Heute in den Feuilletons

Was sich ein Mensch schimpft

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.08.2011. Die FR erlebte mit Liao Yiwu und Herta Müller,was Dichtung ist, wenn sie die letzte Rettung eines Gefolterten ist. Wie kreationistisch darf ein Präsidentschaftskandidat eigentlich sein?, fragt der Texas Observer nach wiederholten Verteidigungen des "Intelligent Design" durch Rick Perry. NZZ, taz und FAZ versuchen noch einmal, die Londoner Krawalle der letzten Woche zu verstehen. Techcrunch fragt: Ist Steve Jobs auf dem Weg zur Allmacht?

NZZ, 19.08.2011

Marion Löhndorf ist erleichtert, dass in Großbritannien jetzt doch über soziale Ursachen der Krawalle diskutiert wird, "äußern sie doch ein - wütendes - Unbehagen in der Kultur, mit deutlich politischer Aussage jenseits der Formulierbarkeit: ein stummer und tumber Protest, der vielleicht darum umso brutaler verlief. Die Sprachlosigkeit spiegelt sich in der hohen Zahl der Analphabeten in den von den Ausschreitungen betroffenen Stadtgebieten. Im Alter von vierzehn Jahren haben 63 Prozent der männlichen weißen Jugendlichen aus der englischen Arbeiterklasse und mehr als die Hälfte der schwarzen karibischen Jungen gerade einmal die Lesefähigkeit von Siebenjährigen oder jüngeren Kindern."

Weitere Artikel: Roman Elsner unterhält sich mit den Red Hot Chili Peppers über ihr neues Album "I'm With You". Markus Bauer berichtet von einer rumänischen Debatte um die Rolle des Königs seit 1940. Thomas Veser bewundert die restaurierten Fresken in der Bojana-Kirche bei Sofia.

Besprochen werden eine Ausstellung zur Arbeit des italienischen Designers Alessandro Mendini in Nürnberg und die Uraufführung von Giacomo Manzonis "Il rumore del tempo" bei den Salzburger "Perspectives Pollini".

TAZ, 19.08.2011

Christian Semler räsoniert über Marx' Diktum vom "Lumpenproletariat" und die aktuelle Einschätzung der britischen Elite, bei den Randalierern handele es sich um "pure Kriminelle". Beide, so Semler, machten es sich zu einfach. "So unrecht Marx und Engels mit ihrem generellen Verdammungsurteil hatten, so recht hatten sie, wenn sie die Vielfältigkeit, die 'Buntheit' des lumpenproletarischen Milieus hervorzuheben. Das gilt auch heute. In London und anderen Großstädten hat keine Gang zugeschlagen, keine homogene Unterschichtentruppe. Viele der kriminell Gewordenen leben unter einem Dach mit Leuten, die eine geregelte Arbeit haben. Die grassierende Anomie ruft in den armen Vierteln individuelle wie kollektive Gegenwehr hervor. Anomie ist ansteckend. Aber Solidarität ist es auch."

Thomas Winkler porträtiert Philipp Poisel und Max Prosa, zwei junge deutsche Singer-Songwriter, die ohne explizite Botschaften Publikumserfolge feiern und unpolitischer sind als einstige Politbarden wie Hannes Wader oder Konstantin Wecker.

Besprochen werden das Remix-Album "Hans Is Playing House" von Hans Nieswandt, der von Karl Corino herausgegebene zweite Band der "Erinnerungen an Robert Musil" mit Texten von Augenzeugen und eine Biografie über Margarete Steiff von Gabriele Katz. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

FR/Berliner, 19.08.2011

Große Stunden hat Arno Widmann in Berlin bei einem Abend mit dem chinesischen Dichter, Musiker und Dissidenten Liao Yiwu und Herta Müller erlebt: "Sie waren es, weil wir erleben konnten, was Dichtung sein kann. Was sie ist, wenn sie die letzte Rettung eines Gefolterten ist. Sie waren es auch, weil wir erleben konnten, was für ein Glück wir haben, dass das, wovon Liao Yiwu erzählt, in diesem Augenblick der Weltgeschichte für uns nur Literatur ist, über die wir schreiben, wie wir über andere Bücher schreiben. Man schämt sich dieses Glückes. Aber man weiß, wie zerbrechlich es ist."

Weiteres: Einem "Groschenheft-Shakespeare" hat Dirk Pilz in Thomas Ostermeiers ehrpusseliger Inszenierung von "Maß für Maß" in Salzburg gesehen: "Merke: Es ist schlecht, was sich ein Mensch schimpft." Sebastian Preuß kündigt Leonardos "Dame mit dem Hermelin", die aus Krakau nach Berlin und in einer Ausstellung im Bode-Museum zu sehen sein wird. "Verdientsvoll" findet Ralf Schenk eine DVD-Reihe mit nationalsozialistischen Trickfilmen.

Besprochen werden die Comic-Verfilmung "Captain America", ein Gastspiel der Alvin Ailey American Dance Theater in Frankfurt und Michael Kumpfmüllers neuer Roman "Die Herrlichkeit des Lebens".

Welt, 19.08.2011

Hannes Stein war dabei, als sich die Protagonisten des Coen-Brother-Films "The Big Lebowski", der unbemerkt zum Kultfilm avancierte, zur Neuerscheinung der DVD noch mal gemeinsam präsentierten. Hier noch einmal die wichtigsten Dialogszenen:



Besprochen werden Thomas Ostermeiers Inszenierung von "Maß für Maß" in Salzburg, die Verfilmung des Comics "Captain America", Ereignisse des Berliner Festivals "Tanz im August" und das Berliner Festival "Über Lebenskunst" (mehr hier).

Aus den Blogs, 19.08.2011

(Via Thomas Knüwer) Steve Jobs ist so langsam in der Lage, von der Bill Gates nie zu träumen wagte. MG Siegler kommentiert in Techcrunch eine wichtige Zäsur in der Geschichte des Computers: "As I write this, I'm sitting in a cafe. Around me, there are five people on laptops - four of them are MacBooks. Four other people are using tablets - all four are iPads. Welcome to the Post-PC world. That phrase was one of the first things that jumped to my mind today when I heard the news that HP was not only killing off their TouchPad and Pre webOS-based products, but also trying to spin-off their PC business. The largest PC business in the world, mind you."
Stichwörter: Gates, Bill, Jobs, Steve

Weitere Medien, 19.08.2011

(Via Roger Ebert) Der religiöse Wahn greift um sich. Der mögliche Präsidentschaftskandidat Rick Perry ist nach einem Bericht Steven Schaffersmans im Texas Observer nicht nur ein "Klimaleugner", von ihm ist auch folgende Äußerung überliefert: "I am a firm believer in intelligent design as a matter of faith and intellect, and I believe it should be presented in schools alongside the theories of evolution." Laut CNN hat er diese Aussage jüngst noch einmal bekräftigt. Und dann noch diese Geschichte aus Mother Jones: "Michele Bachmann is not a Doctor."

Zwiespältig beurteilt der Soziologe Natan Sznaider in der Jüdischen Allgemeinen die in Israel protestierenden Jugendlichen: "Sie wollen so leben, wie sie glauben, dass ihre Altersgenossen außerhalb Israels im Westen leben. Sie wollen Normalität, bezahlbare Mieten, freie Kitas, gute Universitäten, ein funktionierendes Gesundheitssystem, Urlaub im Ausland, die bürgerliche Normalität des bezahlbaren Luxus, den es fast schon nirgends mehr gibt. Es ist der amerikanische Traum, gut verpackt im europäischen Sozialstaat." Außerdem verreißt der Historiker Wolfgang Wippermann Götz Alys Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden?"

FAZ, 19.08.2011

In ihrer Analyse der Krawalle in Großbritannien kommt Gina Thomas zum Schluss, das ganze habe mit einer Kultur des Mangels an Disziplin und mit zu viel Toleranz gegenüber Jugendlichen zu tun. Und damit, dass sich die Weißen von schwarzer Unkultur beeinflussen lassen. Sie zitiert den Historiker David Starkey: "Der Historiker hat einen Sturm der Entrüstung entfacht, als er sich vor einigen Tagen in einer Fernsehdiskussion zum tiefen kulturellen Wandel äußerte, der den Unruhen zugrunde liege. Schwarze und Weiße, Jungen und Mädchen agierten gemeinsam und sprächen dasselbe Idiom, das von Akademikern als multikulturelles Englisch bezeichnet wird. Im Volksmund heißt es 'Jafaican', ein Verschmelzung von 'Jamaican' mit 'fake'. Die Weißen seien Schwarze geworden, meinte Starkey, und wurde sogleich des Rassismus bezichtigt." (Na sowas! In einem Video, das der Guardian präsentiert, kann man sich selbst ein Bild machen.)

Weitere Artikel: Vom Erstarken der reaktionären Kräfte in Ägypten berichtet Joseph Croitoru: "In den Dienst der Militärs, die nun offenbar eine Diffamierungskampagne gegen die demokratische Opposition anstreben, stellen sich auch nur allzu gern Angehörige der staatlichen Medien." Eine Lesung von Herta Müller und Liao Yiwu in Berlin erlebte Tomas Kurianowicz. Über die wundersame Welt der 3-D-Drucker, mit denen man schon Werkzeuge und Ersatzteile ausdrucken kann, informiert Constanze Kurz in ihrer "Aus dem Maschinenraum"-Kolumne. (Hier ist ein Film, der die Arbeit eines Druckers eindrucksvoll vor Augen führt.) Peter Kammerer berichtet vom Rossini-Opera-Festival in Pesaro. Regina Mönch warnt, dass der Medizinhistorischen Sammlung der Charite wegen zu hoher Defizite die Auflösung droht. Eine Studie, die herausgefunden hat, dass Hunde gern fernsehen, glossiert Felicitas von Lovenberg. 

Besprochen werden Thomas Ostermeiers Salzburger "Maß für Maß"-Inszenierung mit Lars Eidinger und Gert Voss, die Werner-Graeff-Ausstellung "Das Bauhaus und die Moderne" im Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, Joe Johnstons Superheldenfilm "Captain America" und Bücher, darunter Larissa Boehnings Roman "Das Glück der Zikadenn" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 19.08.2011

Lothar Müller kommentiert den Einstieg von Amazon ins Verlagsgeschäft mit der Verpflichtung des Ratgeber-Verfassers Timothy - nicht wie von Müller behauptet: John - Ferris (mehr): "Was aussieht wie ein Einstieg ins Verlagsgeschäft, ist die Einbeziehung eines weiteren Verwertungskettengliedes in die Amazon-Infrastruktur. Es ist ein Geschäftsmodell, das ganz von der Distribution her gedacht ist, nicht etwa der Auftritt eines neuen Verlages, der mit einem neuen Programm an den Markt geht und dort das Risiko des Scheiterns eingeht."

Weitere Artikel: Kia Vahland bewundert die jetzt unmittelbar hintereinander in zwei temporären Ausstellungen (in Berlin, dann London) zu sehende "Dame im Hermelin" von Leonardo da Vinci (mehr hier). Von einer Berliner Lesung von Herta Müller und Liao Yiwu berichtet Kaspar Renner. Was das Scheitern des Putsches gegen Michail Gorbatschow vor zwanzig Jahren mit der sowjetischen Rockmusik zu tun hatte, erklärt Tim Neshitov. Im Interview spricht Lenny Kravitz über das Musikgeschäft und andere unerfreuliche Dinge, findet das Altwerden im Rockbusiness aber "toll". Alex Rühle verweist darauf, dass die Lennon-Ono-Doku "Bed Peace" von 1969 noch bis Sonntag ganz legal gratis bei Youtube zu sehen ist. Fritz Göttler gratuliet der Schauspielerin und Ärztin Marianne Koch zum Achtzigsten.

Besprochen werden Thomas Ostermeiers Salzburger "Maß für Maß"-Inszenierung mit Lars Eidinger und Gert Voss (Christine Dössel findet durchaus Gefallen an der zu Eindeutigkeit verknappten Fassung Marius von Mayenburgs und ist höchst beeindruckt von Lars Eidinger), zweimal Anna Netrebko in Salzburg, eine Lee-Bontecou-Ausstellung im ZKM Karlsruhe und Bücher, darunter Gary Shteyngarts "Super Sad True Love Story" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).