Heute in den Feuilletons

Die Welt will ein Wagnerwunder

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2011. Die NZZ diagnostiziert grundsätzliche Lesebereitschaft des Publikums trotz deutschsprachiger Avantgardelyrik. In der Berliner Zeitung wehrt sich der osteuropäische Schriftsteller Oleg Jurjew gegen falsche Verallgemeinerungen. Keine Experimente mehr: Google schließt Google Labs, meldet Slate. In der Welt dankt Sebastian Baumgarten den Bayreuther Möglichmachern. Die NYRB bringt eine lyrische Hommage John Updikes auf Lucian Freud.

NZZ, 22.07.2011

Auch wenn die Lyrik in Zeitschriften, im Netz oder auf Festivals blüht, meint Jürgen Brocan, macht sich beim Leser Überdruss breit. "Die Lyrik heute gleicht jedoch nicht selten einem Laborversuch, dessen Ergebnisse dem Publikum in komplexen Formeln und Geheimcodes präsentiert werden. Unter diesen Voraussetzungen verwundert ihre Marginalisierung kaum. Die Erfolge von Autoren wie Michael Hamburger, Ranjit Hoskote oder Les Murray beweisen, dass eine grundsätzliche Lesebereitschaft besteht. Anders als manche deutschsprachige Lyrik machen sie den Leser neugierig und stossen ihn in neue Sichtweisen, aber sie überfordern ihn nicht, weil sie formale Fragen und formale Originalität nicht vor die inhaltliche setzen. Mit Hölderlin möchte man ausrufen: 'Ich wünschte um alles nicht, dass es originell wäre.'"

Joseph Croitoru berichtet von der heftigen Kritik in Israel an dem von der Regierung erlassenen Anti-Boykott-Gesetz: "So dürften Boykottforderungen wie etwa die israelischer Universitätsdozenten gegen die Hochschule in der Siedlerstadt Ariel bald ebenso der Vergangenheit angehören wie die mitunter von israelischen Professoren bekundete Unterstützung von Boykotten aus dem Ausland gegen Universitäten im Land. Auch die Weigerung mancher israelischer Schauspieler, in den besetzten Gebieten aufzutreten, kann jetzt als kultureller Boykott geahndet werden."

Weiteres: Alena Wagnerova erkennt bei der konservativen Regierung Tschechiens auf "kulturelles Banausentum". Sie will den Mehrwertssteuersatz auf Bücher auf 17,7 Prozent anheben, nachdem sie ihn bereits vor drei Jahren von fünf auf zehn Prozent verdoppelt hatte. Martin Meyer liest die erste Ausgabe des Schweizer Monats, der generalüberholten Version der Schweizer Montashefte. Frank Schäfer liest Musik-Comics über Bob Dylan, den Blues oder Rembetiko.

Online gemeldet wird der Tod des großen britischen Maler Lucian Freud.

Weitere Medien, 22.07.2011

Sehr schön. Diese lyrische Hommage von John Updike auf Lucian Freud in der NYRB:

"Yes, the body is a hideous thing,
the feet and genitals especially,
the human face not far behind. Blue veins
make snakes on the backs of hands, (...)"

Einen wichtigen Tipp für westliche Künstler, die in China reüssieren wollen, hält der heutige Economist bereit: "One thing Chinese collectors agree on is the superiority of painting. The highest price ever paid for a sculpture by a living mainland Chinese artist is just over $800,000 (for a stainless-steel work by Zhan Wang), less than a tenth of the highest price paid for a Chinese contemporary picture ($9.7m for a 'mask' painting by Mr Zeng). 'The Chinese tradition doesn't see sculpture as real art but as anonymous craft for ritual use,' explains Lu Jie, the owner of the Long March Space, another Beijing gallery."

Berliner Zeitung, 22.07.2011

Gibt es so etwas wie eine "osteuropäische" Literatur?, fragt der in Frankfurt lebende Autor und Übersetzer Oleg Jurjew. Von Westen aus gesehen gewiss, "wenn dieses Problem jedoch in den Strahl des vom Osten nach Westen gerichteten Blicks gerät, erscheint die Existenz einer 'osteuropäischen Literatur' sofort als lächerliche Pauschalisierung - 'typisch westlich!' Es gibt kein Osteuropa in Osteuropa: Hier werden längst Derivatbezeichnungen eingeführt, etwa Mitteleuropa oder das neue Europa, die das Negativwort 'Osten' für immer und ewig in den Giftschrank des öffentlichen Diskurses verweisen."

Aus den Blogs, 22.07.2011

Google schließt seine Experimentierplattform Google Labs, meldet Slate: "The move is a bit surprising since it seems to reverse Google's long-standing policy of open-door experimentation by its own team and the public. The Labs, which existed to encourage users to explore new software and aid in its ongoing development, is being put on ice by Google CEO Larry Page, who recently also eliminated Google Health and Google Power Meter."
Stichwörter: Google, Page, Larry, Aids

Welt, 22.07.2011

Manuel Brug scheint ein Bewunderer des Regisseurs Sebastian Baumgarten zu sein, der in Bayreuth einen neuen "Tannhäuser" vorbereitet: "Er argumentiert mit Philosophen wie Giorgio Agamben und Slavoj Zizek, wenn er inszeniert, ist aber auch ein Fitness-Studioabo Bestandteil des Vertrags." Und Baumgarten ist ein Bewunderer Bayreuths: "Die Welt will ein Wagnerwunder. Dafür gibt es aber zu wenig Zeit und Geld. Der Staat mag nicht viel zahlen, die Karten sollen schließlich sozial verträglich bleiben. Die Mäzene sollen nicht mehr garantierte Kartenkontingente haben. Überall lauert der Rechnungshof. Erstaunlich, wie da noch ein solch ruhiges und seriöses Arbeiten möglich ist. Aber am Werk sind hier lauter leidenschaftliche Möglichmacher."

Weitere Artikel: Cornelius Tittel verweist auf eine Recherche der Zeitschrift Art, die anhand neuer Dokumente nachzuweisen versucht, dass der Architekt Franco Stella aus formalen Gründen nie an der Ausschreibung für den Berliner Schlossneubau hätte beteiligen dürfen. Thomas Schmid stimmt einer Gedenkrede Antje Volmers zum 20. Juli zu, die kritisierte, dass hier kein Schüler - aber auch kein Journalist oder Politiker - auch nur die Namen von zehn Widerstandskämpfern gegen Hitler sagen könnte.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Geschichte von Bibliotheksarchitektur in München und Umberto Giordanos Oper "Andre Chenier" bei den Bregenzer Festspielen.

TAZ, 22.07.2011

Robert Iwanez schreibt über Post Black Metal-Bands wie Liturgy, die das Genre musikalisch erneuern und auch für die Abkehr vom düsteren Kirchenanzünder-Image stehen. Reiner Wandler kommentiert die Debatte in Spanien über den Umgang mit dem Franco-Putsch vor 75 Jahren, die sich um die herrschende Devise 'Vergessen statt Aufarbeitung' dreht. Ulrich Gutmair resümiert eine Berliner Konferenz zur Kunstpolitik, auf der es um das Problem der schwindenden Lokalitäten und Handlungsspielräume für die 6.000 in der Stadt wirkenden Künstler und die Bedeutung von Gemeineigentum ging.

Besprochen werden die Alben "Drawn and Quartered? des Kanadiers Deadbeat, "Hash-Bar Loops" des Amerikaners Deepchord und "Time Axis Manipulation" des Schweden Mokira.

Und Tom.

FAZ, 22.07.2011

Nun darf auch der CDU-Politiker und ehemalige Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen Armin Laschet seinen Anti-Sarrazin im FAZ-Feuilleton schreiben. Er kritisiert insbesondere das "gruppenbezogene Denken" Sarrazins und fühlt sich nicht zuletzt als Konservativer und Katholik angegriffen: "Auch seine im negativen Zusammenhang aufgestellte These, dass 'die Fremden, die Frommen und die Bildungsfernen in Deutschland überdurchschnittlich fruchtbarer' seien, ist vielleicht nicht rassistisch, aber respektlos gegenüber Gläubigen jeder Religion."

Die kaum vorstellbaren Bedingungen, unter denen Journalisten in der weißrussischen Lukaschenko-Diktatur arbeiten müssen, beschreibt Ingo Petz. Ein Schlupfloch allerdings gibt es: "Die Medienmanagerin Iryna Vidanava ist der Meinung, dass das Regime zu spät begonnen habe, sich mit dem Internet zu beschäftigen."

Weitere Artikel: Constanze Kurz warnt mit technisch informiertem Blick Richtung Murdoch-Skandal davor, nun das Presserecht schärfer zu fassen - sehr wohl wären ihrer Ansicht nach aber die Telelkommunikationsdienstleister bei "Sicherheitslücken" stärker zur Verantwortung zu ziehen. Wie die Autorin Annette Pehnt mit einem eher trivialliterarischen Campus-Schlüsselroman keine Gnade vor ihrem Hausverlag Piper, mit der darauf in einem Kleinverlag erschienenen Ausgabe dann aber doch ihre Leser fand, das schildert Anja Hirsch als "Literaturbetriebsposse". Christian Wildhagen berichtet vom Kissinger Sommer. Als "architektonisches (Klein)Juwel preist Oliver G. Hamm den neuen Sitz der Bundesstiftung Baukultur in Potsdam (Foto). In der Glosse ärgert sich Andreas Kilb über "obszöne" Politzitate in Superheldenfilmen. 

Besprochen werden Paul Feigs Frauenkomödie "Brautalarm" (die Felicitas von Lovenberg viel zu grob und gar nicht komisch findet), und Bücher, darunter Antonio Tabucchis Erzählungen "Die Zeit altert schnell" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 22.07.2011

Aus aktuellem Anlass erzählt Alexander Menden die Geschichte von Scotland Yard in der Realität und in der Fiktion. Patrick Illinger verabschiedet das US-Weltraumprogramm und Alex Rühle fragt sich, was nach Verlust von Job und Aura aus dem Astronauten wird. Andrian Kreye gratuliert der "P-Funk-Ikone" George Clinton zum Siebzigsten.

Besprochen werden Tanz-Choreografien von Tino Sehgal und William Forsythe in Avignon, Keith Warners Inszenierung von Umberto Giordanos Künstleroper "Andrea Chenier" bei den Bregenzer Festspielen, eine Ausstellung mit Fotografien von Gregory Crewdson bei c/o Berlin und Bücher, darunter Udo Bermbachs Studie "Richard Wagner in Deutschland" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).