Heute in den Feuilletons

Ausweitung der Zone

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2011. Die Welt erzählt, wie Charlotte Roche erzählt, wie die Drücker der Druck ihre Trauer zerstörten. In Project Syndicate gibt Ian Buruma Geert Wilders und den Rechtspopulisten eine Mitschuld am Massaker von Utoeya. In der taz zeigt sich der Sozialanthropologe Ross Holloway entsetzt: Den revoltierenden Jugendlichen von London fehlt zwar nicht der Furor, aber die Fantasie. In der SZ erklärt die Harvard-Historikerin Leila Ahmed, warum es wichtig ist, die Frauenfrage fallen zu lassen: "Es ist tatsächlich nicht mehr als eine Rhetorik ohne Bedeutung und Inhalt, die wir aus imperialistischen Zeiten übernommen haben."

Welt, 12.08.2011

Nun opfert auch die Welt ihren Kulturaufmacher für Charlotte Roche, obwohl diese Zeitung ja von Springer ist. Elmar Krekeler erzählt auch, wie Roche den Unfall ihrer Familie, den Tod ihrer Mutter und Brüder, in den Roman eingearbeitet hat: "Wie dann gleich eine Boulevardzeitung anrief und ein Statement haben wollte, wie die Druck-Zeitung das Bild vom ausgebrannten Wagen druckte, das sie nie hatte sehen wollen. Wie sie sich vergewaltigt fühlte von den Drückern der Druck. Wie die Zeitung, die Medien, die 'Blutgafferpornografen' ihre Trauer zerstörten. Wie sie einen mörderischen Hass bekam auf die Zeitung und jene, die Geld verdienen mit dem Elend der anderen."

Weitere Artikel: Der beneidenswerte Manuel Brug erlebte "zwei hochspannende Stunden" mit Janaceks "Die Sache Makropoulos" in Salzburg ("mehr als nur eine Ahnung von Puccini auf Mährisch" verbreiteten die Wiener Philharmoniker unter Esa-Pekka Salonen). Marc Reichwein ächzt in seiner Feuilletonkolumne über die "Ausweitung der Zone" in den für ihre Originalität berüchtigten Überschriften deutscher Feuilletons. Henryk Broder mokiert sich über Pastor Fliege, der nach Vorwürfen, mit Scientology-Angehörigen zu handeln, sagte, er kaufe auch bei Juden. Und Jan Küveler unterhält sich mit Matthias Ulrich, Kurator der Schirn, über die Kunstaktion "Playing in the City".

FR/Berliner, 12.08.2011

In Frankfurt feiert das rundum erneuerte und gelichtete Filmmuseum seine Wiedereröffnung, Daniel Kothenschulte hat sich für einen Moment wehmütig in einen dunkleren Winkel zurückgezogen: "Es ist ein großer Tag für den Film. Und ein tragischer für die Architektur. Fast alles, was sich vor und hinter der gründerzeitlichen Fassade aufgetan hatte, wurde abgerissen: Eine Wunderkammer, die über die Jahre vielleicht zu einer Räuberhöhle geworden war, aber den Besucher über die mittige Treppe förmlich einsaugte und zum Stöbern verführte. "

Besprochen werden Christoph Marthaler Janacek-Inszenierung "Vec Makropulos" in Salzburg, die Beststellerverfilmung "Die Einsamkeit der Primzahlen" und Götz Alys Buch zur Frage aller Fragen "Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 12.08.2011

Ian Buruma schreibt in Project Syndicate (übernommen von Qantara) über Breivik und Brandstifter: "Gewiss, weder Geert Wilders noch selbst so fanatische Blogger in den USA wie die von Breivik in seinem Manifest ausführlich zitierten Scott Spencer und Pamela Geller haben zu physischer Gewalt aufgerufen. Aber ihre Texte und Äußerungen waren hysterisch und hasserfüllt genug, um eine psychisch-labile Person dazu anzustiften. Und tatsächlich ist Breiviks Interpretation ihrer Worte, wenn auch auf bizarre Weise, rationaler als der Gedanke, dass ein Krieg um unser Überleben mit Worten allein gewonnen werden könnte."

TAZ, 12.08.2011

Ein Twitter-Kommentar bringe die Ereignisse in London auf den Punkt, meint der Sozialanthropologe Ross Holloway in seinem Artikel über die Geschichte von Unruhen in der Stadt. Er schreibt: "Die Jugend im Nahen Osten geht für Menschenrechte auf die Straße. Die Jugend in London tut es für einen 42-Zoll-Plasmafernseher." Holloway meint: "Am erschreckendsten für die Bevölkerung ist nicht, dass Unruhestifter gegen etwas protestieren, sondern dass sie entweder gegen nichts protestieren oder gegen alles. Indem die Jugendlichen vor allem Geschäfte für Sportkleidung und Unterhaltungselektronik zu ihrem Ziel erklärt haben und aus Kiosken Schnaps und Zigaretten haben mitgehen lassen, demonstrieren sie zu gleichen Teilen hohlen Materialismus wie profunde Fantasielosigkeit."

In einem Pro und Contra diskutieren Falk Lüke und Christian Füller nach Forderungen von Politikern, sich nach den Morden von Oslo im Internet künftig nur unter Klarnamen bewegen zu dürfen, ob wir Anonymität im Netz tatsächllich brauchen. Klaus Walter schreibt über den für Samstag angekündigeten städteübergreifenden Slutwalk gegen die "blöde Idee", Frauen provozierten die gegen sie gerichtete sexuelle Gewalt mit ihrem Outfit - einen Unsinn, den schon die Punks und Riot Grrrls lustvoll obszön gekontert hätten.

Besprochen wird das Hiphop-Album "Black Up" von Shabazz Palaces.

Und Tom.

NZZ, 12.08.2011

Manfred Schwarz besucht in Bonn die Max-Liebermann-Ausstellung, dessen Welt ihm nicht ganz geheuer scheint: "Selbst noch im Waisenhaus herrscht Anmut und Harmonie, Friedlichkeit und Festtagsstimmung. Es ist eine Welt ewiger Ferien, einer niemals getrübten Sommerfrische, die sich widerstandslos den Müßiggängern darbietet."

Weiteres: Einen Moment des Musizierens, wie er sich "glücklicher kaum denken lässt" hat Peter Hagmann beim Eröffnungskonzert des Lucerne Festivals erlebt, als Radu Lupu und Claudio Abbado Brahms' Erstes Klavierkonzert gaben. Joachim Güntner sieht auch die neuen Mutmaßungen um Horst Mahlers Stasi-Kontakte nicht als Beleg dafür, dass 68 von der DDR aus gesteuert wurde. Und Bjoern Schaeffner warnt: Disco ist wieder en vogue.

Besprochen werden eine Ausstellung zur Spitze im St. Galler Textilmuseum sowie der Urbanisierungsband "Living in the Endless City.

Aus den Blogs, 12.08.2011

(Via Filmkunst) Flavorwire hat die hübschesten Lästereien zusammengestellt, mit denen sich Regisseure gegenseitig ihre Bedeutungslosigkeit und Langweiligkeit versichert haben. Zum Beispiel Truffaut über Antonioni: "Antonioni is the only important director I have nothing good to say about. He bores me; he?s so solemn and humorless."

Oder Werner Herzog über Godard: "Someone like Jean-Luc Godard is for me intellectual counterfeit money when compared to a good kung-fu film."

FAZ, 12.08.2011

Integrative Heils- wenn nicht Heilungserwartungen knüpfen Politiker aller Couleur an einen islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen, beobachtet Patrick Bahners. Bleibt ein Knackpunkt: Die Feder beim Verfassen der Lehrpläne führen die Religionsgemeinschaften, nicht der Staat. Bahners wägt die Positionen in dieser Debatte ab, in der - "verkehrte Welt" - ausgerechnet Linke als Anwälte der Religionen auftreten. Anne-Dore Krohn porträtiert das "Forum DDR Grenze", wo Augenzeugen der innerdeutschen Grenze regen Austausch pflegen, und hat dafür auch einige der Foristen privat besucht. Rüdiger Klein berichtet vom Erfolg der LUX-Jugendkirche in Nürnberg, die mit Bassboxen und anderen Partyversprechungen ihr Haus füllt. Felicitas von Lovenberg stellt die britische Autorin Caitlin Moran (mehr hier) als "britische Charlotte Roche" vor: Beide entspringen dem Musikfernsehen und schreiben in ihrer Heimat vielbeachtete Bücher über ihr Frausein. Kurz und bündig fällt der Nachruf auf den Maler Willi Neubert aus.

Besprochen werden Chistoph Marthalers Inszenierung von Leos Janaceks Oper "Die Sache Makropulos" im Rahmen der Salzburger Festspiele, der Film "I'm Still Here" (mehr) und Bücher, darunter eine Biografie der New Yorker Boheme-Königin Dorothy Parker (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 12.08.2011

Was machte die Shoah möglich? Einige erwägenswerte Antworten auf diese "Frage alle Fragen" findet Gustav Seibt im neuen Buch von Götz Aly, in dem der Historiker die mentalitätshistorischen Voraussetzungen des eliminatorischen Antisemitismus in Deutschland untersucht. Dieser lässt sich als Vorspiel der Exzesse im Dritten Reich in allen ideologischen Lagern und Bevölkerungsschichten attestieren, resümiert Seibt Alys belegreiche Analyse. Der Impuls des Historikers sei dessen "Weigerung zu glauben, 'die Antisemiten von gestern seien gänzlich andere Menschen gewesen als wir Heutigen'. (...) Die Menschen, die den Judenmord vorbereiteten und möglich machten, stehen uns in vieler Hinsicht so nah, dass der Historiker am Ende statuiert: 'Ein Ereignis, das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist, kann sich wiederholen.'"

Die Historikerin Leila Ahmed stellt ihre antiimperialistischen Forschungen vor, die sie zu dem Schluss gelangen lassen, dass eine frauenrechtlich argumentierende Kritik am Islam rein imperialistischen Zielen diene. Hinsichtlich der "Unterdrückung der Frau im Islam" stellt sie fest: "Es ist an der Zeit, dieses Thema aus unserem Repertoire zu entfernen. Es ist tatsächlich nicht mehr als eine Rhetorik ohne Bedeutung und Inhalt, die wir aus imperialistischen Zeiten übernommen haben. Jetzt ist es Zeit, diese Rhetorik fallenzulassen."

Weiteres: Kein gutes Haar lässt Till Briegleb an den Einkaufszentren des Branchenführers ECE, die seiner Ansicht nach "den Geist der europäischen Stadt" zunehmend verdrängen. Tobias Kniebe gratuliert dem Drehbuchautor William Goldman zum 80. Geburtstag. Dominik Schottner referiert als unklar bleibendes Statement für Klarnamenpflicht im Netz den Fall der Bloggerin EJ, deren Wohnung von einem Gast verwüstet wurde, der über eine Zimmertauschbörse in das Apartment gelangt war. Dorion Weickmann hat sich umgeschaut, wie die Tanzkunst ins Digitale abwandert - in Computerspiele, Internetportale und digitale Tanzschulen. Tina Rausch war bei der Buchpräsentation von John von Düffels neuem Roman "Goethe ruft nicht an" im Spreewald, wo der Autor im Bademantel erschien. Wolfgang Schreiber hat das Eröffnungskonzert von Claudio Abbados Orchester beim Lucerne Festival gut gefallen. Gemeldet wird, dass beim Brand eines Vorratslagers bei den Ausschreitungen in London zahlreiche Filmkunst-DVD-Labels ihre Warenbestände verloren haben.

Besprochen werden eine neue CD mit Indie-Nashville-Sound von John Hiatt, der Film "Die anonymen Romantiker" (mehr) und Bücher, darunter Felix Hartlaubs "Kriegsaufzeichnungen aus Paris" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).