Heute in den Feuilletons

Simples Katalogsystem

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.07.2011. Kunst in Zeiten der Globalisierung - alles ein Einheitsbrei? In der FAZ untersucht das Tim Parks für die Literatur, die NZZ wirft einen Blick auf die Kunst- und Theaterszene. In der FR erklärt Liao Yiwu die Spielregeln im Gefängnis China. Die SZ staunt über die vorindustrielle Stadt, in der der Pharmakonzern Novartis künftig forschen will.

FAZ, 16.07.2011

Die internationale Literatur wird immer gleichförmiger, gleichzeitig klopft sie nationale Klischees fest, klagt der englische Autor Tim Parks in Bilder und Zeiten: "Wir haben es also mit einem Paradox zu tun. Wie wichtig einem Autor seine Individualität, seine kulturelle Autonomie sein mag, er tut gut daran, mit einem interessanten nationalen Produkt auf den internationalen Markt zu gehen: skandinavische Melancholie, irische Burleske, lateinamerikanische Volkstradition. Oder am besten mit einer Geschichte politischer Repression der einen oder anderen Sorte. Die Globalisierung der Literatur befreit also weniger, als dass sie Klischees verstärkt, da wir zum raschen Wiedererkennen so vieler unterschiedlicher Länder ein simples Katalogsystem brauchen." Nur dann würden Autoren aus nicht englischsprachigen Ländern auch in der Presse wahrgenommen. (Hier Parks Essay im englischen Original aus dem TLS.)

Außerdem: Dieter Bartetzko porträtiert den Architekten Ole Scheeren, einst Partner von Rem Koolhaas (hier ein Interview mit Scheeren im Art Magazin). Andreas Platthaus porträtiert den Karikaturisten Artur Klose (mehr hier). Kerstin Holm besucht ein Moskauer Sonderarchiv mit in Deutschland erbeutete Akten aus dem Zweiten Weltkrieg. Hannes Hintermeier unterhält sich mit dem Fernsehjournalisten Dieter Wieland über Umweltschutz und Städteplanung.

Im Aufmacher des Feuilletons trägt Dirk Schümer Otto von Habsburg und die Habsburger Monarchie zu Grabe. Jürgen Dollase besucht Vicky Geunes' Restaurant "t'Zilte" in der obersten Glasetage des Museum aan de Stroom (MAS) in Antwerpen und notiert: "Der neue Vicky Geunes ist in fabelhafter Form." Andreas Rossmann feiert das digitale Archiv in Köln. Sehr viel weniger begeistert wandert er durch das modernisierte Aachener Zeitungsmuseum: "Hier raschelt nichts." Arnold Bartetzky fürchtet den Abriss des Kulturpalastews Rabenstein bei Chemnitz, wenn sich kein einfallsreicher Investor findet. Der Dirigent des Pazifischen Symphonieorchesters in Wladiwostok, Michail Arkadjew, ist wegen seiner Kritik am System Putin gefeuert worden, meldet Kerstin Holm. Auf der letzten Seite porträtiert sie Olga Romanowa, Ehefrau eines ehemaligen, zu mehreren Jahren Arbeitslager am Ural verurteilten Millionärs, die die Verurteilung zwar ungerecht, aber auch läuternd findet. Für die Medienseite liest Joseph Croitoru ägyptische Zeitungen und stellt fest, dass sich in den Redaktionen kaum etwas geändert hat: Waren sie früher mubaraktreu, stehen sie jetzt zum Militär.

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um Alban Gerhardts CD "Casals Encores" ("eine Piratenschatzkiste voller Brillanten und Juwelen", jubelt Eleonore Büning), Bach-Aufnahmen mit dem Oboisten Heinz Holliger sowie CDs von Bon Iver alias Justin Vernon (hier) und den Kaiser Chiefs. Besprochen werden weiter die Ausstellung "Artel 1908-1935. Tschechischer Kubismus im Alltag" im Leipziger Grassimuseum, die Fotoausstellung "Industriezeit" im Münchner Stadtmuseum und Bücher, darunter Albrecht Selges Berlinroman "Wach" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Frieder von Ammon ein Gedicht von Friedrich von Logau vor:

"Bücher

Es ist mir meine Lust bei Todten stets zu leben,
Mit denen um und um, die nicht seyn, seyn gegeben,
..."

NZZ, 16.07.2011

Wie präsentiert man eine Ausstellung über indische Kunst? Nicht so wie im Centre Pompidou, meint Samuel Herzog bei allem Verständnis für die guten Absichten. Nach einem Rundgang durch "Paris - Delhi - Bombay ..." stellt er fest, dass knapp ein Drittel der fünfzig Künstler keine Inder sind, sondern Franzosen: "Die Absicht ist klar. Man wollte es vermeiden, die Künstler Indiens wie die Angehörigen eines exotischen Stammes vorzuführen - so wie das in vielen Ausstellungen geschieht, die Kunst unter dem Label einer Nation präsentieren. (...) Man mag von diesen Arbeiten halten, was man will, auf jeden Fall irritiert es, dass der Blick hier stets so einseitig gerichtet ist - dass er immer nur von Frankreich auf Indien fällt und nirgends umgekehrt."

Weitere Artikel: Jeannette Villachica porträtiert den französischen Schriftsteller Hedi Kaddour, dessen Roman "Savoir-vivre" gerade auf Deutsch erschienen ist. Susanne Ostwald schreibt zum 200. Geburtstag von William Makepeace Thackeray. Darf und soll die christliche Religion in den europäischen Staaten ein Sonderrecht genießen? Ja, meint Otfried Höffe, denn: "Ihre überragende, freilich nicht bloß segensreiche kulturgeschichtliche Bedeutung kann eine gewisse Sonderstellung der christlichen Kirchen durchaus rechtfertigen."

Im Feuilleton denkt Barbara Villiger Heilig über das Theater in Zeiten der Globalisierung nach. Wann ist ein Stück überall erfolgreich? "Hippes Lifestyle-Theater aus Japan wird an Festivals von der europäischen Jugend gestürmt. Man sieht dort weniger ein 'Stück' als beispielsweise eine Wohngemeinschaft bei ihren Rund-um-die-Uhr-Verrichtungen - und da sich menschliche Bedürfnisse weltweit ähneln, zumindest in bestimmten Kreisen, bleibt das Verständnis gewährleistet."

Andrea Eschbach stellt die über das Schweizer Fair-Trade-Label Step vertriebene Teppichproduktion aus Nepal vor. Warum in Südkorea Söhne nicht länger bevorzugt werden, erklärt Hoo Nam Seelmann. Roman Bucheli beschreibt die fatalen Auswirkungen des schwachen Euros auf die Schweizer Verlage.

Besprochen werden Bücher, darunter Henry James' Novelle "Die Drehung der Schraube" und Jacques Chessex' Roman "Der Schädel des Marquis de Sade" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 16.07.2011

In der Literarischen Welt erzählt Schriftsteller Michael Kleeberg von seiner sentimentalen Reise nach Irland, genauer nach Achill Island, in Heinrich Bölls berühmtes Sommerhaus. Kaum prasselte das Torffeuer im Kamin, spürte er den Geist: "Dieser Geist, der die Wohn- und Waschküchen verteidigt und den Familienzusammenhalt stärkt und beständigere Werte hochhält als die der Konsum- und Wegwerfgesellschaft, dieser Geist der Freundlichkeit und Geborgenheit, der sofort von uns Besitz ergriff, dieser Geist konnte kein anderer sein als der des ehemaligen Hausherrn."

Weiteres: Tilman Krause und Bernhard Schlink unterhalten sich über ihre Lieblingsromane, über Kinderbücher und die Tanten, die sie vorgelesen haben. Besprochen werden unter anderem Gary Shteyngarts "grauenhaft lustiger" Roman "Super Sad True Love Story", Maja Haderlaps Roman "Engel des Vergessens" und Robert Spaemanns Aufsätze "Schritte über uns hinaus".

In der Kultur: Mara Delius bricht eine Lanze für den aggressiven, von Jagdinstinkten getriebenen britischen Journalismus, positive Beispiele der gehobenen Provokation findet sie allerdings weniger beim Boulevard, als bei BBC und Spectator. Hanns-Georg Rodek trifft den iranischen Regisseur Asghar Farhadi, der gerade in Berlin mit einem DAAD-Stpendium lebt, zum Frühstück. Tim Ackermann resümiert verärgert die als Talentparade der "emerging artists" angekündigte Schau "Based in Berlin": "Bekommen hat Berlin eine belanglose Gruppenschau nach dem Prinzip 'Ausstellen bei Freunden'." Ekkehard Kern erklärt den Sinn von Thomas Gottschalks Wechsel ins ARD-Vorabendprogramm. Zwei "tollkühnen Männern mit standhaften Kisten" gratulieren Jan Küveler und Ulrich Weizierl: Frank Castorf zum Sechzigsten, Jürgen Flimm zum Siebzigsten. Manuel Brug besucht das Pilobolus Dance Theatre in seinen Studios.

FR, 16.07.2011

Arno Widmann unterhält sich mit dem chinesischen Autor Liao Yiwu, der fürs erste, wenn nicht für immer, aus seiner Heimat geflohen und zunächst einmal in Berlin untergekommen ist. China, erklärt er, ist die Großversion des Gefängnisses, in das man ihn gesperrt hatte und in dem es so zuging: "Die Mitgefangenen prügeln und foltern dich. Du bist ihr Hund. Jede Folter hat einen Namen. Es sind Speisenamen. Fast fünfzig. Deine Folterer rufen sich die Namen der Folter zu, als läsen sie in einer Speisekarte. Sie bestellen deine Qualen wie Besucher eines Restaurants sich ihre Genüsse bestellen. Du bist kein Mensch mehr, du bist ein Hund. Gleichzeitig aber hörst du ja nicht auf, ein Mensch zu sein. Du bist Opfer. Aber die Täter sind es auch. Und du selbst bist zwar jetzt ein Opfer, aber vorher warst du Täter oder Zuschauer und später kannst du wieder eines von beiden werden. Täter, Opfer, Zuschauer, in diesem Kreis bewegen sich die Menschen in China."

Weitere Artikel: Karl Grobe erinnert an Francos Putsch vor 75 Jahren. Peter Iden gratuliert dem Theater- und Opernregisseur und -Intendanten Jürgen Flimm zum Siebzigsten. Sylvia Staude erinnert an die tanzende Schauspielerin Ginger Rogers, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte. In "Times Mager" mokiert sich der total überlegene Christian Schlüter über den unter Beteiligung von "Erdbeer-Historiker" Egon Flaig und "Lumpenjournaille" (Henryk M. Broder) ausgetragenen neuen Historiker-Streit.

Besprochen werden das Portugal. The Man-Album "In the Mountain, in the Cloud" und Aisha Franz' Debütcomic "Alien".

TAZ, 16.07.2011

Noch einmal etwas ausführlicher setzt sich Micha Brumlik mit den Provokationen des Historikers Egon Flaig auseinander, der in einem von der FAZ vorabgedruckten Aufsatz Jürgen Habermas und seine Position im Historikerstreit massiv angriff und Deutschland partout als normale Nation begreifen will: "So wärmt Flaig jene Gymnasialideologie wieder auf, wonach 'die Vergangenheit der Deutschen als Teil der europäischen Kultur mindestens bis zur griechischen Klassik zurückreicht'. ... Hier beerbt Flaig Elemente eines nationalsozialistischen 'Dritten Humanismus', der die Griechenlandsehnsucht der Weimarer Klassik missbrauchte, um die Hellenen der klassischen Zeit zu arischen Übermenschen zu machen."

Der Publizist Bahman Nirumand hat gerade seine Autobiografie "Weit entfernt von dem Ort, an dem ich sein müsste" veröffentlicht. Andreas Fanizadeh unterhält sich mit ihm über seinen Freund Rudi Dutschke, die schreckliche Wende der iranischen Revolution und Hoffnungen für die Zukunft: "Der Schah hatte keine politischen Organisationen zugelassen. So gab es nur die Religion. Doch die Zivilgesellschaft hat der neuen Diktatur nun dreißig Jahre lang getrotzt, sich weiterentwickelt. Die iranische Gesellschaft ist heute reif für die Demokratie."

Weitere Artikel: Cristina Nord war von einer Produktionsfirma zu einem Drehbesuch in Kasachstan geladen und berichtet nun aus einem auf seine Vergangenheit arg stolzen totalitären Land. Cigdem Aykol hat die französische Künstlerin Emilie Jouvet getroffen, die vor ein paar Jahren mit "One Night Stand" den ersten französischen Pornofilm für Lesben gedreht hat. Auf der Meinungsseite erklärt die New Yorker Anthropologin Dana-Ain Davis, warum die in ihrem Bundesstaat nun zugelassene gleichgeschlechtliche Ehe ein wichtiger Durchbruch ist.

Besprochen werden Booker T. Jones' neues Album "The Road from Memphis" und Bücher, darunter Gary Shteyngarts neuer Roman "Super Sad True Love Story" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 16.07.2011

Der Pharmakonzern Novartis hat in Basel ein großes Gelände mit ganz der Forschung gewidmeten Gebäuden entwerfen lassen. Stararchitekten von David Chipperfield bis Frank Gehry durften für einzelne Bauten ran. Laura Weissmüller ist jedoch mehr vom ganzen Ensemble als von einzelnen Gebäuden ziemlich beeindruckt. Den Masterplan dafür hatte der Architekt Vittorio Magnago Lampugnani entworfen: "Auf einem streng geometrischen Raster verteilte er Bürogebäude und Labore, kleine Parks und Plätze exakt im rechten Winkel. Auf einer der ersten Skizzen von 2001 sieht das dann so aus, als hätte jemand alle Rechtecke eines karierten Blatt Papiers ausgemalt. Tatsächlich nahm sich Lampugnani jedoch, wie er schreibt, die vorindustrielle Stadt zum Vorbild, und zwar als 'Ort par excellence, an dem Menschen gerne zusammenkommen und miteinander sprechen - und damit die idealtypische architektonische Umsetzung des Postulats der sozialen Interaktion'." (Mehr zum Campus in der NZZ)

Weitere Artikel: Revolutionsfreundliche Stimmung hat Andrian Kreye, wie er resümiert, auf der TED-Konferenz in Edinburgh erlebt. In seiner Kairo-Taxi-Kolumne schildert der Schriftsteller Khalid al-Khamissi die Wiederbelebung der Proteste und hofft, dass diese nicht gleich wieder einschlafen. Von einer Vorab-Reise ins diesjährige Buchmessen-Gastland Island schickt Alex Rühle eine längere Reportage. Der Soziologe Stefan Kühl erklärt, dass die prominenten PlagiatorInnen der Wissenschaft durchaus nützen - solange sie jedenfalls für ihre Taten bestraft werden. Wolfgang Schreiber gratuliert dem Theater- und Opernmann Jürgen Flimm zum Siebzigsten.

In der SZ am Wochenende porträtiert Hans-Jürgen Jakobs den scheidenden Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann. Michael George warnt vor Cyber-Angriffen auf die Wirtschaft. Ulrich Schlie erinnert an den wenig gewürdigten Widerstandskämpfer Hans Bernd von Haeften. Mit dem "Loslassen" hatte sie eigentlich nie ein Problem, versichert Steffi, pardon: Stefanie Graf im Interview mit Christopher Keil.

Besprochen werden die Ai-Weiwei-Fotoausstellung in Winterthur, die als Soundtrack zu einem in Deutschland nie gezeigten Film entstandene Benjamin-Biolay-CD "Pourquoi tu pleures", Hugo Vieira da Silvas Vater-und-Sohn-in-Berlin-Film "Swans" und Bücher, darunter die deutsche Erstübersetzung von Thomas Wolfes unvollendetem Nachlasswerk "Die Party bei den Jacks" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).