzliche Grundlage machen. Es muss allerdings die Möglichkeit zur gerichtlichen Überprüfung geben, was indirekt eine Rechtsgrundlage erfordert. Besonders widerwillig bei den Safeguards waren offenbar Großbritannien, Schweden und Spanien."

Es gibt eine neue Krankheit und zum Glück auch gleich eine neue Therapie, meldet Brian Moylan in Gawker: "Did you know that spending too much time looking down at your Blackberry and texting is going to give your neck ugly and unsightly wrinkles? It's true! It's called Blackberry Neck. Says who? Well, the lady who came up with the treatment to fight Blackberry Neck."

Wolfgang Hottner fährt für den Umblätterer mit dem Zug von Los Angeles nach San Francisco: "Tausende mexikanische Arbeiter ernten vor unseren Augen Erdbeeren und Pflaumen. Einige Passagiere winken ihnen zu, sie winken nicht zurück."

Berliner Zeitung, 23.06.2011

Marianne Quoirin bereitet uns psychologisch auf einen Tsunami von Neuerscheinungen zum Kachelmann-Prozess vor. Ob Alice Schwarzer sich traut, ist noch nicht klar. Schon erschienen ist aber das Buch des Gerichtsreporters Thomas Knellwolf vom Tages-Anzeiger in Zürich, das Quoirin empfiehlt: "Die Rolle der Medien untersucht er kritisch. Auch wer das Verfahren und dessen Begleitumstände genau verfolgt hat, wird noch manche Überraschung erleben: wie etwa Informationen von einer ausgewiesenen Satire-Webseite als Fakten in Zeitungen verbreitet wurden."