Heute in den Feuilletons

Regale, Labore, Handgestricktes, Videos und Schleim

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.07.2011. Die NZZ findet im  Programm des norwegischen Attentäters nicht nur Hass auf den Islam. Auch in allen anderen Zeitungen wird weiter über die Tat debattiert. Die einen ziehen eine Linie von der "Islamkritik" zum Massaker, die anderen warnen vor genau dieser "Kampfvokabel". Einigkeit besteht darin, dass der Täter nicht im Wahn handelte. Der Bayreuther "Tannhäuser" sorgt weithin für Befremdung: Schwer Verdauliches begibt sich hier.

NZZ, 27.07.2011

Auch Aldo Keel hat sich durch Anders Breivinks Manifest des Hasses gequält und umreißt dessen Pläne für Norwegen und Europa so: "Ein Abtreibungsverbot soll die Geburtenzahlen im Westen kräftig ansteigen lassen. Den Norwegern predigt er die Rückkehr zum Katholizismus, denn er ist gegen 'Pastoren in Jeans, die für Palästina marschieren, und gegen Kirchen, die wie minimalistische Einkaufszentren aussehen'. Weiter fordert er die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Internierung von Rauschgiftsüchtigen, Umerziehungskurse für Marxisten, die Rückkehr zum Patriarchat, um die Kernfamilie zu fördern, mehr Disziplin in Elternhaus und Schule, auch Körperstrafen."

Ein "Brimborium gigantischen Ausmaßes" nennt ein unglücklicher Peter Hagmann die "Tannhäuser"-Inszenierung von Sebastian Baumgarten in Bayreuth: "So ist es leider an diesem magischen Ort, wo nur ein fest in sich gefügter, fatal einengender Kanon an Werken gespielt werden darf: Je mehr Gewürz hineingeworfen wird, desto lauer wird die Suppe."

Weiteres: Brigitte Kramer stellt die beiden gerade sehr erfolgreichen katalanischen Autoren Najat El Hachmi und Pius Alibek vor. Besprochen werden Hanif Kureishis Erinnerungen an seinen Vater "Mein Ohr an deinem Herzen", Timothy Snyders Studie "Bloodlands" und Liao Yiwus Chronik "Für ein Lied und hundert Lieder" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 27.07.2011

Gar nicht überzeugt von Sebastian Baumgartens Bayreuther "Tannhäuser"-Inszenierung ist Katrin Bettina Müller, allenfalls Musik und Gesang lässt sie durchgehen. Auch Norddeutschland hatte sein kulturelles Großereignis: Klaus Walther berichtet vom Zweitligaspiel St. Pauli gegen Eintracht Frankfurt. Rudolf Walther greift eine französische Diskussion darüber auf, ob der Dramatiker Armand Gatti Häftling im KZ Neuengamme war oder Deportierter.

"Lasst sie damit nicht davonkommen!", ruft Robert Misik auf der Meinungsseite und meint damit "Populisten und andere Islamfeinde" - namentlich Henryk M. Broder -, denen er vorwirft, das Klima angeheizt zu haben.

Und Tom.

FR/Berliner, 27.07.2011

Oben auf der Wartburg eine "geschlossene Gesellschaft", im in den Keller versenkten Venusberg das Verdrängte eben dieser Gesellschaft, so hat Sebastian Baumgarten in Bayreuth den "Tannhäuser" inszeniert und dafür viele Buhrufe kassiert, schreibt Hans-Jürgen Linke, der beiden Seiten Recht gibt: "Das Regie-Team macht es dem Publikum wirklich nicht leicht, das Konstrukt ihrer Inszenierung zu dechiffrieren. Dazu kommt: Das Publikum in Bayreuth will auch nicht unbedingt dechiffrieren, sondern mit einem sich selbst erklärenden Menü gefüttert werden."

Zu spät gesehen haben wir gestern Götz Alys Kommentar zum Massaker in Norwegen: "Breivik ist kein Wahnsinniger, sondern ein spätes, deshalb seltsam erscheinendes Exemplar jener Weltanschauungskrieger, die das Europa des 20. Jahrhunderts zu Millionen hervorgebracht hat. In totalitären, eindimensionalen Weltbildern, politischen Utopien und Ersatzreligionen wurden die Angehörigen einer bestimmten Großgruppe (Rasse, Religion, Klasse, Volk) zur Spitze der Menschheit erhoben."

Weitere Artikel: Christian Schlüter kritisiert die Berichterstattung von ARD und ZDF nach dem Attentat und zieht dann mühelos eine Linie von "Islamkritik" (Anführungszeichen von ihm) zu Islamophobie und schließlich dem Massaker des "norwegischen Monsters". Peter Glaser lernt von dem Internet Entrepreneur Boris Veldhuijzen van Zanten, dass ein Mobiltelefon in einem Funkloch funktioniert, wenn man es in ein Glas steckt. Sebastian Preuss findet es gut, dass eine Ausstellung von Ai Weiweis New-York-Fotos nach Berlin kommt: "Immer mehr Menschen denken bei China unwillkürlich an Ai Weiwei. Und damit an die Brutalität, mit dem das Regime gegen ihn und zahllose andere Kritiker vorgeht." Und Arno Widmann macht einem Lust, die gerade erschienenen zwei Bücher von Ai Weiwei (ein Interviewband mit Obrist und Texte aus dem verbotenen Blog) zu lesen.

Auf der Medienseite berichten Joachim Frank und Ralf Mielke vom Ende des Machtkampfs in der Chefredaktion des Focus: Markwort bleibt, Weimar geht. Und Antje Hildebrandt berichtet, warum die Jugendschutzbeauftragte des Bayerischen Rundfunks, Sabine Mader, einen "Polizeiruf" ins Nachtprogramm verbannte: "'Staat versagt komplett, keine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse', so heißt es in ihrer Einschätzung."

Besprochen werden eine große Ernst-May-Werkschau im Deutschen Architektur Museum in Frankfurt (daneben ist aus dem Katalog ein Text von Wolfgang Pehnt abgedruckt, der das Menschenbild des Neuen Bauens in den 20er Jahren skizziert).

Aus den Blogs, 27.07.2011

Alan Posener konstatiert auf starke-meinungen.de: "Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Neuen Rechten und den Terror-Attentaten in Norwegen. Ideen haben Konsequenzen. Worte haben Folgen. Wer das leugnet, verwirkt den Anspruch, ernst genommen zu werden."
Stichwörter: Neue Rechte, Norwegen

Welt, 27.07.2011

Im Leitartikel ruft Richard Herzinger auch demokratisch gesinnte Islamkritiker zu rhetorischer Mäßigung auf und kritisiert zugleich einen absichtlich unscharfen Gebrauch des Begriffs "Islamkritik": "Diese Kampfvokabel schüttet den diametralen Gegensatz zwischen neonazistischen und rechtsnationalistischen Islamfeinden einerseits und andererseits aufklärerischen Säkularisten zu, die in den totalitären Zügen des politischen Islam eine akute Gefahr für die freiheitlichen Errungenschaften der offenen, pluralistischen Gesellschaft sehen."

Im Essay auf den Forumsseiten fürchtet Sonja Margolina, dass die Energiewende zu verstärkter Abhängigkeit von autokratischen Regimes führt.

Im Feuilleton bewältigt Manuel Brug die "irgendwie ideologisch kompostierte Gedankenreise" Sebastian Baumgartens durch den "Tannhäuser".

FAZ, 27.07.2011

Ein einziger großer Seufzer ist Eleonore Bünings Besprechung des neuen Bayreuther Biogas-"Tannhäuser". Ein Glücksseufzer freilich ist es ganz eindeutig nicht: "Das Bühnenbild, erschaffen vom Installationskünstler Joep van Liehout, lässt sich nicht so einfach wegdenken. Es ist ungefähr so gut geeignet als Theaterspielfläche wie, zum Beispiel, das Matterhorn. Mächtig, prächtig, herrisch, dominant... Ja, liebe Kinder, ihr alt und auch schon ein bisschen grau und langweilig gewordenen Kindeskinder des sogenannten Regietheaters, fällt euch denn gar nichts anderes mehr ein als Regale, Labore, Fabriken, Handgestricktes, Videos und Schleim?"

Weitere Artikel: Die eigentlich wertvollen Inhalte in all den sozialen Netzwerken, meint Jörg Wittkewitz, sind die banalen Einträge, in denen das Leben noch unbewertet und ungedeutet vorliegt, also Postings über "Allerweltsthemen wie Wetter, die bizarre Nachbarin oder ein Straßenfest". Spießig findet Martin Otto den Grünen-Politiker Özcan Mutlu, der im Tagesspiegel die Kreuzberger Abwehrreaktionen auf Thilo Sarrazin für nur zu verständlich hält. Die Geschichte von der vorläufigen Rettung der Mannheimer Kunsthalle durch einen Stifter erzählt Swantje Karich. Vom Übergang des Berliner Nicolaihauses in die Hände der Stiftung Denkmalschutz berichtet Andreas Kilb - der einmal geplante Umzug von Suhrkamp in das Gebäude ist ohnehin längst zu den Akten gelegt.

In der Glosse fürchtet Konstanze Crüwell, dass der in Schwaben beliebte, aus (einstigen) italienischen Gastarbeitern bestehenden Chor "Coro del Grappa" aufgrund allzu gelungener Integration des Nachwuchses vor dem Ende steht. Auf der Medienseite fasst Joseph Croitoru die Reaktionen der arabischen Welt auf den Terror in Norwegen zusammen. Michael Hanfeld bricht eine Lanze für Uli Baur als bestmöglichen Allein-Chefredakteur des Focus.

Besprochen werden das viel beachtete Konzert des Israel Chamber Orchestra in Bayreuth mit Wagner, ein Düsseldorfer Konzert der wiedervereinigten Take That, die Pixar-Filmfortsetzung "Cars 2" (Andreas Platthaus ist etwas enttäuscht, findet aber immer noch genug zu loben) und Bücher, darunter Dieter Hoffmann-Axthelm programmatischer Band über "Das Berliner Stadthaus" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 27.07.2011

Im Interview mit Wolfgang Janisch legt die Psychologin und Gutachterin Sabine Nowara dar, warum sie nicht daran glaubt, dass Breiviks Tat wahnhaft war und erläutert die Kriterien für dieses Urteil: "Wie grausam und abscheulich eine Tat auch immer ist: Der Umkehrschluss, jemand muss psychisch gestört sein, ist nicht zulässig. Entscheidend ist der Blick auf die Person des Täters: Gibt es eine psychische Störung oder Erkrankung? Und war dadurch während der Tat seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit in irgendeiner Weise beeinträchtigt? Das Verbrechen muss ein Symptom dieser Störung sein."

Der Skandinavistik-Professor Bernd Henningsen kritisiert eine mangelnde Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus: "Terrorismus und Fundamentalismus, der Ausbruch unprovozierter Gewalt - sie kommen aus der Mitte der Gesellschaft, das hat auch das Massaker in Norwegen gezeigt." (War es nicht eher so, dass die Mitte der Gesellschaft beschossen wurde?)

Auch im Feuilleton ist noch mal eine ganze Seite den norwegischen Ereignissen gewidmet. Nicolas Richter hat das Blog des ominösen Fjordman gelesen, das Breivik über Hunderte von Seiten in sein Manifest kopiert hat. Thomas Steinfeld plädiert für einen Verzicht auf den Begriff des Multikulturalismus. Ferner gibt es Erläuterungen zum Breivik-Vorbild des Unabombers, zur Tempelritter-Symbolik und zu Videospielen, mit denen sich Breivik auf seine Tat vorbereitete.

Weitere Artikel: Jonathan Fischer unterhält sich mit dem Jazzmusiker Creed Taylor, der mit dem Impulse-Label seit fünfzig Jahren Akzente setzt (mehr hier). Ronen Steinke beobachtet einen Prozess gegen den 61-jährigen Hamburger Sprayer "Oz", der seine Graffiti als Kunst verstanden wissen will. Nicht unaufgeschlossen bespricht Wolfgang Schreiber den Bayreuther "Tannhäuser" ("Seltsames, Verschlüsseltes, auch schwer Verdauliches begibt sich hier"). Auf der Medienseite erzählt Marc Felix Serrao, wie es zum Rücktritt des gerade erst installierten und dann nach Kräften demontierten Focus-Chefredakteurs Wolfram Weimer kam ("Und egal, wie man Weimers Arbeit bewertet: Der größte Verlierer ist Focus").

Besprochen werden außerdem ein denkwürdiges Konzert des Israelischen Kammerorchesters mit Wagner in Bayreuth und Bücher, darunter Sabine Grubers Südtirol-Roman "Stillbach oder Die Sehnsucht".