Heute in den Feuilletons

Der Gnom mit dem straffen Scheitel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.08.2011. In Words Without Borders spricht der syrisch-deutsche Autor Rafik Schami trotz allem hoffnungsvoll über die Lage in Syrien. Holger Ehling erzählt in seinem Blog erstaunliche Geschichten über den afrikanischen Buchmarkt. Auch in Großbritannien wird Thilo Sarrazin, unter anderem von Guardian und Independent, heftig angegriffen und verteidigt sich in Spiked Online. Die SZ beobachtete die Digitalisierung von Regimentsbierkrügen. Die taz trifft den in Berlin lebenden iranischen Musikproduzenten Sohrab, dessen Asylantrag abgelehnt wurde. Und die Bundesrechtsanwaltskammer spricht sich gegen Leistungsschutzrechte aus.

NZZ, 02.08.2011

Kein gutes Haar lässt der Historiker Norbert Frei an dem Sammelband "Singuläres Auschwitz?", besonders unangenehm sind ihm die Beiträge des Althistorikers Egon Flaig, der die athenische Demokratie in ihrer Einzigartigkeit bedeutsamer findet als den Holocaust und Denkverbote wittert: "Flaig glaubt uns davon nicht weit entfernt in einer 'Postmoderne', die sich darin gefalle, 'alle Wahrheitsansprüche zu denunzieren', und in der die 'pestartige Virulenz der Political Correctness und des Gutmenschentums mit seiner spezifischen Intelligenz' herrsche. Über der Frage der Singularität des Holocaust randaliert der Althistoriker nicht zum ersten Mal. 'Sogar der Rotz in meinem Taschentuch ist singulär', meinte er 2007 im Merkur. Inzwischen sieht er die Sache noch klarer: Der Historikerstreit war ein 'Sieg der stalino-maoistischen Streitkultur', dessen Folgen wir alle bis heute zu ertragen haben' - nämlich in Gestalt eines damals in die heile Welt der Wissenschaft gekommenen 'Lumpenjournalismus' und des 'moralischen Terrors'." (Hier Flaigs Text in der FAZ)

Weiteres: Marion Löhndorf stellt die britische Government Art Collection vor, von der die Whitechapel Gallery gerade eine Auswahl zeigt. Geri Krebs schreibt zum Tod des kubanischen Schriftstellers Eliseo Alberto.

Besprochen werden Richard Strauss' Oper "Die Frau ohne Schatten", deren Spießigkeit Christof Loy und Christian Thielemann die Penetranz genommen haben, wie Peter Hagmann erleichtert feststellt), Hisham Matars Roman "Geschichte eines Verschwindens", Christian Zehnders Roman "Julius" und Emmanuelle Paganos Roman "Bübische Hände" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 02.08.2011

Really weird! Selbst in Großbritannien sorgt Thilo Sarrazin für höchst kontroverse Reaktionen und wird vom Guardian (hier), vom Independent (hier) und marginaleren Websites heftig angegriffen. In Spiked online finden sich weitere Links. Und Sarrazin verteidigt sich: "Sarrazin says this post-Norway demonisation of right-wing thinkers is a 'power play by people who don't only want to set the agenda, but who insist that their agenda is the only one which is morally right. Parts of the political class and the so-called intellectual class are trying to make us into pariahs.'"

Timothy Garton Ash macht in seiner Guardian-Kolumne zwar nicht die "geistigen Brandstifter", aber "das Internet" mitverantwortlich für Breiviks Tat: "Online, you can so easily find the thousand other people who share your perverted views. You then get a vicious spiral of groupthink, reinforcing the worst kind of ideology: an internally consistent, systematic worldview, totally divorced from everyday humanity."

Hier übrigens das schönste Stück Musik der Welt in der schönsten Aufnahme der Welt:



Trocken liest sich die Prosa der Bundesrechtsanwaltskammer, aber deutlich ist ihre auf juris.de veröffentlichte Stellungnahme zur Verlegeridee der Leistungsschutzrechte. Eine Erweiterung der Schutzrechte "auf Kleinstbestandteile vor allem textjournalistischer Leistungen führte dazu, dass solche bislang urheberrechtsfreien Leistungen einem Verbietungsrecht der Verlage unterstellt würden. Da dies mit Beeinträchtigungen der Informationsfreiheit der Bürger, aber auch der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit anderer Unternehmen verbunden ist, müssten weitere erhebliche Gründe hinzutreten, um die Einführung eines solchen Schutzrechts zu rechtfertigen."

Trotz allem hoffnungsvoll äußert sich der syrisch-deutsche Autor Rafik Schami im Interview mit Words Without Borders über die Lage in Syrien: "This nonviolent insurgency in Syria is the longest in its history. No ruler in the world has an answer to that kind of thing. The regime is merely reacting, the initiative passed into the hands of the insurgents long ago, and they have already done a great deal. The length of their nonviolent resistance will overthrow the regime, whose movements are being paralyzed."

Südkorea und vor allem Seoul wird derzeit von den Folgen eines Jahrhundert-Unwetters heimgesucht: Eine bedrückende Fotostrecke auf The Big Picture verdeutlicht das Ausmaß der Katastrophe.

Aus den Blogs, 02.08.2011

Holger Ehling erzählt auf seinem Blog erstaunliche Geschichten über den afrikanischen Buchmarkt. Zum Beispiel zitiert er das "Selbstlob einer US-amerikanischen Hilfsorganisation: 'Books For Africa is the world's largest shipper of donated books to the African continent. Since 1988, Books For Africa has shipped over 24 million high-quality text and library books to children and adults in 45 African countries. Millions more are needed.' Mehr als 24 Millionen Bücher in 23 Jahren. Mehr als 24 Millionen Bücher, die nicht von afrikanischen Autoren geschrieben, nicht von afrikanischen Druckereien gedruckt, nicht von afrikanischen Verlagen verlegt wurden. Ist das hilfreich?"
Stichwörter: Buchmarkt

Welt, 02.08.2011

"Die Feinde der Freiheit haben offenkundig bei dieser Freiheitsrevolte allzu oft die Fäden gezogen", schreibt der Alt-68er und heutige Welt-Redakteur Thomas Schmid nach der Nachricht, dass auch Horst Mahler IM der Stasi war: "Irritierend ist es doch, dass DDR und Stasi viel öfter mit von Partie waren, als wir ahnten. Von Klaus Croissant, Brigitte Heinrich, von Till Meyer wusste man es bereits. Hatte Horst Mahler am Ende Kurras 'bewegt'? Die Stasi hatte den Berliner Extradienst aus dem Osten finanziert, Gelder in die Anti-Springer-Kampagne eingespeist."

Weitere Artikel: Marko Martin hat in einem Kino in Kalkutta eine Bollywood-Version des "Untergangs" gesehen ("Weshalb aber lispelt Eva Braun so lieblich auf englisch und initiiert einen Bollywood-Tanz, sobald sie der Gnom mit dem straffen Scheitel offiziell geehelicht hat?"). Hanns-Georg Rodek bespricht J.J. Abrams' Film "Super 8", eine Hommage an Steven Spielberg. Sven Felix Kellerhoff empfiehlt einige Dokumentationen und Fernsehfilme zum fünfzigsten Jahrestag des Mauerbaus im Ersten. Besprochen wird außerdem Nonos "Prometeo" unter Ingo Metzmacher in Salzburg.

TAZ, 02.08.2011

Robert Miesner trifft den Musikproduzenten Sohrab, der seit seiner Flucht aus dem Iran in Berlin lebt. Sein Antrag auf Asyl wurde in erster Instanz abgelehnt: "Sohrab musste Teheran verlassen. Er sei wahnsinnig geworden in seiner Heimatstadt. Seine Entfremdung - er hatte an den Protesten gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen vom Juni 2009 teilgenommen und war inhaftiert worden -, war mehr als eine politische: Er wusste, dass er nicht der Einzige war, der im Abseits alleine vor sich hin wurschtelte, doch war kein Kontakt möglich. Nach seinem Konzert im Berghain beantragte Sohrab in Deutschland Asyl. Hinter ihm liegen mehrere Monate eines zermürbenden Verfahrens. Es hat Spuren hinterlassen: 'Ein Gang durch die Straßen zeigt mir, dass ich isoliert bin.' Auftritte sind ihm in Deutschland verwehrt."

Weitere Artikel: Micha Brumlik denkt über Marx und Wagner nach. Jutta Lietsch berichtet aus Peking, unter welchem Druck die Mitarbeiter und Freunde von Ai Weiwei stehen. Mely Kiyak sieht die Muslime als Opfer des Massakers in Norwegen und hätte daher von deutschen Politikern gern die Frage gehört: "Mitbürger, die ihr euch als Muslime seht oder gesehen werdet - wie geht es euch?" Auf der Meinungsseite nimmt der italienische Historiker Piero Bevilacqua Abschied vom Fortschritt.

Besprochen werden die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Stück "Die vier Himmelsrichtungen" in Salzburg und Bücher, darunter ausgewählte Briefe von Guy Debord (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR/Berliner, 02.08.2011

Sylvia Staude berichtet befremdet von dem anhaltenden Boom auf dem Krimimarkt: "Ein ehemaliges Neben-Genre, eine Gebrauchsliteratur für eher wenige Gelegenheiten, das Jungspendant zum Liebesroman hat sich brutal breit gemacht, um einmal ein Lieblingswort von Thriller-Klappentexten zu benutzen. Früher lasen Pennäler unter der Schulbank Tom-Shark-Heftchen, waren Agatha Christie und Francis Durbridge Oma-Lektüre. Heute haben Leser von Krimis und Verwandtem in S-, U- und anderen Bahnen die Mehrheit."

Johan Galtung, norwegische Fossil der Friedensforschung, meldet sich mit einigen sehr eigenen Überlegungen zum Attentat von Oslo zu Wort. "Uns Norweger hat die Wirkung dieser einzelnen norwegischen Düngemittelbombe zutiefst erschüttert. Gut denkbar, dass es den Libyern, die mit den Folgewirkungen der 501 norwegischen Bomben fertig werden müssen, ähnlich geht." Übrigens: sehr hübsche Geschichten über Galtung stehen ausgerechnet in den heutigen Ausgabe der Ruhrbarone. In Tübingen hat Galtung gerade folgenden denkwürdigen Satz gesagt: "Die USA haben seit 1805 weltweit 17 bis 20 Millionen Menschen getötet, das sind viel mehr als Hitler, wenn auch in einem größeren Zeitraum" und damit sogar die Linkspartei zur Distanzierung getrieben!

Auf der Medienseite widmet sich Torsten Wahl den erratischen Finanztransaktionen beim MDR. Besprochen wird Gregor Hens' Essay "Nikotin" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages).

SZ, 02.08.2011

Rudolf Neumaier stellt ein von der Oxford University ausgebrütete Europeana-Projekt vor, in dem Schriftstücke aus dem Ersten Weltkrieg digitalisiert werden. Jeder kann mitmachen! "An diesem Tag macht das Europeana-Team in Regensburg Station. Eberhard Dünninger, 77, muss lange warten, bis er an der Reihe ist. Der Andrang ist groß. Weit mehr als hundert Leute kommen, um Dokumente scannen und Gegenstände aus dem Krieg fotografieren zu lassen - Regiments-Bierkrüge, Eiserne Kreuze, Säbel, sogar Handgranaten."

Weitere Artikel: Stephan Speicher mokiert sich über Heiner Geißler, der den Stuttgart-21-Streitparteien kürzlich die Frage an den Kopf warf: "Wollt ihr den totalen Krieg?" "Besorgniserregend" findet Alex Rühle das Schweigen Europas zu Ungarn und den immer undemokratischer werdenden Regierungsmethoden Victor Orbans. (Zur weiteren Information empfiehlt er das deutschsprachige Blog Stargarten.) Andrian Kreye hat zwei Bücher über Architektur und Wachstum gelesen und hält fest: die Skyline von Shanghai ist heute, was im 20. Jahrhundert die Skyline von New York verkörperte: "Hoffnung, Aufbruch und Wachstum". Nach Merkels Forderung, den Parlamentsvorbehalt einzuschränken, befürchtet Adrian Lobe eine Entmachtung des Bundestages. Thorsten Schmitz besucht den norwegischen Bestsellerautor Jostein Gaarder, der ihm sagt, "dass er, Gaarder, zunächst gedacht habe, Islamisten hätten die Terroranschläge ausgeführt und dass er 'geradezu erleichtert' gewesen sei, dass es 'doch einer von uns war'".

Besprochen werden die Ausstellung "Alles Kannibalen?" im Me Collectors Room Berlin, Stiftung Olbricht, ein Petersburger Konzert mit Schumann-Sinfonien, gespielt von Paavo Järvi und dem Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, eine Ausstellung des Schweizer Mode-Illustrators Francois Berthoud im Zürcher Museum für Gestaltung und Bücher, darunter Joseph Zoderers Roman "Die Farben der Grausamkeit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 02.08.2011

Umfassend schildert Brigitte Scherber den Boom des Kreuzfahrtreisens seit den späten Neunzigern ("Kreuzfahrt als Superstar"). Eher schlecht gelaunt berichtet Christian Wildhagen von den Bayreuther Festspielen. Unausgereift, unverhältnismäßig, größenwahnsinnig - viel gute Worte hat Andreas Rossmann nicht gerade übrig für das Dortmunder Bauprojekt "Kö-Bogen", dessentwegen sich Kommune und Denkmalpflegeamt gerade in den Haaren liegen. Einen Artikel weiter ist Rossmann indessen sehr angetan vom Literatur- und Musikfest "Wege durch das Land" in Ostwestfalen-Lippe. Zum Willen Kurt Becks, als erster Ministerpräsident der Bundesrepublik ein Oberlandesgericht zu schließen, liefert Martin Otto Hintergrundwissen aus der facettenreiche Geschichte der Gerichtsschließungen in Deutschland. "Oju" berichtet, dass der Lappan-Verlag derzeit zahlreichen Blogs und Websites mit Zitaten aus Heinz-Erhardt-Gedichten gesalzene Rechnungen mit Schadensersatzforderungen schickt (so wie es die FAZ ja auch immer wieder tut, eine juristische Einschätzung dazu hier). Gemeldet wird, dass der Schriftsteller Eliseo Alberto im Alter von 59 Jahren in Mexiko gestorben ist. Auf der Medienseite berichtet Peter Lückemeier über das letzte "Aufbäumen" der FR - noch einmal sollen 30 Millionen Euro investiert werden.

Besprochen werden eine Aufführung von Richard Strauss' "Die Liebe der Danae" am Bard Summerscape in USA, eine Ausstellung mit Fotografien von Ursula Edelmann in Frankfurt, die Ausstellung "Von Herakles zu Alexander dem Großen" im Ashmolean Museum in Oxford sowie Bücher, darunter der erste Band einer ambitionierten Edition der Tagebücher des Anarchisten Erich Mühsam, die hier im übrigen sehr schön online flankiert wird (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).