Heute in den Feuilletons

Zur Nachhut ist ein Kentaur bestimmt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.06.2011. Bauarbeiten bei Jungle World! Saskia Sassen tauscht das historische Subjekt aus. Der Freitag mag dem Gejammer der Zeitungsverleger über die Apps der Tagesschau nicht glauben. Rupert Murdoch verkauft MySpace, dessen Wert laut Engagdet von 580 auf 35 Millionen Dollar gesunken ist. Für die Welt ist Neo Rauch der Meister der deutschen Verzagtheit. Unterdessen wandelt Öffentlichkeit Struktur. Die Zeit steht am Rand und staunt. Und Hilfe! Das SZ-Feuilleton schrumpft. Wegen eines zähen Streiks, über den die Zeitungen ebenso zäh schweigen.

Jungle World, 30.06.2011

Linke aufgepasst. Das historische Subjekt wird ausgetauscht. Proletariat und Bougeoisie haben ausgedient, meldet Saskia Sassen im Gespräch mit Moritz Wichmann: "Ich sehe heute zwei andere historische Subjekte. Das eine ist das, was wir der Einfachheit halber 'das globale Kapital' nennen können. Damit meine ich einen Mix aus Technologien, Netzwerken, Wohlstand und Menschen, nämlich Managern, Eliten, Professionals et cetera. Das andere historische Subjekt ist ein Amalgam aus benachteiligten Menschen. Die Armen, unterbezahlte Arbeiter und Arbeitslose, Studenten, die alles für ihre Bildung opfern und dann keinen Job bekommen, die Söhne und Töchter der verarmenden Mittelklasse, Immigranten, durch Rassismus, Homophobie und anti-queeres Ressentiment minorisierte Menschen, Menschen die enteignet wurden, das Lumpenproletariat."

Freitag, 30.06.2011

Ganz und gar nicht folgen mag Jakob Augstein dem Klagegesang Mathias Döpfners' über die Tagesschau-App des Ersten, die angeblich eine unbillige Konkurrenz zu entsprechenden Angeboten der Zeitungsverlage darstellt: "Es geht den Verlagen nicht ums Überleben, sondern um ihre Vormacht. Sie kämpfen an zwei Fronten: nach oben gegen die großen Institutionen der öffentlich-rechtlichen Sender und nach unten gegen die Blogger und Netz-Aggregatoren. Für Schützenhilfe wenden sie sich vertrauensvoll an die Politik." Mehr zum Thema im Ententeich.

Im Kulturteil schildert Helmut Schödel Großmannssucht und Schlendrian in der Wiener Kultur- und besonders Theaterpolitik.

Aus den Blogs, 30.06.2011

Eine kurze Zeit lang war Rupert Murdoch ein Internetfan. Damals kaufte er MySpace, das sein Konzern dann gründlich herunterwirtschaftete. Nun hat er MySpace wieder verkauft, meldet Brian Heater in Engagdet. Käufer ist die Firma Specific Media: "The company scored MySpace for the rock-bottom price of $35 million, a fraction of the $580 million its predecessor paid a half-dozen years ago."

Die Nachtkritik brigt eine kleine Serie über Kulturstreichungen in Europa. In Rom ist das Teatro Valle besetzt (wo einst Pirandellos "Sechs Personen suchen einen Autor" auraufgeführt wurde). Die Schauspielerin Eva Löbau, die gerade als Stipendiatin der Kulturstiftung der Länder in Rom ist, berichtet: "Die Besetzer, Arbeiter und Arbeiterinnen des Theaters, Lavoratrici e Lavoratori dello Spettacolo, wie sie sich nennen, fühlen sich von keiner politischen Instanz mehr vertreten. Sie sehen die Vorgänge am Teatro Valle als emblematisch für den Zustand der Kultur, der Schulen und Universitäten Italiens." Vor ein paar Tagen erschien schon ein Artikel über die ratzekahle Kulturpolitik der Rechtspopulisten in den Niederlanden.

TAZ, 30.06.2011

Alexander Haas hat sich beim Festival Impulse sichtlich gelangweilt: überall Performance, nirgends Drama. "Zehn Produktionen sind bei den Impulsen eingeladen. Keine davon inszeniert ein Stück. Schon gar nicht ein zeitgenössisches."

Weitere Artikel: Bahman Nirumand berichtet über die Verhaftung der Filmemacherin Mahnas Mohammadi und das Verschwinden der iranischen Fotoreporterin und Menschenrechtlerin Maryam Majd, die die Fußball-WM der Frauen fotografieren wollte: "Offensichtlich gehen nun die Sicherheitskräfte im Iran verstärkt gegen Frauenrechtlerinnen vor." Ekkehard Knörer unterhält sich mit dem italienischen Regisseur Michelangelo Frammartino über dessen Film "Vier Leben".

Besprochen werden die Verfilmung von Haruki Murakamis Roman "Naokos Lächeln" durch den französisch-vietnamesischen Regisseur Tran Anh Hung, Peter Weirs Film "The Way Back - Der lange Weg" (mehr hier) über eine Flucht aus dem Gulag, die Komödie "Larry Crowne" von und mit Tom Hanks und eine Klanginstallation des Künstler-Duos Ina Geißler/Fabian Lippert, die an den Eingang zum Berliner Martin-Gropius-Bau bis 1989 erinnert.

Und Tom.

FR, 30.06.2011

Artur Becker schreibt zum 100. Geburtstag des Dichters Czeslaw Milosz. Besprochen werden die Ausstellung "Der Meister von Naumburg" in Naumburg und einige Filme, darunter Tom Hanks' Film "Larry Crowne" mit Julia Roberts.

Welt, 30.06.2011

Als Meister der deutschen Verzagtheit erscheint Neo Rauch dem Kritiker Hans-Joachim Müller, nachdem er die von Werner Spies kuratierte Schau in Baden-Baden gesehen hat. Es gibt kein optimistisches Bild darin, sagt Müller, und die erste Plastik Rauchs heißt "Nachhut": "Nachhut ist das Gegenteil von Avantgarde. Zur Nachhut ist ein Kentaur bestimmt, ein Zwitter aus vorgeschichtlicher Zeit, vorne Springerstiefel, hinten Tierläufe. Das Fell schaut ihm unter dem Jackett aus dem 19. Jahrhundert hervor, und links und rechts trägt er Benzinkanister, und nur er weiß, wie viel Energie noch im Mythos steckt." In einem zweiten Artikel verteidigt Cornelius Tittel den Kurator, Kritiker und Kunstexperten Werner Spies, der einige Max-Ernst-Fälschungen für echt befand und nicht nur für die Gutachten, sondern auch beim Weiterverkauf der Werke eine Provision bekam.

Weitere Artikel: In der Leitglosse urteilt Heimo Schwilk streng über französische Intellektuelle, die über den westlichen Libyen-Einsatz streiten. Reinhard Wengierek gratuliert Otto Sander zum Siebzigsten. Eckhard Fuhr und Andreas Rosenfelder sind pro beziehungsweise contra Humboldtbox.

Besprochen wird der Film "Larry Crowne" (mehr hier) mit Julia Roberts und Tom Hanks.

NZZ, 30.06.2011

Knapp vor dem Ende einer ausführlichen Liebeserklärung an Frankfurt/Main kommt Ulf Erdmann Ziegler (leider nicht online) auf den kritischen Punkt: die Retrosehnsucht, die sich im Plan zur Restauration einer Altstadt äußert, die längst keine mehr ist. Gleichzeitig dürfen in der "authentischen Altstadt", Alt-Sachsenhausen, Investoren Fachwerkhäuser zerstören, ohne dass jemand eingreift: "Die Frankfurter stehen vor einem Identitätsrätsel, den Berlinern (nur darin) nicht unähnlich. Auch in Berlin hat man ein neuzeitliches Gebäude, das als Zumutung galt, abgerissen, sich dann ein Schloss zurückgewünscht und kann es mit Sinn nicht füllen."

Weitere Artikel: Einen gewissen Formmangel macht Dirk Pilz bei den Autorentheatertagen in Berlin aus. Michelle Ziegler beschreibt die Umstrukturierung des Orchesters in Biel.

Besprochen werden das begehbare Stasi-Hörspiel "50 Aktenkilometer" von Rimini Protokoll in Berlin, Kasper Holtens Opernfilm "Juan", Icar Bollans Politfilm "Tambien la lluvia" und Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman "Wiedersehen in Fiumicino" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 30.06.2011

Streikbedingt gibt es heute in der SZ nur zweiseitiges Schrumpffeuilleton. Darin berichtet Jens Bisky von seinem Besuch des Stadtschloss-Promotion-Projekts Humboldt-Box, die er eigentlich nur der auf Berlin gebotenen Aussichten wegen dringend empfiehlt. "Jhl" meldet, dass der Supreme Court der USA die Altersbeschränkung für Videospiele für verfassungswidrig erklärt hat. Hilmar Klute gratuliert dem Schauspieler Otto Sander zum Siebzigsten.

Besprochen werden Calixto Bieitos Berliner Inzsenierung von Francis Poulencs "Gespräche der Karmeliterinnen", die Dieter-Meier-Ausstellung in der Hamburger Sammlung FalckenbergTran Anh Hungs Haruki-Murakami-Verfilmung "Naokos Lächeln" und Hans-Ernst Schillers Studie "Ethik in der Welt des Kapitals" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 30.06.2011

Nach Besuch der Ausstellung mit fotografischen Werken Ai Weiweis in Winterthur kann eine begeisterte Rose-Maria Gropp nur konstatieren, dass das nun über den Künstler verhängte Redeverbot seine Kunst in den Kern trifft: "[Es] wird die mit den Jahren zunehmende Schärfe erfahrbar, mit der Ai insistiert und interveniert - ein Störer, der den Stachel immer weitertreibt."

Mark Siemons wiederum spürt sehr deutlich das Bedauern des offiziellen China darüber, dass "die politischen Empfindungen vieler Deutscher nicht Schritt halten mit dem Niveau, das die wirtschaftliche Zusammenarbeit erreicht hat" - wie es unlängst als einer der wenigen ein Deutschlandforscher der Universität Peking explizit formuliert hat.

Weitere Artikel: Unruhen sind nach dem sehr plötzlich verkündeten Baubeginn für die Maghrebiner-Brücke in Jerusalem zu befürchten, vermeldet Joseph Croitoru. Einen Streit um das heute noch Politische von Picassos anti-franchistischer Kunst glossiert Paul Ingendaay. Von den Feierlichkeiten zum Milosz-Jahr (der Dichter hätte 2011 seinen 100. Geburtstag gefeiert) berichtet Marta Kijowska. Patrick Bahners schreibt zum Tod des britischen Historikers John Ehrman. Auf der Kinoseite fordert Rüdiger Suchsland von Diana Iljine, der kommenden Direktorin des Münchner Filmfests angesichts des aktuell übervollen Programms: Ausmisten!

Auf der Medienseite erzählt Daniel Grindsted, wie das ZDF ein mit dem Internet aufgewachsenes Publikum erobern möchte: zum Beispiel durch interaktive Serien nach dem Vorbild von "The Truth About Marika", eine Mischung aus Fernsehserie und Realityserie, bei der sich Tausende Schweden auf Schnitzeljagd begaben (mehr hier).

Besprochen werden ein Konzertabend des aufgrund der niederländischen Kulturförderstreichpläne in seiner Existenz gefährdeten Amsterdamer Jazz-und Sifonieorchesters Metropole Orkest mit Musik von Markus Stockhausen, die Münchner Uraufführung von Miroslav Srnkas Kammeroper "Make No Noise", eine Einspielung von Tschaikowskys Klaviertrio mit Gidon Kremer, Khatia Buniatishvili und Giedre Dirvanauskaite, Michael Bays jüngster "Transformers"-Streich und Bücher, darunter Hedi Kaddours Roman "Savoir-vivre" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 30.06.2011

Von wegen: das öffentliche Leben befindet sich im Niedergang. Es wird Zeit, Band II des "Strukturwandels der Öffentlichkeit" zu schreiben, findet Hanno Rauterberg. Lange nicht mehr war der Drang nach draußen so groß wie heute. Und schuld ist das Internet: "Eine stille Anarchie scheint viele Menschen zu erfassen, vor allem die jüngeren: Sie begreifen noch die hässlichsten Parkhäuser als Übungsplätze für athletische Kunststücke (Parcouring), verwandeln betonierte Straßenränder in kleine Blumenbeete (Guerilla-Gardening), machen aus Stromkästen Kunstwerke (Street-Art) oder erklären verwaiste Stadtplätze zur neuen Partyzone (Outdoor-Clubbing). Und wiederum ist das Internet, sind Facebook und Twitter oft der Katalysator. Hier gibt es die nötigen Hiweise, hier wird überwunden, was als städtische Anonymität lange gefürchtet war."

Weitere Artikel zum Internet: Nina Pauer stellt die Website Fanslaves vor, wo Facebook-Aufständische ihre "Likes" verkaufen. Und Kilian Trotier porträtiert Kathrin Fricke alias Coldmirror, deren Videos bei Youtube millionenfach angeklickt werden.

Außerdem: Wim Wenders hat eine sehr schöne kleine Erinnerung an Peter Falk geschrieben, seinen "ex-angel". Eine ganze Seite ist dem noch nicht veröffentlichten und auch von Rezensenten noch nicht gelesenen neuen Roman von Charlotte Roche gewidmet. Moritz von Uslar schreibt über seine Reise ins geplagte Griechenland: "Einen wirklich brillanten Satz spricht eine junge Lyrikerin: 'Wir können das Land dadurch verändern, dass wir Steuern zahlen.'" Thomas Assheuer, ein Bild Ai Weiweis vor sich, notiert: Die Menschenrechte "sind das letzte Ideal aus den Beständen der Aufklärung". Nina Pauer schreibt einen hübsch respektlosen Text über die Einweihung von Imi Knoebels Fenster für die Kathedrale in Reims: "Die Exzellenz? Der Künstler, Gott, Frankreich?" Elisabeth von Thadden berichtet über den Hegel-Kongress in Stuttgart. Evelyn Finger unterhält sich mit "Eure Heiligkeit, Herr Shankar".

Besprochen werden Dieter Wedels Inszenierung des "Joseph Süß Oppenheimer" mit Rufus Beck in der Hauptrolle in Worms, die Ausstellung "Der Naumburger Meister" (der offenbar Franzose war) in Naumburg, die Ausstellung zum 200. Geburtstag von Franz Liszt in Weimar (die mit der Engherzigkeit der Stadt ziemlich unkritisch umgeht, findet Volker Hagedorn), Nanouk Leopolds Film "The Brownian Movement" und Bücher, darunter die Urfassung von Ernest Hemingways "Paris, ein Fest fürs Leben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Politikteil meint Roberto Saviano: Ein Aufbruch findet statt in Italien, "es schmeckt nach liberaler Revolution".