Heute in den Feuilletons

Neue, wilde, wirre Dinge

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.07.2011. Wer Henryk Broder für Utoeya verantwortlich macht, muss auch einknickenden Politikern für den Anschlag auf Kurt Westergaard die Schuld geben, meint Hamed Abdel Samad in der Welt. Und Clemens Setz feiert den Comic-Romancier David Mazzucchelli. In der FAZ beklagt Peer Steinbrück, was von Europa übrig ist: "Treffen von mehr oder wenigen alten Männern plus einer Frau." In der NZZ preist Bora Cosic das straflose Laster des Lesens. Die FR huldigt Giorgio Vasari, der uns die Lust an der Macht, dem Denken und der Schönheit zeigte. Und Nicolas Stemanns Salzburger "Faust"-Inszenierung macht die Kritiker ratlos, aber auch glücklich.

NZZ, 30.07.2011

Der serbische Schriftsteller Bora Cosic macht sich in einem sehr schönen Text Gedanken über das "Lesen als unbestraftes Laster". Hier der Anfang: "Ich erinnere mich an eine Szene, die mir der Dichter des Belgrader Surrealismus Dusan Matic erzählt hat. Er war 1941 im montenegrinischen Partisanenaufstand, und während die künftigen Kämpfer um ihn herum ihre Gewehre reinigten, saß der Dichter auf einer Terrasse in der Nähe, rauchte und las Nietzsche. Es ärgerte ihn, dass viele Soldaten zu ihm kamen, um ihre Zigaretten an seiner anzuzünden, er erzählte mir, er habe nicht die Nerven gehabt, das Rauchen des ganzen Volksbefreiungskampfes zu unterstützen. So kehrte er in sein Belgrader Zimmer zurück, in der unangenehmen Okkupationszeit, voller Gefahren. Jetzt denke ich, Matic hat sich nicht wegen dieser Raucherepisode vom Krieg abgewandt, sondern weil ihn die Masse der gemeinen Soldaten beim Lesen gestört hat."

Weiteres: Der Autor Graham Swift schreibt in der Reihe "When the Music's over" über die "Macht der billigen Musik". Marcus Stäbler hat in Reggio Emilia ein entstaubtes und mitreißendes Streichquartettspiel erlebt.

In Kunst und Literatur huldigt Kurt Stoessel dem grandiosen Giorgio Vasari, der vor fünfhundert Jahren geboren wurde und mit seinen Künstlerviten zum Gründervater der Kunstgeschichte wurde. Als ihrem Erbauer widmen die Uffizien ihm eine Ausstellung, die sich Eva Clausen angesehen hat. In den Bildansichten schreibt Jürg Halter über die Künstlerin Silvia Bächli.

Besprochen werden eine Ausstellung über den russischen Baukünstler Alexander Brodsky im Architekturzentrum Wien und Bücher, darunter Yu Jians Gedichte "Akte 0", John Burnsides Roman "Lügen über meinen Vater" und Ulrich Peltzers Frankfurter Poetikvorlesungen "Angefangen wird mittendrin" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 30.07.2011

Wie immer, wenn etwas Schlimmes passiert, wird in Deutschland Henryk M. Broder die Schuld gegeben. Hamed Abdel-Samad wehrt sich mit deutlichen Worten gegen das Broder-Bashing der letzten Tage: "Wer Broder, Sarrazin und Wilders für das Attentat von Oslo mitverantwortlich machen will, muss konsequenterweise auch den Koran direkt für alle islamistischen Terroranschläge machen. Aus der gleichen Logik heraus muss jeder deutscher Politiker oder Islamfunktionär, der die Mohammed-Karikaturen als Rassismus bezeichnet hatte, für den Anschlag auf Kurt Westergaard verantwortlich gemacht werden."

Was ruft der Autor Clemens Setz im Aufmacher der Literarischen Welt nach Lektüre von David Mazzucchellis Graphic Novel "Asterios Polyp"? "Ein Meisterwerk." Keine Kleinigkeit in diesem Genre! "Der Comic-Romancier darf viel weniger behaupten als der gewöhnliche Romancier. Wenn beispielsweise ein Eindruck von Asterios Polyps Arbeit als Architekt gegeben werden soll, genügt nicht einfach eine Beschreibung, sondern Mazzucchelli liefert uns gleich einige Kostproben seines Schaffens, zwei Gebäude, die von einem (vielleicht unbewusst eingesetzten) Zwillingsmotiv beherrscht werden. Keine Szene bildet narratives Füllmaterial, keine Diskussion nur ein Scharnier zwischen zwei Handlungssträngen, jede Einzelheit des Geschehens bleibt bildreich und anschaulich".

Henryk M. Broder erinnert an den verstorbenen Mietek Pemper, die rechte Hand Oskar Schindlers und Sekretär des KZ-Kommandanten Göth: "Er war ein Mensch mit einem scharfen Verstand, einem gütigen Herzen, einer verletzlichen Seele und vor allem: einem inneren Kompass, der vielen Zeitgenossen abhanden gekommen ist. Er wusste, was geht und was nicht geht, ohne dies im Einzelfall begründen zu müssen. Seine Haltung entsprang der altmodischen Regel: "Das tut man nicht!" bzw. "Das muss gemacht werden!""

Besprochen werden unter anderem Thomas Wolfes Roman "Die Party bei den Jacks", Ernst Tollers Erinnerungen "Eine Jugend in Deutschland", Per Pettersons Roman "Ist schon in Ordnung", Michael Thumanns Band "Der Islam-Irrtum" und Herbert Güttlers Band "Beutekunst?".

Gibt es Konkurrenz zwischen der Fotografie und der Malerei? Nein, meint im Feuilleton der Fotokünstler Jeff Wall, es gibt überhaupt keine Konkurrenz zwischen den Künsten: "Was ich am meisten an der Kunst schätze, ist nicht jenes "Wow, wir haben was ganz Neues gemacht!". Es ist etwas wie ein Haus errichten, einen Plan zu machen, ihn auszuführen, kompliziert wie ein elektrisches System."

Weitere Artikel: Hans-Joachim Müller erinnert an den vor 500 Jahren geborenen Giorgio Vasari. Alan Posener geht Essen mit Bahman Nirumand. Marc Reichwein überlegt, warum in der Literaturkritik Verrisse so selten geworden sind. Manuel Brug schickt acht Beobachtungen aus Bayreuth: "Warum lallte Katharina Wagner auf dem Staatsempfang? Hatte sie was genommen oder waren es nur die hohen Absätze?"

Besprochen werden Tetsuya Nakashimas Film "Geständnisse" und Nicolas Stemanns gemischter "Faust"-Doppelmarathon in Salzburg.

FR, 30.07.2011

Arno Widmann würdigt Giorgio Vasari, den vor 500 Jahren geborenen Künstler, Impresario und vor allem Autor der "Viten", als äußerst wirkungsmächtigen Erfinder der "Kunstreligion": "Seit sie 1550 das erste Mal erschienen, haben die Lebensbeschreibungen Tausenden, Zehntausenden Söhnen kleiner Handwerker, Beamter in ganz Europa vorgeführt, dass der Stand nicht alles ist. Dass auch die Mächtigsten von der Kunst, vom Künstler in die Knie gezwungen werden können. Vasari öffnete den Untertanen - wohl auch noch dem Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche aus Röcken bei Lützen - die Augen für wilde, herrschsüchtige Naturen, für die Lust an der Macht und dafür, dass sie zusammengehen kann mit der am Denken und an der Schönheit."

Weitere Artikel: Christian Bommarius erkennt im "Neger" Berdoa aus Christian Dietrich Grabbes "Herzog Theodor von Gothland" das "Spiegelbild" von Anders Breivik. Über die Zusammenhänge von Denkmalschutz und schlechtem Gewissen denkt Robert Kaltenbrunner nach.

Besprochen werden Nicolas Stemanns Salzburger "Faust I" und "Faust II"-Inszenierung (die K. Erik Franzen auf spürbar produktive Weise etwas ratlos gemacht hat) und Bücher, darunter V.S. Naipauls Reisetexte "Afrikanisches Maskenspiel".

Aus den Blogs, 30.07.2011

Die Achse des Guten hat ein paar Dutzend Stimmen zusammengetragen. Die meisten, aber nicht alle, geben Henryk M. Broder die Schuld an Anders Breiviks Massaker, und zwar hier, hier, hier, hier, hier und hier.

TAZ, 30.07.2011

Ines Kappert unterhält sich mit Sabine Schiffer, die zur Islamdarstellung in den Medien promoviert hat. Sie attestiert Kappert sozusagen wissenschaftlich, dass Die Welt eine geistige Nähe zu den Denkmustern von Anders Breivik pflegt: "Das Blatt ist führend in Sachen Islamfeindlichkeit und dem damit verbundenen neokonservativen Denken. Denken Sie nur an Texte von Mathias Döpfner, Andrea Seibel oder Leon de Winter. Hinter der vordergründigen Unterscheidung: Wir kritisieren nicht den Islam, sondern nur den Islamismus findet sich stets die Botschaft vom Muslim an sich als potenzielle Gefahr für das Abendland."

Weitere Artikel: Von einer Tagung in Hofgeismar, die Laurie Anderson gewidmet war, berichtet Gaby Sohl, die sich bei der Gelegenheit auch länger mit Anderson über die NASA, ihre neue Performance "Delusion" und andere Dinge unterhielt. Cigdem Akyol und Daniel Schulz liefern Stimmen zur Affäre um die gecancelte RBB-Reportage Güner Balcis zum Einjährigen von Thilo Sarrazins Bestseller: Auch Frank Schirrmacher kommt in dem Text noch einmal zu Wort, der die Geschichte in der FAZ öffentlich gemacht hatte. Brigitte Werneburg erinnert an Giorgio Vasari, den "Eventmanager der Medici", der heute vor 500 Jahren geboren wurde. 

Besprochen werden zwei sehr unterschiedliche Filme über Landkommunen und die Siebziger, nämlich Maria Kreutzers "Die Vaterlosen" und Marcus H. Rosenmüllers Bhagwan-Komödie "Sommer in Orange" und Bücher, darunter Maxi Obexers Romandebüt "Wenn gefährliche Hunde lachen" und Lev Gudkovs und Victor Zaslavskys Studie "Russland. Kein Weg aus dem postkommunistischen Übergang?" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 30.07.2011

Beeindruckend, intellektuell spannend und trotzdem nicht zu anstrengend fand Christine Dössel Nicolas Stemanns Salzburger "Faust", der sich beiden Teil von der Seite der Postdramatik her nähert: "Den langen Weg, den Faust beschritt, von der kleinen Welt in die große, von der Geistes- in die Fleisches- und Sinnenerfahrung, vom engen Studierzimmer in die unfassbare Welt der Mythologie, den geht auch Stemann Schritt für Schritt, indem er die Inszenierung zunehmend öffnet, neue, wilde, wirre Dinge herein- und zulässt, hier Aporien, dort Unverständnis durchaus in Kauf nimmt. Er hat gar nicht erst den Anspruch, alles verstehen oder gar erklären zu wollen, er wirft es uns zum Fraß hin: Nimm oder lass."

Weitere Artikel: Nach achtzehn Jahren wird es nun zu keiner weiteren Anklage vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag mehr kommen, Ronen Steinke bilanziert eine durchaus wechselvolle Geschichte. Björn Staschen fragt sich, wer so alles vom Nichteingreifen ins Schicksal der Amy Winehouse gut gelebt hat. Übers Versagen der Denkmalpflege in Italien berichtet Henning Klüver. Khalid al-Khamissis Kairoer Taxi-Kolumne (inzwischen Nummer 23) widmet sich der vorerst letzten Märtyrerin der Revolution. Eine Münchner Martin-Walser-Lesung hat Michael Stallknecht besucht. Kia Vahland erinnert an den vor 500 Jahren geborenen Biografen, Künstler und Impresario Giorgio Vasari.

Auf der Medienseite berichtet Thomas Schuler, dass die Geschäftspraktiken des von der Washington Post aufgekauften Bildungsunternehmens Kaplan schwer in die Kritik geraten ist.

In der SZ am Wochenende gibt es eine Erzählung von Ursula März mit dem Titel "Inquisition" zu lesen. Kerstin Holzer unterhält sich mit der Ärztin und Schauspielerin Marianne Koch.

Besprochen werden ein Liederabend mit einem recht indisponiert wirkenden Jonas Kaufmann ("gaumiger Edelknödel", so Michael Stallknecht) in München, das neue Wu-Tang-Clan-Album "Legendary Weapons", Tetsuya Nakashimas Thriller "Confessions" (mehr) und Bücher, darunter - zum Sechzigsten des Autors - Martin Mosebachs Malerei-Essay-Erinnerungsband "Das Rot des Apfels" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 30.07.2011

Für ein mehrseitiges Gespräch lässt sich der frühere Finanzminister und eventuelle SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück von Frank Schirrmacher sowie den Bloggern Frank Lübberding, Thomas Strobl und Jochen Venus interviewen. Es geht um Systemkrisen, die Übermacht der Ökonomie und Europa, über dessen Zustand Steinbrück sehr unglücklich ist: "Wo ist das Forum in und für Europa, wo die zentralen Fragen unserer weiteren Entwicklung nicht nur visualisiert werden durch sogenannte Gipfel, sondern auch Mitsprache und Teilhabe formuliert werden? Dieses Forum könnte das europäische Parlament sein. Aber in Wirklichkeit haben wir Europa reduziert auf die Treffen von mehr oder wenigen alten Männern plus einer Frau."

Mit Nicolas Stemanns Salzburger "Faust II" konnte Gerhard Stadelmaier wenig anfangen, aber "Faust I" verschaffte ihm "pures Theaterglück". So verbrecherisch ist ihm Faust lange nicht erschienen: "Der Schauspieler Sebastian Rudolph zeigt mühelos und virtuos, hocherregt und kühl kalkuliert in einem, dass dieser junge Herr kein Gelehrter, kein Geist- und Geistersucher, kein Weltdurchdringer, kein Großhirn und keine Universal-, gar eine Nationalfigur ist, sondern: ein wutverquälter, ichsüchtiger, alles wollender, alles aus sich herausschuftender und in sich hineinfressender Alleinherrscher."

Weiteres: Jürgen Dollase speist im Düsseldorfer "Victorian" von Volker Drkosch. Ivo Goetz erzählt von den Überwachungsbildern, die der Berliner Künstler Simon Menner im Stasi-Archiv aufgetan hat und die jetzt in einer Ausstellung im Kunst-im-Bauhof-Haus im schweizerischen Winterthur gezeigt werden sollen. Anne-Dore Krohn trifft den Stuttgarter Dietrich Wagner, der fast blind ist, seit er bei einer Demonstration gegen Stuttgart 21 von einem Wasserwerferstrahl getroffen wurde. Auf der Medienseite meldet Michael Hanfeld, dass die Bunte zwei Reporter wegen unsauberer Recherchemethoden entlassen hat.

Andreas Kilb besucht für Bilder und Zeiten das Neue Palais in Potsdam. Felicitas von Lovenberg gratuliert dem Schriftsteller Martin Mosebach zum Sechzigsten. Und Jan Brachmann unterhält sich mit dem katalanischen Gambisten und Dirigenten Jordi Savall über Musik und Gedächtnis.

Besprochen werden das Prince-Konzert in Köln, eine CD mit Musik aus der amerikanischen Frühzeit "Rose of Sharon", Eddie Vedders Album mit "Ukulele Songs" (hier ein Video), die Horspielfassung von Philip Roth' Roman "Empörung", Liao Yiwus Bericht aus dem chinesischen Gulag "Für ein Lied und hundert Lieder" und Wilhelm Genazinos Roman "Wenn wir Tiere wären" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In der Frankfurter Anthologie stellt Renate Schostack Michael Krügers Gedicht "Nächtlicher Garten vor:

"Die Äste des Ahorns so schwer,
dass die Schaukel das Gras sichelt
..."