Heute in den Feuilletons

Zarte Archaik

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2011. In der Welt staunen Monika Maron und Necla Kelek über die Behauptung, der Attentäter von Utoeya komme aus der "Mitte der Gesellschaft". In der FR macht Jostein Gaarder statt dessen die extreme Rechte für das Attentat verantwortlich. Jungle World wiegt sich im Rhythmus des neuesten Benefizsongs von One World: "Free Palestine!". Und in Life bewerben sich hundert schwarze Katzen auf eine Filmrolle neben Peter Lorre.

FR/Berliner, 28.07.2011

Jostein Gaarder, norwegischer Schriftsteller mit meist dezidierten Ansichten, spricht im Interview mit Martin Scholz über die Morde von Oslo, die Folgen der Tat für Norwegen und ihre Ursachen: "Dieses Verbrechen wäre nicht möglich gewesen ohne all die rechtsextremen Blogs und Websites, auf denen sich Leute darüber auslassen, wie furchtbar der Islam, die muslimische Infiltration Europas oder die Sozialdemokraten seien. Breivik hatte in diesen Blogs eine Plattform. Von dem englischen Schriftsteller John Donne stammt der Satz: 'Niemand ist eine Insel.' Das gilt auch für Breivik."

Der schon lange in Frankreich lebende Regisseur Matthias Langhoff erzählt im Interview mit Astrid Kaminski, warum er lieber mit einer Gruppe afghanischer Schauspieler beim Festival in Villeneuve-en-Scene auftritt als in Avignon: "Ich mache da seit 13 Jahren nicht mehr mit. Wir freuen uns natürlich, wenn französische Zeitungen schreiben: Das Wesentliche findet in Villeneuve statt. Avignon ist leider längst zum Verkaufsfestival geworden, wird ausschließlich für die Hotels und Restaurants gemacht. Die Festivaldirektoren sind dabei eigentlich immer Ausdruck der französischen Kulturpolitik, die nichts im Sinn hat als Kauf und Verkauf. Da nichts für die lokale Kultur gemacht wird, wird halt eingekauft, und das Festival dazu benutzt, irgendwas hochzupushen."

Und der Theologe Gerd Lüdemann regt an, die Bibel zu zensieren: zu viele Intoleranz und Gewaltfantasien. Besprochen werden unter anderem Carolin Schmitz? Dokumentarfilm "Porträts deutscher Alkoholiker" (mehr hier), John Lasseters animierter Actionfilm "Cars 2" und Sayed Kashuas Roman "Zweite Person Singular" und der Band "Wie Rassismus aus Wörtern spricht" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 28.07.2011

"Basiert der Dracula-Mythos auf klassischen antisemitischen Stereotypen?" fragt Michael Wuliger nach der Lektüre der Studie "Blood Will Tell" der amerikanischen Wissenschaftlerin Sara Libby Robinson. Besonders einleuchtend das Motiv des Blutsaugens: "Hier sieht Robinson zwei Topoi vereint. Zum einen die klassische Ritualmordlegende, nach der Juden Christenkinder schlachten, um aus deren Blut zu Pessach Mazzen zu backen... Moderner war ein zweites Blutsaugermotiv, das nach Robinson in Stokers Draculalegende einfloss: das Bild vom jüdischen Kapitalisten. Eine bis heute wirkungsmächtige Metapher."

Timothy B. Lee beschreibt bei Ars Technica die neueste Waffe der Medien- und Unterhaltungsindustrie im Kampf gegen die Verletzung ihrer Copyrights: Auslieferung in die USA. So erging es dem 23-jährigen britischen Studenten Richard O'Dwyer, der auf seiner Webseite Tvshack Links zu Webseiten gesammelt hatte, auf denen man Filme downloaden oder streamen konnte, die dem Copyright unterliegen: "It's not clear whether O'Dwyer has even committed a crime under UK law. O'Dwyer is not accused of hosting infringing content himself. Instead, his site provided links to content hosted by other websites. In December, a British judge ruled in favor of TV-Links, a website that, like Tvshack, offered links to video content, some of it infringing." In den USA wird das anders gesehen. Daher haben diese Art der Verfolgung inzwischen Methode, berichtet Heise.

Welt, 28.07.2011

Andrea Seibel unterhält sich mit Monika Maron und Necla Kelek über Sarrazin und die Folgen - aber auch über Reaktionen auf Utoeya. Auf das Argument, der Täter komme aus der "Mitte der Gesellschaft" antwortet Monika Maron: "Auf die Art kann man aber jede nicht opportune oder auch nur nicht genehme Meinung unterdrücken, weil ein Wahnsinniger wie Breivik sich seinen Wahn in allem suchen kann, was an Gedanken durch die Welt fliegt. Er wird bei Kafka so fündig wie bei Churchill oder Merkel oder sonst wem im Internet." und Necla Kelek: "Leider nimmt die Debatte in Deutschland trotz anfänglicher Zurückhaltung nun wieder bittere Züge an. Hier wird immer gleich über Verbote und Schuldige geredet."

Fürs Feuilleton liest Thomas Schmid das als Buch herausgegebene Blog Ai Weiweis und bewundert seine "zarte Archaik". Sascha Lehnartz porträtiert den franzöischen Komödienregisseur Dany Boon, der nach den "Sch'tis" nun "Nichts zu verzollen" (mehr hier) in die Kinos bringt. Kai Luehrs-Kaiser gratuliert den sehr verschiedenen Dirigenten Jordi Savall (von Hesperion XX) und Riccardo Muti zum Siebzigsten.

TAZ, 28.07.2011

In der Debattenreihe über Netzkultur erklärt der Politikwissenschaftler, Gründer und Vorstandsmitglied von Campact Günter Metzges, weshalb Onlinekampagnen sehr wohl wirksam sind: Sie bildeten parallel zu den etablierten Medien eine wichtige Informationsstruktur. "Sie sind der Start- und Kristallisationspunkt für weiteres, selbst organisiertes Engagement und regen zur eigenen politischen Emanzipation an. Frustration entsteht hier nicht aus dem Bemühen der Bürger um Gehör und politische Veränderung. Sie entsteht, wenn das politische System auf Bürger nicht reagiert und seine politischen Entscheidungen nicht sorgfältig begründet."

Susanne Messmer setzt sich ausführlich mit Liao Yiwus Gefängnisbuch "Für ein Lied und hundert Lieder" auseinander und stellt erschüttert fest: "Liao Yiwus Buch ist nicht das erste über den Gulag, es ist aber das schrecklichste."

Weiteres: Luisa Degenhardt würdigt im Nachruf den Salsa-Star Joe Arroyo. Besprochen werden Tetsuya Nakashimas Thriller "Geständnisse", Martin Campbells Comicverfilmung "Green Lantern" und Manfred Hermes' Buch "Deutschland hysterisieren" über Fassbinder und "Berlin Alexanderplatz" (dem Diedrich Diederichsen eine enthusiastische Kritik widmet, mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 28.07.2011

(via boingboing) Wunderbare Fotos aus dem Archiv des Life Magazines: schwarze Katzen, die sich in Hollywood für eine Filmrolle neben Peter Lorre bewerben!

(via 3quarksdaily) Die 23jährige Prableen Kaur war auf der Insel Utoeya, als Anders Breivik dort über 80 Menschen erschoss. In ihrem Blog erzählt sie, wie sie diese Stunden erlebte. Die Basler Zeitung hat Auszüge auf Deutsch veröffentlicht, aber auch die vollständigere englische Version bei Eurozine lohnt die Lektüre: "I took shelter behind some sort of cement wall. We were many. I prayed, prayed, prayed. I was hoping that God could se me. I rang mum and said it was not certain we would meet again but that I would do everything I could to make it through. I told her several times that I loved her. I heard the fear in her voice. She cried. It hurt. I sent an SMS to my dad, said I loved him. I sent an SMS to someone else I love very, very much. We kept in contact for a while. I sent an SMS to my best friend. He did not reply. We heard more shots. Pulled closer together. Did what we could to stay warm. There were so many thoughts. I was so scared. Dad rang. ... The others rang their parents but after a while we all sent texts, fearing that the killer would hear us. I thought about my sister who is away. How would I tell her what happened? What happened to me. I updated Twitter and Facebook that I was still alive and that I was 'safe'."

NZZ, 28.07.2011

Knut Henkel besucht in Miami das schrille Restaurant Versailles, das Herz der kubanischen Exilgemeinde. Bettina Spoerri stellt sich auf der Filmseite hinter die Klagen von PR-Agenturen, die sich von der Schweizer Filmförderung vernachlässigt fühlen. Susanne Ostwald hat sich Mike Mills' tragikomischen Liebesfilm "Beginners" angesehen.

Besprochen werden die Joan-Miro-Schau in der Londoner Tate Modern "The Ladder of Escape", V. S. Naipauls Reportagen "Afrikanisches Maskenspiel" und Briefe des Situationisten Guy Debord (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Jungle World, 28.07.2011

Udo Wolter hat sich einen Videoclip des Songs "Freedom for Palestine" angesehen, der von Prominenten wie Julie Christie und der Seifenfirma Lush propagiert wurde und auf das ganz große Publikum zielt: "Man sieht Elendsbilder aus Flüchtlingslagern und Tricksequenzen im Stil einer Kinderzeichnung. Dargestellt werden israelische Soldaten, die brutale Gewalt gegen unschuldige palästinensische Zivilisten ausüben, vorzugsweise gegen Mütter. Gegengeschnitten werden Studioaufnahmen der beteiligten Musiker, zu denen neben dem Faithless-Rapper Maxi Jazz auch der Durban Gospel Choir und der London Community Gospel Choir gehören. Dazwischen werden lächelnde Menschen eingeblendet, wobei natürlich auch ein orthodoxer Jude nicht fehlen darf... Die Ästhetik des Clips lehnt sich stark an die des berühmten 'We are the World'-Videos an."

Zeit, 28.07.2011

Im Dossier unterhalten sich Peter Kümmel und Sabine Rückert vergnügt mit dem Liedermacher, Kabarettisten und Autor Georg Kreisler. Es geht ums Alter, Unfälle im Kernkraftwerk und die Ungerechtigkeit in der Welt. Aber er sieht nicht nur schwarz: "Ich glaube, Deutschland ist ein schlafender Revolutionär. Man wird auch in Deutschland in Massen auf die Straßen gehen. Das Fernsehen wird eines Tages als Betäubung nicht mehr reichen, um die Elendsviertel in Berlin zu vergessen, wo die Ausgegrenzten leben."

Im Politikteil sieht Carolin Emcke in Anders Breivink den ersten antimuslimischen Terroristen und einen blinden Fleck im europäischen Selbstverständnis: "Nicht allein fanatische Islamisten bedrohen unsere demokratische Gesellschaften, sondern auch fanatische Islamhasser."

Im Feuilleton: "Scheißungemütlich" fand Volker Hagedorn Joep van Lieshouts Bühnenbild in Sebastian Baumgartens Bayreuther "Tannhäuser", in den ablehnenden Kritikerchor will er aber nicht einstimmen: "Es ist sehr vieles komisch und gruselig, anrührend und befremdlich zugleich in dieser Produktion, die aber in ihrer Polyvalenz dauernd auf Wagner trifft." Thomas Groß schreibt zum Tod von Amy Winehouse, die keine Diva gewesen sei, sondern eine "hochauthentisch posierende" Drama Queen. Hanno Rauterberg beobachtet eine Revolution in der Fußgängerzone: Autos, Fußgänger, Rad- und Skateboardfahrer sollen sich den Raum gleichberechtigt teilen, es gilt allein die Rechts-vor-Links-Regel.

Besprochen werden eine Ausstellung über Bibliotheken in der Münchner Pinakothek der Moderne, die Chopin-Aufnahmen des österreichischen Pianisten Ingolf Wunder, J.J. Abrams Familien-Sommer-Popcorn-Horrorfilm "Super 8" und Bücher, darunter die "Geschichte eines Verschwindens" des libyschen Autors Hisham Matar (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 28.07.2011

Kurt Kister stellt sich die Frage, ob man Massenmörder nach ihren Taten durch Nichtbeachtung unwirksam machen kann - hält das, obwohl sein Text ausdrücklich keine Namen nennt - aufs große Ganze gesehen für illusorisch. Über den bei solchen Gelegenheiten gerne ausgegrabenen (vergleiche hier) "Vorläufer" Breiviks, den Dorfschuldirektor Ernst August Wagner, der 1913 neun Menschen erschoss, schreibt Philipp Blom. Alex Rühle glossiert die Tatsache, dass ein Forscher in Hongkong den endgültigen Nachweis der physikalischen Unmöglichkeit von Zeitreisen geführt hat. Den Dirigenten Riccardo Muti, der heute seinen Siebzigsten feiert, hat Reinhard J. Brembeck getroffen.

Besprochen werden ein Konzert von Sergio Mendes im Skulpturengarten der Neuen Nationalgalerie, in München neu anlaufende Filme, nämlich Danny Boons Komödie "Nichts zu verzollen" (mehr), die neue Pixar-Animation "Cars 2" (mehr) und James Wans Horrorfilm "Insidious" (mehr). Die Medienseite vermeldet, dass heute und morgen streikbedingt wieder Schmalhans Küchenmeister ist bei der SZ - und erläutert mit Blicken auf den Zeitungsmarkt die eigene und andere Positionen.

FAZ, 28.07.2011

Frank Schirrmacher erzählt, wie er als Gesprächspartner in einer längeren Sarrazin-Doku von Güner Balci auftreten sollte, und dann mit der Lüge konfrontiert wurde, die Bänder des Interview seien gestohlen, mit der nur kaschiert werden sollte, dass Balci den Film nicht zu Ende machen durfte: "Güner Balci ist wie vom Donner gerührt. Sie wisse nichts von einem Diebstahl. Sie wisse nur, dass sie am nächsten Tag zum RBB bestellt sei, weil man ihr den Film entziehen wolle. Anwälte seien dort auch. Anruf beim RBB, aber erst einmal, ohne vom Diebstahl zu reden. Ja, man müsse sich von Frau Balci als Autorin trennen, 'das würden Sie auch machen'. Der Aspekte-Film sei unabgesprochen, Frau Balci sei jetzt zum Subjekt der Berichterstattung geworden." (Balci, eine freie Journalistin und Buchautorin, hatte einen Beitrag für die ZDF-Sendung Aspekte gedreht, für den sie mit Sarrazin in Kreuzberg unterwegs war. Hier ihre 2010 gesendete Fernsehreportage "Kampf im Klassenzimmer")

Weitere Artikel: Über recht heftige Diskussionen in China nach dem schweren Schnellzug-Unglück berichtet Mark Siemons. Vom Klavierfestival Ruhr berichtet Jan Brachmann. Eine Martin-Walser-Lesung im Literarischen Colloquium in Berlin hat Katharina Teutsch besucht und erlebt. Andreas Rossmann glossiert den Kölner Mangel an Weltläufigkeit, gegen den eine (unter anderem von Navid Kermani) neu gegründete "Akademie der Künste der Welt" jetzt Abhilfe schaffen soll. Andreas Platthaus zeigt sich sehr angetan von der Jubiliäumsnummer (30) der Literaturzeitschrift Bella Triste. Hubert Spiegel schreibt zum Tod der Schriftstellerin Agota Kristof.

Auf der Kinoseite setzt sich Bert Rebhandl mit einer wohl unter Verschluss gehaltenen Studie auseinander, die gerüchteweise zum Ergebnis kommt, dass illegale Downloader überdurchschnittlich oft auch ganz legal Filme im Kino sehen und auf DVD kaufen. (Ein Ex-EMI-Manager hat ähnliches gerade auch für die Musikindustrie behauptet, meldet Cory Doctorow bei Boingboing: "Piraten" sind die besten Kunden.) Andreas Kilb verweist auf die alljährliche Andrej-Tarkowskij-Retro im Berliner Arsenal.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen von Marc Brandenburg in der Hamburger Kunsthalle, die Ausstellung "Architekturbilder" im Architekturmuseum der TU, zwei Ausstellungen japanischen Kunsthandwerks in Solingen und Frechen, Einspielung von Harmoniemusiken zu mehreren Opern von Antonio Salieri durch das Consortium Classicum, Tetsuya Nakashimas Thriller "Geständnisse" und Bücher, darunter Veronique Bizots Roman "Meine Krönung" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).