Heute in den Feuilletons

Eiseskälte bis zum heutigen Tag

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.08.2011. In der Welt unterhalten sich Jens Reich und Peter Schneider über die Mauer und ihre Freunde und Feinde unter deutschen Autoren. Und Henryk Broder lernt in Götz Alys neuem Buch: Der Antisemitismus ist "eine Seelenspeise, mit der sich die Verlierer trösten." Auch die taz empfiehlt Alys neues Buch. Die SZ debattiert über Klarnamen im Internet. Die New Republic winkt ab bei  Kanye West und Jay-Z, aber nicht bei Johnny Cash und Louis Armstrong. Außerdem: Videos von Chris Marker und Romuald Karmakar.

TAZ, 13.08.2011

Jan Feddersen hat Götz Aly auf ein Gespräch besucht. Anlass ist das neue Buch des Historikers, das mentalitätshistorische Spuren des mörderischen Antisemitismus im Deutschland vor dem "Dritten Reich" aufdeckt. Eine Spur: "Gerechtigkeit und Gleichheit, betont Aly, seien gerade in Deutschland viel wichtigere Werte als Liberalität und Freisinn. Bismarck habe den Liberalismus geopfert, nicht zuletzt um den Forderungen der SPD nach 'Volksschutz' entgegenzukommen. Das deutsche Sozialwesen als Lebensversicherung. Das Jüdische war in jenen Jahren immer mehr das, was den Deutschen fremd sein musste."

Der 50. Jahrestag des Mauerbaus bildet den Schwerpunkt der heutigen taz: Stefan Reinecke unterhält sich mit dem Historiker Klaus-Dietmar Henke über die Mauer aus Perspektive der jeweiligen Blöcke des Kalten Kriegs. Wie die Mauer zur Verklärung Westberlins im Osten beitrug, schildert Ilko-Sascha Kowalczuk. Barbara Bollwahn erinnert sich an die Mauer aus der Perspektive Ost, weiterhin hat sie sich umgesehen, wo in Deutschland Bruchstücke der Originalmauer stehen. Ronald Berg stellt die Ausstellung "Aus anderer Sicht" (mehr) vor. Notiert wurden zahlreiche Erinnerungen an das Leben mit der Mauer. Christian Semler zeigt auf, welche Folgen der Mauerbau für die Entwickung eines Westberliner linken Biotops hatte. Bernd Cailloux hingegen beschreibt diese Subkultur im Schatten der Mauer aus der inneren Perspektive, als "Sehnsuchtsort Westberlin". Wie man sich dieses grau-verfallene Idyll unmittelbar vor den Toren der Mauer vorstellen darf, zeigen diese historischen Aufnahmen von 1979 - faszinierende Bilder aus einer anderen Welt:



Weitere Artikel: Christian Werthschulte unterhält sich mit dem Kulturwissenschafter Jeremy Gilbert über die Riots in London. Gilbert macht die grassierende Armut für die Ausschreitungen verantwortlich macht. Ingo Arend hat den Nachruf auf den DDR-Maler Willi Neubert verfasst.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotos aus Westberliner Flüchtlingslagern und Bücher, darunter Klaus-Dietmar Henkes Band "Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 13.08.2011

Die Literarische Welt bringt ein kluges Gespräch von Peter Schneider und Jens Reich über die geringe Rolle, die Mauer und Teilung in der deutschen Literatur spielten. Während Reich daran erinnert, wie staatsnah die Literatur im Osten angelegt war - "Die prominenten Literaten sind in der DDR groß gefüttert worden" - bemerkt Schneider: "Es gab diejenigen, die in einer vagen Loyalität gegenüber diesem angeblich 'besseren Projekt' standen. Fast in Nibelungentreue auch nach 1989, etwa Heiner Müller, Volker Braun und eine ganze Reihe anderer. Und es gab die Anderen, die sich völlig davon losgesagt haben: Sarah Kirsch, Joachim Schädlich, um nur einige Wenige zu nennen. Es ist interessant, dass die Akademie der Künste bis heute diesem Problem ausweicht. Zwischen beiden Gruppen herrscht Eiseskälte bis zum heutigen Tag."

Außerdem erinnert sich der unvermeidliche Egon Bahr an den Mauerbau und die Reden, die er für Willy Brandt schreiben musste. Er empfiehlt das Buch "Ulbrichts Mauer" der amerikanischen Historikerin Hope Harrison, die belegt, dass es Ulbricht war, der die Mauer wollte. Besprochen werden außerdem Hans Rudolf Vagets Buch "Thomas Mann, der Amerikaner", Antje Ravic Strubels Inzestgeschichte "Sturz der Tage in die Nacht" und Götz Alys Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden?", das Henryk Broder zeigte: "Der Antisemitismus war und ist nicht nur der 'Sozialismus der dummen Kerls' (August Bebel), er ist eine Seelenspeise, mit der sich die Verlierer trösten."

In der Kultur: Jan Küveler geht mit dem Schriftsteller Wilhelm Genazino in Frankfurt essen und entlockt ihm ein Bekenntnis: "Beim Espresso erzählt er, dass er nachts oft schlaflos liege und Mahler höre. Dann ereigne sich ein Miniaturbeben. Man kann sich vorstellen, wie es Genazinos melancholische Welt für einen Augenblick repariert, vor allem wenn er jetzt sagt: 'Dann muss ich lachen, was mir tagsüber nicht gelingt.'"

Daniel Johnson, Herausgeber von Standpoint, trauert in einem bemerkenswert altkonservativen Klagegesang um die "Institutionen, die die britische Gesellschaft und besonders diejenigen an ihrem unteren Ende stützen: Ehe, Rechtsstaatlichkeit, Bildung, Religion." Ekkehard Kern berichtet, dass der Brand in einem Lagerhaus, das während der Londoner Krawalle angezündet wurde, viele unabhängige Labels an den Rand des Ruins gebracht hat. Mladen Gladic meldet, dass es in Shanghai schon das neue hiPhone 5 gibt, für etwa 22 Euro. Hans-Joachim Müller besichtigt die John-Chamberlain-Schau in Münchens Pinakothek der Moderne.

FR/Berliner, 13.08.2011

In der FR gratuliert Harry Nutt David Crosby zum Siebzigsten. Und Thomas Schmid schreibt zum 85. Geburtstag von Fidel Castro. Besprochen wird in einer (streikbedingt?) verknappten Sonnabendausgabe Antje Ravic Strubels neuer Roman "Sturz der Tage in die Nacht". Im Magazin der Berliner Zeitung wird Egon Bahr zum Bau der Mauer interviewt.

NZZ, 13.08.2011

Peter Bürger betrachtet in Literatur und Kunst die ungewöhnlich lockere und heitere Verkündigungsszene des Jacopo Pontormo (1494-1557) in der Kirche Santa Felicita in Florenz : "Pontormo nun nimmt keine der in der Frührenaissance entwickelten Gesten auf, er zeigt eine Frau, die, eine Treppe hinaufsteigend, von hinten angesprochen, sich umwendet und mit weit geöffneten Augen fragt: Was geht das mich an?"


Weitere Artikel: Eva Clausen besucht eine Ausstellung zum Thema "Vanitas" in der Galleria Doria Pamphilj in Rom. Marion Löhndorf unterhält sich mit Zaha Hadid und und ihrem Sozius Patrik Schumacher über ihre Architektur. Und Günther Sandner beleuchtet die Rolle des Philosophen Otto Neurath in der Münchner Räterepublik.

Im Feuilleton schreibt Martin Meyer einen Essay zum Mauerbau vor fünfzig Jahren. Besprochen werden Janaceks Oper "Die Sache Makropulos" unter Esa-Pekka Salonen und Christoph Marthaler in Salzburg, Margaux Fragosos Roman "Tiger, Tiger." und das Fotofestival von Arles.

Aus den Blogs, 13.08.2011

(via) Chris Marker hat aus Londoner Schnappschüssen ein Video montiert: "Overnight":



(via) Vor drei Monaten ist der FAZ-Filmkritiker Michael Althen gestorben. Der Regisseur Romuald Karmakar hat ihm nun buchstäblich einen kleinen Film gewidmet: Ein kleiner Film für Michael



Und dann noch: 50 of the best Music Moments in Film History (via)

Weitere Medien, 13.08.2011

David Hajdu ist in der New Republic nicht allzu begeistert von "Watch the Throne", dem neuesten Gemeinschaftsalbum von Kanye West und Jay-Z: "I think, broadly speaking, that they compliment each other; Jay-Z can rhyme, and Kanye has a genius for production. 'Watch the Throne' is densely textured - sonically, if not lyrically - and it has a few surprising moments, including the downright sweetly affecting 'New Day.' For the most part, though, the album is opulent tedium."

Zum Trost präsentiert Hajdu das ergreifende Video einer viel überraschenderen Kooperation: ein Auftritt von Johnny Cash und Louis Armstrong. Und Johnny Cash jodelt!



Wer hat in Deutschland schon darüber berichtet? Atlantic Monthly bringt beeindruckende Bilder von den Studentenprotesten in Chile, unter anderem (hier im Ausschnitt) dieses Foto eines von einem Wasserwerfer getroffenen Hundes:



SZ, 13.08.2011

In der Debatte um Klarnamen im Internet plädiert Johan Schloemann für eine maßhaltende Politik des Kompromisses: Weder totale Anonymität, noch totale Offenlegung seien vernünftig. "Bei fortschreitender Atomisierung von Vorlieben und Milieus in einer komplexen Gesellschaft wäre dann das Internet keine bloße Fluchtwelt oder nur ein anderer Kommunikationskanal, sondern in seiner Vielfalt nicht weniger als Ausdruck und Abbild dieser gesamten Gesellschaft." (Dass die Debatte von vornherein nur dem uninformierten Vorpreschen eines Politikers geschuldet und also ebenso sinnlos ist, entnimmt man dem Zitat eines BGH-Urteils, das bereits 2009 befand: "Eine Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen, die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können, ist mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar.")

Weitere Artikel: Catrin Loch und Astrid Mania haben sich auf der Venedigbiennale umgesehen. Karl Forster gratuliert David Crosby zum 70. Geburtstag. Thomas Urban bringt Nachrichten aus dem Warschauer Kulturleben. Fritz Göttler berichtet vom Filmfestival Locarno, wo Abel Ferrara dem Publikum, diesem zum Missfallen, ein oder auch zwei Liedchen trällerte. Gottfried Knapp macht sich Sorgen über mangelnde Schlafplätze in Raiding in Österreich, dem Geburtsort von Franz Liszt, wo man in diesem Jahr den 200. Geburtstag des Komponisten feiern will. Christine Dössel hat sich bei den 30. Tiroler Volksschauspielen unter anderem auch ein "dramatisches Extrem-Besäufnis" angesehen. Dem Triumph der musikalischen Moderne hat Wolfgang Schreiber bei den Salzburger Festspielen beigewohnt. Die Frage, ob Ägypten der EU beitreten und deutsche Hilfe erbitten soll, wird "Im Taxi" (Folge 25) erörtert.

In einem Essay für die SZ am Wochenende fragt sich Willi Winkler, ob die Ära der Mobilität beendet und die Epoche der Sesshaftigkeit im Heraufdämmern begriffen ist.

Besprochen werden die Ausstellung "Allesandro Mendini. Wunderkammer Design" im Neuen Museum Nürnberg und Bücher, darunter "Geld im Mittelalter" von Jacques Le Goff (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 13.08.2011

Für Bilder und Zeiten hat sich Regina Mönch auf Spurensuche am ehemaligen Mauerverlauf in Berlin begeben und Bruchstellen der Geschichte und der Gedenkkultur gefunden: "Das einstige Grenzland ist vor allem von der Natur erobert worden, allenfalls unterbrochen von einer mitten hinein gesetzten riesigen Schachtel für einen Discounter. (...) Vor allem aber scheint die große Stadt an vielen Stellen, wo einst die Mauern standen und der Todesstreifen sich breitmachte, immer noch abrupt zu enden, so als sei sie sich noch nicht im Klaren über ihre Zukunft jenseits dieser gewaltsam gezogenen Grenze."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus würdigt den Comiczeichner Volker Reiche ("Strizz"), dessen neue Serie "Friendly Fire" demnächst in einem Sammelband erscheint. Wojciech Czaja unterhält sich mit dem Architekten und diesjährigen Pritzker-Preisträger Eduardo Souto de Moura. Kerstin Holm porträtiert Alexander Popow, eine internationale Autorität auf dem Gebiet der Restauration von Holzarchitekturdenkmälern. Andreas Rossmann berichtet von den Forschungsarbeiten an den Gebeinen des Kölner Stadtpatrons Severin.

Zwar nutzten die Randalierer von London soziale Netzwerke für sich, schreibt Mira Wild im Medienteil, doch vernetzen und organisieren sich auch die freiwilligen Helfer und Aufräumer über Twitter, Facebook und Co: "Und so gesellen sich jenen Bildern, die das Grauen und die Zerstörung auf den Straßen Londons zeigen, Szenen hinzu, die ein Zeichen der Hoffnung und Gemeinschaft setzen: Londoner Bürger, mit Besen und Schaufeln bewaffnet."

Weitere Artikel aus dem Feuilleton: Melanie Mühl beschreibt den mühseligen Kampf gegen Bürokratien aller Art im Fall des taubblinden "Herrn R.". Jürgen Dollase hat Bernard Antony, den berühmtesen Käsehändler der Welt, besucht (hier seine Website). Zahlreiche Plattenlabel aus dem Indiesektor sind nach dem Brand eines Lagerhauses in London existenziell bedroht, berichtet Jan Wiele (das Label Memphis Industries berichtet bei Twitter von seinen Schwierigkeiten). Christian Wildhagen hat sich das Konzert von Claudio Abbados Orchester beim Lucerne Festival angehört. Marcus Jauer protokolliert den Tagebucheintrag von Montag eines Daytraders, für den ab diesem Tag eigentlich die Welt pleite gehen sollte. Gemeldet wird der Launch einer Datenbank, die das Werk des Malers Lukas Cranach der Ältere dokumentiert.

Besprochen werden im hastigen Schnelldurchlauf die Filme "Resturlaub" (mehr), "Die anonymen Romantiker" (mehr) und "Die Einsamkeit der Primzahlen" (mehr), Katharina Thalbachs Inszenierung von "Die Zauberflöte" im Strandbad Wannsee, neue Hörbücher, darunter das von Gert Heidenreich und Burghart Klaußner eingelesene von "Der große Gatsby", neue CDs, darunter Elektrofolk von William Fitzsimmons (siehe Video unten) und neue Bücher, darunter "Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croy" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).



In der Frankfurter Anthologie stellt Marie Luise Kott ein Gedicht von Sarah Kirsch vor: "Ich wollte meinen König töten"

"Ich wollte meinen König töten
Und wieder frei sein. Das Armband
Das er mir gab, den einen schönen Namen
..."