Heute in den Feuilletons

Das Weibchen mit seinem leuchtenden Hinterleib

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.06.2011. Wie frei ist Ai Weiwei?, fragt die Welt und kommt zu der Antwort: nicht besonders. Ein Jahr lang muss er stillhalten, um die Bedingungen der Freilassung auf Kaution zu erfüllen. Im Deutschlandradio freut sich Tilman Spengler über die Fortschritte in der chinesischen Rechtspraxis: Verglichen mit dem Massaker am Tien an Men Platz geht's heutzutage doch gesittet zu! Und in der SZ macht Spengler seiner Wut über die westlichen Proteste gegen Ais Verschleppung Luft. In der FAZ regt Herta Müller die Gründung eines "Museums des Exils" an. Die NZZ informiert: In diesen Tagen um Johanni ist Paarungszeit bei den Glühwürmchen.

Welt, 24.06.2011

"Wie frei ist Ai Weiwei?", fragt China-Korrespondent Johnny Erling im Aufmacher des Feuilletons und nennt die Konditionen der Kaution, die Ai auferlegt sind: "Dazu gehören, so zählt der Sprecher des Außenministeriums auf, dass Ai 'den Wohnort, wo er lebt' ohne Erlaubnis nicht verlassen darf, Polizeivorladungen unverzüglich nachkommen muss, kein Beweismaterial vernichten und keine Zeugen beeinflussen darf. Maximal kann Ai auf Kaution ein Jahr lang zu Hause bleiben, bis das Verfahren entweder eröffnet oder niedergeschlagen wird."

Weitere Artikel: Lucas Wiegelmann liest den vertraulichen Bericht des Bundesrechnungshofs zur Kartenvergabe in Bayreuth und fand ein "ein undurchsichtiges System von Bevorzugungen, Gefälligkeiten und kumpelhaften Handschlag-Verabredungen". Hannes Stein ist nicht gerade begeistert von Bonos Beitrag zu dem missglückten "Spiderman"-Musical am Broadway. Marc Reichwein stellt in seiner Feuilletonkolumne ein Fußballsammelalbum der besten Feuilletonistinnen Deutschlands zusammen. Josef Engels unterhält sich mit dem Saxofonisten Branford Marsalis und seinem Pianisten Joey Calderazzo über ihr neues Album. Clemens Bombsdorf besucht eine von Peter Zumthor entworfene Gedenkstätte der Hexenverbrennung (mehr hier) in Nordnorwegen. Und Thomas Kilinger erzählt, was es mit "Pottermore", einer interaktiven Harry.Potter-Buchverkaufsmaschine im Internet auf sich hat.

Aus den Blogs, 24.06.2011

Martin Weigert greift in Netzwertig den Vorschlag des Bloggers Nico Brünjes auf, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten sämtliche Inhalte ihrer Sender per Schnittstelle allen Nutzern im Netz - auch den quengelnden Verlagen - zur Veröffentlichung anbieten: "Ich finde diesen Vorschlag faszinierend. Er würde die sich durch die Digitalisierung gebotenen neuen technischen Möglichkeiten dafür einsetzen, die vom Gebührenzahler finanzierten Inhalte zur kollektiven Nutzung zugänglich zu machen, und böte gleichzeitig den Verlagen die Gelegenheit, Qualitätscontent der öffentlich-rechtlichen Programme kostenfrei zur Ergänzung der eigenen Inhalte zu verwenden." Mehr zum Streit zwischen Verlagen und Anstalten auch hier, im Perlentaucher.
Stichwörter: Digitalisierung, Nico

TAZ, 24.06.2011

"Mla" meldet die Verleihung der Grimme-Online-Preise, von denen einer auch an GuttenPlagWiki für seine Recherchen zur plagiierten Doktorarbeit des kar Theodor zu Guttenberg ging.

Besprochen werden das Projekt "The Morning Line" in der Thyssen-Bornemisza Art Foundation in Wien, die CD-Box "Dass nichts bleibt, wie es war", die die Geschichte des deutschen Arbeiterlieds von 1844 bis 1990 dokumentiert, das Album "Bon Iver" des amerikanischen Singer-Songwriter-Projekts Bon Iver und der Film "Mr. Nice" von Bernard Rose über den Briten Howard Marks, der in den Siebzigern und Achtzigern gut zehn Prozent des gesamten Welthandels an Haschisch und Marihuana kontrollierte.

Und Tom.
Stichwörter: Bon Iver, Marihuana, Wien, Haschisch

NZZ, 24.06.2011

Andreas Diethelm spürt am Zürcher Waidberg den Großen und Kleinen Glühwürmchen nach, in diesen Tagen, "um Johanni", ist Paarungszeit: "Am Boden oder auf einem niedrigen Blatt sitzend, signalisiert das Weibchen dem männlichen Überflieger die Position mit seinem leuchtenden Hinterleib. Sticht diesem die U-förmige Landemarkierung in seine riesigen Augen, wird es sofort schwach: Es lässt sich augenblicklich und dabei recht zielgenau fallen."

Weiteres: Sieglinde Geisel besucht die Ausstellung "Gute Geschäfte" über den Berliner Kunsthandel von 1933 bis 1945 im Centrum Judaicum. Marc Zitzmann besichtigt eine der Couturiere Madame Gres gewidmete Retrospektive im Pariser Musee Bourdelle. Ho Nam Seelmann erklärt, warum Koreaner gegen die Entlassung eines Fernsehmoderators protestieren, indem sie sich den Kopf kahlscheren. Markus Ganz unterhält sich mit dem Jazzrock-Gitarristen John McLaughlin, der zusammen mit Santana das Montreux Jazz Festival eröffnen wird.

FR, 24.06.2011

Norbert Mappes-Niediek berichtet, dass der Buchmarkt in den Ländern Ex-Jugoslawiens komplett zusammengebrochen ist. "Es könne schon einmal sein, dass etwa eine Buchhandlung in Montenegro zwei oder drei Bücher aus seinem Verlag bestelle, sagt der Zagreber Verleger Nenad Popovic. 'Aber für die zwei, drei Bücher verbringe ich dann einen ganzen Tag auf dem Zollamt, um alle Formulare auszufüllen.'"

Weiteres: Kito Nedo hat sich im Fotomuseum Winterthur eine Ausstellung mit Bildern Ai Weiweis angesehen, will sich aber lieber nicht festlegen, was sie davon hält. Jürgen Otten berichtet vom Opernfestival in Riga. Besprochen werden die Ausstellung "Geheimgesellschaften" in der Frankfurter Schirn, das neue Album "4" von Beyonce (laut Thomas Winkler immer noch die umsatzstärkste Musikerin der Welt), ein Konzertabend mit Christiane Rösinger in Frankfurt und Dieter Henrichs Studie "Werke im Werden" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Weitere Medien, 24.06.2011

Im Gespräch mit dem Deutschlandradio Kultur über die provisorische Freilassung Ai Weiweis freut sich Tilman Spengler über die Fortschritte in der chinesischen Rechtspraxis: "Wenn Sie es vergleichen mit dem, was vor 20 Jahren passiert ist oder vor 15 Jahren noch, dann wird man sagen müssen, dass das natürlich jetzt sehr viel gesitteter zugeht in unserem Sinne von bürgerlicher Sitte und Anstand im Rechtsbereich."

SZ, 24.06.2011

Der Sinologe Tilman Spengler, der gemeinsam mit den chinesischen Behörden ein Gesprächsprogramm zur notorischen "Aufklärungs"-Ausstellung in Peking organisierte und dann selber ausgeladen wurde, macht seiner ganzen Wut über die westlichen Proteste gegen die Verschleppung Ai Weiweis Luft. Er persönlich zieht dem Protest in der Öffentlichkeit "stille Diplomatie" vor: "Es ist nämlich ein so bekannter wie bitterer Nebeneffekt, dass ausländischer Protest von vielen Bürgern Chinas als Angriff auf die eigene Art empfunden wird. Nationalistische Propagandisten haben daraus schon immer ihren Gewinn einstreichen können. Man erinnere sich an die Reaktionen auf die Empfangsdiplomatie westlicher Staatslenker gegenüber dem Dalai Lama." Kia Vahland weist freilich darauf hin, dass dem Künstler Ai Weiwei mit Schweigegebot und Reiseverbot sozusagen die Hände gebunden bleiben.

Weitere Artikel: Camilo Jimenez unterhält sich mit dem/r intergeschlechtlichen Künstler_in und Aktivist_in InsA Kromminga über das Intergeschlecht und die Kunst - Anlass sind die derzeit stattfindenden Beratungen des Ethikrats zur Intergeschlechtlichkeit. Eva Elisabeth Fischer berichtet vom Hollandfestival für Tanz in Amsterdam und von nicht nur dort stattfindenden Protesten gegen den angedrohten Kulturförderungskahlschlag in den Niederlanden. Recht enthusiasmiert annonciert Kristina Maidt-Zinke die Gründung eines Festivals für Barockmusik in Venedig. Eine Münchner Tagung zum Thema "Immersion" in Kino und Kunst referiert Antonia Kurz. Wie in Göttingen unter der Regie von Julia Roesler Kinder Soldatenleben auf der Bühne darstellen sollen, das weiß vorab schon Marco Pfingsttag. Über das Spam-Problem, das Amazons Kindle-Shop hat, informiert Michael Moorstedt. Joseph Hanimann gratuliert der Kulturtheoretikerin Julia Kristeva zum Siebzigsten.

Besprochen werden Raul Ruiz'viereinhalbstündiges Meisterwerk "Misterios de Lisboa", das auf dem Münchner Filmfest gezeigt wird (Fritz Göttler rät zum Sehen und Nochmalsehen) und Bücher, darunter drei Neuerscheinungen zu Friedrich Nietzsche (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 24.06.2011

Herta Müller regt in einem offenen Brief an Angela Merkel die Gründung eines "Museums des Exils" an, das einem künftigen Museum der Vertreibungen an die Seite gestellt werden solle - denn das Exil, so Müller, war die erste Vertreibung: "Heutzutage gibt es viele unterschiedliche Zweige der Exilforschung, aber es gibt kein Zentrum, in dem sich anschaulich die heterogenen Erfahrungen des Exils als Teil der deutschen Geschichte zeigen lassen." Jürgen Kaube schließt sich dem im eigenen Artikel an.

Differenzierung für China fordert Mark Siemons im Fall Ai Weiwei und positioniert sich damit gegen eine Symbolpolitik, die "an den Strukturen, die einen Fall wie den Ais möglich machten und weiterhin möglich machen, im Einzelnen gar nicht interessiert ist."

Weitere Artikel: In ihrer Maschinenraum-Kolumne liefert die Informatikerin Constanze Kurz Hintergründe zur Datenanalyse-Software, die in Dresdenzur Mobilfunk-Ausschnüffelung der Teilnehmer einer Demonstration gegen Rechtsextremismus angewendet wurde. Einer sehr detaillinteressierten Betrachtung unterzieht Gina Thomas Thomas Struths neue Fotografie von Queen Elizabeth II. samt Prinzengatten, die derzeit im Rahmen der Ausstellung "The Queen: Art and Image" in Edinburgh zu sehen ist. Die üppige Ausstellung "Franz Liszt - Ein Europäer in Weimar" hat Jan Brachmann besucht. Von kunsthistorischen Kontroversen um die Echtheit einer kürzlich vom Museum Schnütgen erworbenen Steinmadonna berichtet Andreas Rossmann. Gerhard Stadelmaier ruft dem Theatermann Norbert Schwientek nach.

Besprochen werden der Film "Schlafkrankheit" von Ulrich Köhler, sowie Bücher, darunter Louise Erdrichs Roman "Schattenfangen", der Ingeborg Harms so gar nicht gefallen wollte (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).