Heute in den Feuilletons

Nur Freaks fühlen sich permanent untervernetzt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.07.2011. SZ, FR und Welt verfolgten auf Schloss Elmau eine unter anderem mit Daniel Cohn-Bendit und Jürgen Habermas besetzte Tagung zur Frage des Antisemitismus in der deutschen 68er-Bewegung.  Die NZZ hat einen Dokumentarfilm von Nicolae Margineanu über die rumänischen Foltergefängnisse nach dem Krieg gesehen. Die taz glaubt nicht an Google Plus. Und die neueste Sensation: Der Prozess gegen Dominique Strauss-Kahn dürfte in sich zusammenbrechen, das Zimmermädchen hat gelogen, meldet die New York Times.

Weitere Medien, 01.07.2011

Tja, die Unschuldsvermutung hat doch Sinn. Der Prozess gegen Dominique Strauss-Kahn könnte in sich zusammenbrechen, berichten mehrere Reporter der New York Times. Das guineische Zimmermädchen, so die Ermittler, hat in der Vorbereitung des Prozesses mehrfach gelogen. Mehr noch: "According to the two officials, the woman had a phone conversation with an incarcerated man within a day of her encounter with Mr. Strauss-Kahn in which she discussed the possible benefits of pursuing the charges against him. The conversation was recorded. That man, the investigators learned, had been arrested on charges of possessing 400 pounds of marijuana. He is among a number of individuals who made multiple cash deposits, totaling around $100,000, into the woman's bank account over the last two years." "Wow!" - so lauten die ersten Kommentare auf Twitter. Die Meldung kam gestern Abend New Yorker Zeit. Seth Abramovitch kommentiert bei Gawker: "Yeah, it's going to be tough to convince a jury of one's credibility after the prosecutor plays them a conversation that begins, 'So tell me, Jimmy the Snake. What do you think are my best sexual-assault-pursuing options?'"

Lady Gaga ist in China extrem populär. Demnächst tritt sie zum ersten Mal in Taiwan auf. Eine Initiative von Künstlern fordert laut change.org sie auf, sich für Ai Weiwei einzusetzen."We the signatories of this petition call upon Lady Gaga to use her position as an international star and the platform of her upcoming visit to Taiwan to demand that the People's Republic of China immediately and without delay remove the one-year gag order and travel restrictions imposed on artist Ai Weiwei as a condition of his release on June 22."

Welt, 01.07.2011

Richard Herzinger verfolgte auf Schloss Elmau ein Kolloquium zur deutschen 68er-Bewegung und ihrem Verhältnis zu jüdischen, oft aus der Emigration zurückgekehrten Philosophen. Gerade die messianischen Denker unter ihnen wie Ernst Bloch, Herbert Marcuse und die Heiligenfigur Walter Benjamin lieferten Munition für spätere Israelkritik, erläutert Herzinger mit Verweis auf einen Beitrag des Philosophen Christoph Schmidt: "Wurde doch die Staatsgründung Israels von linksmessianischen Juden wie Erich Fried als Verrat am 'spirituellen' Judentum aufgefasst. Qua Identifikation mit dem 'imaginierten Juden' der Utopie konnten Linke sich guten Gewissens gegen die 'real existierenden Juden' wenden. In dieser Logik hatte, wie Christoph Schmidt sarkastisch feststellte, 'nur der messianische Revolutionär die wahre Bedeutung von Auschwitz verstanden, während die meisten Überlebenden von Auschwitz, ob in der Jüdischen Gemeinde Berlins oder in Israel, ins imperialistische Lager übertraten'."

Weitere Artikel: Thomas Schmid hängt in der Leitglosse verschwindenden Dingen wie der Telefonzelle nach, "die aus dem öffentlichen Raum einen Mikrokosmos von Privatheit ausschnitt". Berthold Sewald unterhält sich mit Mayke Wagner, die eine neue Außenstelle des Deutschen Archäologischen Instituts in Peking leitet. Manuel Brug freut sich auf die Konzerte des Rheingau Musik Festivals. Marc Reichwein greift in seiner Feuilletonglosse einen neumodischen Gebrauch des Wortes "gefühlt" auf ("gefühlte 90 Prozent aller Elten halten ihr Kind für hochbegabt.") Alan Posener liest ein Gutachten (Auszüge) der Journalistin Ariane Mohl, das heute vor der Enquete-Kommission des Brandenburger Landtags diskutiert wird - es zeigt ungute SED-Kontinuitäten besonders in den Regionalblättern der neuen Länder auf.

NZZ, 01.07.2011

Der rumänische Dokumentarfilmer Nicolae Margineanu hat eine Reihe von Interviews mit den letzten Überlebenden der Folterungen in Pitesti auf DVD (mehr hier) veröffentlicht. Markus Bauer gibt einen kleinen Einblick in das grausame Geschehen: "Nach ihrer Ankunft begannen im Dezember 1949 [Eugen] Turcanu und seine Gesellen unter den fadenscheinigen Bezeichnungen 'Reedukation' oder 'Demaskierung' ein traumatisierendes Terrorregime, das als eine Gehirnwäsche mit brutalsten Mitteln die jungen Gefangenen ihrer Überzeugungen und Werte beraubte, um sie dann selbst zu Folterern zu machen. Der große, bis zu hundert Gefangene aufnehmende Saal 'Zelle 4-Spital' wurde zu einem Synonym für ein 'Experiment', das den jungen Menschen ihre Identität brutal wegfolterte, so dass sie Zeit, Raum, Gedächtnis, Persönlichkeit, Glauben, Hoffnungen innerhalb weniger Tage und Wochen aufgaben und auf Befehl jeden anderen auf ebenso brutale Weise quälten."

Angela Schader berichtet von einer Veranstaltung in Essen, bei der islamische Reformdenker aus der ganzen Welt über die die Innovationsmöglichkeiten des Islams diskutierten. Könnte man ihn nicht einfach "humanistisch" lesen statt buchstabengetreu? Das wurde als "apologetische" Lesart des Korans eher abgelehnt: "Auch der Südafrikaner Farid Esack legte den Finger auf Stellen, wo der Koran diskriminiert und ausgrenzt: Juden, Andersgläubige, Nichtaraber - sogar die als unrein verfemten Tiere fanden bei Esack Erwähnung. Es bringe nichts, so der Referent, sich mittels der historischen Lesart einen ethisch akzeptablen Koran zu konstruieren; man müsse die dem Text eingeschriebenen Machtansprüche als solche wahrnehmen und kritisch angehen."

Außerdem: Marco Frei hat sich im Klassik-CD-Handel umgehört, wie man sich gegen das Internet hält. Besprochen werden die Aufführung von Shakespeares "Richard III" mit Kevin Spacey in der Hauptrolle am Londoner Old Vic die Aufführung von Beethovens "Neunte" in der Tonhalle Zürich.

TAZ, 01.07.2011

Maik Söhler schreibt über den jüngsten Versuch von Google mit Google+ ein eigenes soziales Netzwerk zu starten. Davor gab's schon Google-Buzz und Google-Wave: "Doch sie floppten, weil es Twitter und Facebook gab. Nur Spezialisten brauchen weitere Netzwerke, nur Freaks fühlen sich permanent untervernetzt. Ansonsten ist der Markt gesättigt."

Weiteres: Bernd Pickert berichtet über eine Tagung in Berlin über Rechtsstaatlichkeit im Antiterrorkampf. Besprochen werden das neue Album des Gitarristen und Sängers John Maus, Beyonce Knowles Album "4" und die Compilation "Invasion of the Killer Mysteron Sounds? von Kevin Martin und Stuart Baker.

Und Tom.

FR, 01.07.2011

Arno Widmann berichtet über eine Tagung zu Antisemitismus und Antikommunismus in den Sechzigern. Nichts als Negativwerbung für das Berliner Schloss sieht Nikolaus Bernau in der Humboldt-Box auf dem Schlossplatz.

Besprochen werden die Uraufführung von Miroslav Srnkas "Make No Noise" bei den Münchner Opernfestspielen, Herbert Fritschs Inszenierung der Komödie "Die spanische Fliege" an der Berliner Volksbühne, Jean Claude Beruttis Inszenierung des "Hamlet" für die Bad Hersfelder Festspiele, eine CD der Head Cats um Lemmy Kilmister und die Aufführung von Aulis Sallinens "Barabbas-Dialoge" in der Frankfurter Oper.

FAZ, 01.07.2011

Es gibt keine Liebhaber Europas mehr? Von wegen, meint Tomas Kurianowicz in einem recht politikerredenähnlichen Text, weit schauen muss man weiß Gott nicht, nur kurz mal hinter die Grenze gen Osten: "Man muss sich fast schon schütteln, wenn man jetzt den Terminus vom glühenden Europäer in den Mund nimmt - und trotzdem brauchen wir ihn mehr denn je. Gerade in Deutschland, wo viel über den ansteigenden Rassismus in Ungarn berichtet wird, jedoch wenig darüber, welche positive Entwicklung Polen erlebt, das größte osteuropäische EU-Mitglied. "

Weitere Artikel: Von der mehr gefühlsmäßigen als streng ideologischen Wiederbelebung der "roten Kultur" zum 90. Geburtstag der kommunistischen Partei Chinas berichtet Mark Siemons. Einen Raubkunstfall, bei dem der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten nun den Rechtsweg gegen Spanien für zulässig erklärte, schildert der in Restitutionsfällen bewanderte Anwalt Gunnar Schnabel. Gina Thomas begutachtet mit neutraler bis freundlicher Miene Peter Zumthors  für die Londoner Serpentine Gallery entworfenen Pavillon. Eduard Beaucamp beklagt den Niedergang des klassischen Kunstbuchmarkts, freut sich aber über ein Nebengenre, das große Kunstwerke im kleinsten Detail zeigt. Über Widerstand des weiteren Kulturbetriebs gegen die Kooperation des Komponistenverbands mit Vladimir Putins sehr statusunklarer "Volksfront" informiert Kerstin Holm.

Besprochen werden ein Konzert von Warpaint in Köln, Herbert Fritschs Inszenierung des Boulevardstücks "Die spanische Fliege" an der Berliner Volksbühne (die Irene Bazinger nach langer Zeit mal wieder allerbester Stimmung angesichts der "mitreißend leichtfüßigen Aufführung" verlässt), Peter Weirs Gulagfluchtfilm "The Way Back" und Bücher, darunter Johannes Schenks nachgelassener Roman "Jo Schattig" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 01.07.2011

Auf einer Tagung in Schloss Elmau diskutierten Jürgen Habermas, Daniel Cohn-Bendit und andere über den Antisemitismus und die Linke. Hin- und herwogend klingt die Debatte, wie Michael Stallknecht sie beschreibt. "'Dass Teile der Studentenbewegung die Auseinandersetzung mit Israel instrumentalisieren konnten für einen real existierenden Antisemitismus', bestreitet [Daniel Cohn-Bendit] nicht. Aber auf den Straßen rief die Rechte auch: 'Cohn-Bendit nach Dachau!' Man dürfe nicht vergessen, sprang ihm der Historiker Norbert Frei (Jena) bei, dass eine Begrifflichkeit für den Holocaust erst Jahrzehnte nach Kriegsende zur Verfügung gestanden sei. "

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh kann von einem überaus angenehmen Mittagessen mit John Malkovich und den dabei gehabten Konversationen berichten. Die nach den angekündigten brutalen Etatkürzungen ausgebrochenen Kulturkämpfe in den Niederlanden schildert Manfred Schwarz. Über heftige Proteste in Spanien gegen die Ernennung des baskischen San Sebastian (und nicht einer der anderen fünf kandidierenden spanischen Städte) zur europäischen Kulturhauptstadt informiert Javier Caceres. Zum Start der Tour de France liest Alex Rühle in einem Band mit frühen Tourreportagen, dass "Doping" von Anfang an seine Rolle gespielt hat. Dorion Weickmann gratuliert der Choreografin Twyla Tharp zum Siebzigsten, Fritz Göttler der Schauspielerin Leslie Caron zum Achtzigsten.

Auf einer ganzen Seite zu den Münchner Opernfestspielen finden sich ein langes Gespräch mit Hermann Nitsch, der Messiaens Franz-von-Assisi-Oper inszeniert und Reinhard Brembecks Kommentar zum Wirken des nach drei Jahren recht klar profilierten Operndirektors Nikolaus Bachler. Und auf der Literaturseite korrigiert Helmut Böttiger einen Text von Michael Kleeberg zu Wirkung und Einfluss Ernest Hemingways auf die deutsche Nachkriegsliteratur mit dem Hinweis auf ganz andere Größen von Rudolf Alexander Schröder bis doch sehr früh auch schon Kafka als wichtige Vorbilder.

Besprochen werden nur Bücher, darunter Thomas Blubachers "Gustaf Gründgens"-Porträt (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).