23.07.2011. Über neunzig Tote: Die schockierenden Meldungen aus Norwegen überschatten alles. Wir bringen einige aktuelle Links zu Twitter und norwegischen Medien. Woran liegt es, dass die Deutschen noch keine Ebooks lesen, fragt die Welt: am geliebten Buch? Oder am ungeliebten Ebook? Die Berliner Zeitung schickt eine Reportage aus der stillen und höchst bizarren Diktatur Turkmenistan. Alle bringen Nachrufe auf Lucian Freud und feiern seine mystische Identifikation von Farbe und Fleisch.
Weitere Medien, 23.07.2011
Mehr als 80 Tote auf der Insel Utoeya, viele von ihnen scheinen auf der Flucht vor dem Täter ertrunken zu sein. Die schockierenden Meldungen aus
Norwegen lassen sich unter anderem auf
Twitter unter dem
Stichwort "Utoeya" verfolgen. Rune Hakonsen ist ein Journalist des norwegischen Fernsehens, der live
auf englisch twittert. Der Täter selbst hatte ebenfalls ein
Twitter-Konto - mit genau einem Tweet. Die Zeitung
Aftenposten bringt bereits Informationen über den Täter,
Spiegel Online ebenfalls. Hier
die Seite des
Norwegischen Fernsehens und Radios, die man sich von Google auch übersetzen lassen kann.
Welt, 23.07.2011
In Deutschland ist das
Ebook noch kein Erfolg,
meinen Ekkehard Kern und Thomas Lindemann. Das könnte daran liegen, dass
den Deutschen "noch immer vor allem das gedruckte Buch am Herzen" liegt, wie sie am Ende ihres Artikels meinen. Oder könnte es auch daran liegen, "dass das Gros der digitalen Bücher in Deutschland in vielen Fällen
fast genauso teuer ist wie das Hardcover? Als der Börsenverein des Deutschen Buchhandels die 'E-Book-Studie' durchführte, machten viele Verleger keine Angaben - weil sie mit der neuen Buch-Generation
nichts zu tun hatten - und jedenfalls
kein Geschäft mit ihr machten."
Hans-Joachim Müller
schreibt den Nachruf auf den britischen Maler
Lucian Freud. Und der Ausstellungsmacher
Sir Norman Rosenthal erklärt im
Interview, was
das Deutsche an Lucian Freud war: "Expressionismus, Neue Sachlichkeit, diese Tradition. ... Das Deutsche lag in seinem
Unterbewusstsein. Das hätte er aber von sich gewiesen. Er selbst sah sich in der Tradition von Degas und Cezanne."
Weitere Artikel: Wo ist das Feuilleton-Gedächtnis für den frühen Euro-Kritiker
Bolko Hoffmann?,
fragt Marc Reichwein. Wolf Lepenies
erzählt, wie die
Muslimbrüder im Ägypten Mubaraks den Begriff "Aufklärung" kaperten. Cosima Lutz
bittet den britischen Kochstar
Nigel Slater im "Oscar & Co" zu Tisch. Dankwart Guratzsch
freut sich über das
Nagelkreuz für die Auferstehungskirche in Kaliningrad. Der polnische Satiriker
Jacek Fedorowicz erklärt im
Interview, warum er nicht die geringste Lust hat, über die EU zu spotten: "Ich habe
meine Freude über die EU noch nicht ausgekostet."
Besprochen werden
David Böschs Inszenierung von Mozarts mit 14 Jahren komponierter Oper "Mitridate" bei den Münchner Opernfestspielen und die
Ausstellung "Grafikdesign des Jugendstils" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe.
Im Aufmacher der Literarischen Welt
schreibt Klara Obermüller anlässlich von
Barbara Honigmanns neuem Roman "Bilder von A." über Bücher der Kinder und Enkel von
Holocaust-Überlebenden. Gerhard Schulze, Jochen Hörisch und Wolfgang Sofsky geben
ein paar Tipps, wie man im Sommer mit der
Krise umgeht. Henryk M. Broder
macht sich Gedanken über Truther, Revisionisten und das ARD-Magazin
Titel, Thesen, Temperamente.
Besprochen werden unter anderen
Timothy Snyders Buch "Bloodlands" ("Snyder mahnt eine Korrektur unseres
westeuropäischen Geschichtsbilds an, das allzu oft Massenmord mit Auschwitz, dem Holocaust und der Vernichtung von 5,7 Millionen Juden gleichsetzt und darüber den Massenmord an weit mehr Millionen Ukrainern, Polen und Weißrussen vergisst", schreibt Peter Merseburger. Hier eine
Leseprobe aus dem Buch),
Liao Yiwus Gefängnisberichte "Für ein Lied und hundert Lieder",
Wilhelm Genazinos Band "Wenn wir Tiere wären", Ingrid Kapsamers
Biografie Wieland Wagners und
Paul Greenbergs Fischereigeschichte "Vier Fische" (das Eckhard Fuhr sehr anschaulich auch für Nicht-Angler bespricht).
NZZ, 23.07.2011
Vor dem so körperlich wirkenden Fleisch in den Bildern des
Lucian Freud steht die Komposition,
schreibt Samuel Herzog: "Die Gemälde von Lucien Freud wirken immer so, als seien sie
von einem Punkt aus geschaffen - als habe der Maler gewissermaßen mit einem ersten Stich des Pinsels schon eine neue Wirklichkeit aufgetan, die Wirklichkeit seines Bildes. Wer vor den Bildern steht, sucht denn auch fast unwillkürlich nach diesem Punkt."
Andreas Breitenstein
erinnert sich für die Sommerserie "When the Music's Over" an die
Musik seiner Jugend, die in den siebziger Jahren lag, also zu spät für die heroischen Phasen des Pop.
Besprochen werden
Umberto Giordanos Oper "Andrea Chenier" in Bregenz und Bücher darunter
Dirk Kurbjuweits Afghanistan-
Roman "Kriegsbraut" und
Wilhelm Genazinos neues
Buch "Wenn wir Tiere wären" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
In
Literatur und Kunst erinnert Christoph Lüthy an verschüttete Wesensverwandtschaften zwischen der
Schweiz und den
Niederlanden (die beiden gehörten zu den ersten Republiken in Europa) und malt sich aus, was geschehen wäre, wenn die Schweiz das Schickal der Niederlande erlitten hätte - mit Überfall durch Hitler und späterer EU-Mitgliedschaft. Der Historiker
Daniel Jütte erzählt, was es mit den
Arkanwissenschaften der frühen Neuzeit auf sich hatte. Und der Ideengeschichtler
Martin Mulsow schreibt eine kleine Generationengeschichte der deutschen
Intellektuellen um 1700.
Berliner Zeitung, 23.07.2011
Turkmenistan ist eine stille und bizarre Diktatur,
schreibt Christian Esch in einer faszinierenden Reportage fürs Samstagsmagazin der Zeitung, regiert vom ehemaligen Zahnarzt des vor viereinhalb Jahren gestorbenen "
Großen Turkmenbaschi" Saparmurat Nijasow: "Er benannte die Monatsnamen um (den Januar nach sich, den April nach seiner Mutter),
verbot Goldzähne und Opposition und Theater und verfasste für seine Nation ein geistiges Handbuch. Dieses 'Buch der Seele' war seinerseits kultisch zu verehren. In der Ruchnama stand, dass die Turkmenen das Rad erfunden haben, dass Tiere und Pflanzen sprechen können und dass die Ruchnama den
Durst der Vernunft stillt."
FR, 23.07.2011
Wolfgang Kunath
erinnert an die Wiederentdeckung der Inka-Stadt
Machu Picchu vor hundert Jahren. Sandra Danicke
schreibt zum Tod des britischen Malers
Lucian Freud.
Besprochen werden eine Inszenierung von
Umberto Giordanos Oper "Andrea Chenier" und die Uraufführung von
Judith Weirs Oper "Achterbahn" bei den Bregenzer Festspielen, ein
Mahler-Abend mit dem Bariton
Christian Gerhaher beim Rheingau Musik-Festival und Bücher, darunter
Wilhelm Genazinos neuer
Roman "Wenn wir Tiere wären".
TAZ, 23.07.2011
Aus Bahrain musste der Schrifsteller
Ali al-Jallawi als Regimekritiker fliehen. In Europa wurde er dann, wie Esther Dischereit
berichtet, über das hier herrschende Menschenrechtsverständnis am eigenen Leib informiert: "Al-Jallawi war vom Berliner Poesiefestival zum Themenschwerpunkt 'Neue arabische Welt' am 18. Juni eingeladen worden. Am Flughafen in Berlin kam er aber nicht an. Wie erst jetzt bekannt wurde, wurde er trotz eines
gültigen Visums für die Weiterreise nach Deutschland in London durch die britische Grenzpolizei festgehalten, nachdem er einen Asylantrag dort nicht stellen konnte. Erst am 13. Juli wurde er nach Deutschland überstellt, wo er sich seitdem als
Asylsuchender aufhält."
Weitere Artikel: Jan Feddersen
unterhält sich mit dem schwedischen
Schriftsteller Per Olov Enquist über dessen neu veröffentlichten Roman "Die Ausgelieferten", über den Alkohol, die Vergangenheit und die Gegenwart. In einem weiteren Interview
spricht Joachim Lange mit dem Regisseur
Sebastian Baumgarten, mit dessen "Tannhäuser"-Inszenierung in der nächsten Woche die Bayreuther Festspiele eröffnen. Und weil es so schön ist: In der Berlin-Kultur
unterhält sich dann noch Andreas Hartmann mit dem Kulturtheoretiker
Klaus Theweleit, und zwar anlässlich von dessen Auftritt mit seinem Jazz-Improvisations-Streichertrio BST. Brigitte Werneburg
schreibt dialogfrei zum Tod des Menschenmalers
Lucian Freud.
Besprochen werden der neue Pixar-Animationsfilm "
Cars 2" (Dirk Knipphals
fragt angesichts des enttäuschenden Films bang, ob nun der Niedergang von Pixar beginnt) und Bücher, darunter
Viola Roggenkamps neuer
Roman "Tochter und Vater" (mehr dazu in der
Bücherschau ab 14 Uhr).
Und
Tom.
Tagesspiegel, 23.07.2011
Steffen Richter hat die ersten Bücher aus der neuen
Science Fiction Reihe von Matthes und Seitz gelesen. Besonders gut
gefiel ihm "Papirossy": "Dieser Debütroman eines jungen Russen aus Kasan,
Dmitri Dergatchev, entwirft eine atmosphärisch dichte, beklemmende und immer wieder überraschende Topografie, in der sich die Welten aus Jim Jarmuschs 'Dead Man' und Andrej Tarkowskis 'Stalker' überlagern."
FAZ, 23.07.2011
Eduard von Beaucamp beschreibt die Malerei
Lucian Freuds als eine Art Religion des Realen: "Höchstes Ziel seiner Malerei war die Durchdringung und Einheit von Malerei und Porträt, von
Malerei und Fleisch. Dabei geht es nicht um Ähnlichkeiten und metaphorische Parallelen. Freud rang um eine vollkommene, fast
mystische Identifikation." Und auch
Johannes Grützke ruft Freud nach: "Es ist gewaltig schade, dass Du Dich davongemacht hast, ohne meinen Besuch abzuwarten, wirklich schade."
Weitere Artikel: Gerhard Stadelmeier
kommentiert das Gerücht, dass
Frank Castorf, der "Dekonstruktions- und Destruktionspapst" der Berliner Volksbühne den
Bayreuther "
Ring" im Wagner-Jubi-Jahr 2013 inszenieren soll. Dem Gastrokritiker Jürgen Dollase spendierte die
FAZ ein Essen in dem von Hermann Bareiss betriebenen
Morlokhof im
Schwarzwald. Jordan Mejias wirft einen kurzen Blick auf den
amerikanischen Buchmarkt nach der Pleite der Kette
Borders. Andreas Rossmann begeht
Tobias Rehbergers Brückenskulptur "Slinky springs to fame" in Oberhausen. Für die Schallplatten-und-Phono-Seite hört Gerhard Rohde vier
Bayreuther "
Ring"-
Aufnahmen aus den fünfziger und sechziger Jahren unter Clemens Krauss, Hans Knappertsbusch und Karl Böhm. Auf der Medienseite beschreibt Josef Croitoru die entfesselte Lügenpropaganda der
syrischen Staatsmedien. Ebendort empfiehlt Daniel Haas eine modernisierte
Sherlock-Holmes-Miniserie der
BBC, deren erste Folge morgen in der
ARD läuft. Friederike Haupt schickt Impressionen aus einem von besserwisserischen deutschen Urlaubern heimgesuchten
Griechenland.
Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Geschmack - Der gute, der schlechte und der wirklich teure" in der
Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden.
Für Bilder und Zeiten besucht Hubert Spiegel sechs Monate nach den umstürzenden Ereignissen
Tunesien: "Die Revolution ist den Revolutionären
historisch geworden, obwohl jeder von ihnen weiß, dass die meisten Ziele längst noch nicht erreicht sind. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter an, die Touristen, wichtigste Einnahmequelle des Landes, bleiben aus." Marco Schmidt schickt einen Drehbericht aus
Kasachstan, wo Regisseur
Veit Helmer an seinem neuen Film "Baikonur" arbeitet. Philip Artelt ist ins slowenische
Maribor gereist, das Europäische Kulturhauptstadt 2012 werden soll, aber schon jetzt unter Sparmaßahmen leidet. Auf der Literaturseite geht's unter anderem um
Hugo Hamiltons Roman "Der irische Freund".
Für die Frankfurter Anthologie folgt Peter von Matt
Joseph von Eichendorffs "Wünschelrute:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort."
SZ, 23.07.2011
In ihrem Nachruf auf
Lucian Freud erklärt Catrin Lorch das Besondere der Porträtkunst des Malers: "Er malt Akte weil er 'wirklich an ihnen als Tier interessiert' sei, sagt er. 'So kann ich mehr sehen: Die Formen, die sich direkt durch den Körper abzeichnen. Eine der aufregendsten Erfahrungen ist es,
durch die Haut zu sehen, zum Blut und den Adern, der Zeichnung.'"
Weitere Artikel: Über die Machtübernahme der
Kuratoren auf vielen Gebieten der Kultur
schreibt Jan Füchtjohann (
mehr in der NYT). Der Popmusik-Fan Marc Deckert entdeckt den E-Musiker
Arvo Pärt für sich und denkt über den Unterschied zwischen dem
Populären und der
Avantgarde nach. Andreas Bernard porträtiert auf einer ganzen Seite einen Literaturagenten, der nun zum wiederholten Mal vor Gericht steht, weil er
Laien-Autoren um ihr Geld und ihre Veröffentlichungs-Träume betrog. In seiner Kairo-Kolumne lernt Khalid al-Khamissi, dass
Ägypten derzeit ein kaputtes Auto ist und des Anschiebens bedarf. Die Pläne Schleswig-Holsteins, das
Denkmalschutzrecht durch eine Stärkung der Eigentümerrechte auszuhöhlen, beklagt Ira Mazzoni. Auf der Medienseite porträtieren John Goetz und Nicolas Richter den
Guardian-Reporter
Nick Davies der die Murdoch-Affäre durch seine
Investigationen ins Rollen brachte.
Im Aufmacher der
SZ am Wochenende klagt Christian Nürnberger über den neuen
Hurra-Katholizismus u.a. eines Matthias Matussek und fordert "dogmatische Abrüstung". Karin Steinberger erklärt, wie
virales Marketing funktioniert. Auf der Historienseite erinnert Michaela Metz an den frühen Naturforscher
Carl Friedrich Philipp von Martius. Michael Ruhland unterhält sich mit
Willie Höchtl, der seit fast vierzig Jahren im Gefängnis sitzt und nach dem Urteil zur Sicherheitsverwahrung Hoffnung hat, im nächsten Jahr wieder in Freiheit zu kommen.
Besprochen werden
Ivor Boltons Inszenierung von Mozarts "Mitridate" im Münchner Prinzregententheater und
Peter Luisis Komödie "Ein Sommersandtraum".