Heute in den Feuilletons

Das war zum Lachen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.09.2011. Die NZZ porträtiert zwei wenig bekannte Künstler: den französischen Dichter Valery Larbaud und den italienischen Komponisten Giacinto Scelsi. Die FR sieht in Sibylle Lewitscharoffs neuem Roman "Blumenberg" Löwe neben Rebhuhn liegen. Die SZ bewundert in Venedig einen "Faust" in russischem Rhythmus. Die FAZ schwebt und fliegt mit Anne-Sophie Mutter durch Wolfgang Rihms "Lichtes Spiel". In der Welt erklärt Tom Segev, warum er sich immer noch über Günter Grass ärgert.

NZZ, 10.09.2011

In der Beilage Literatur und Kunst porträtiert Albert Gier den französischen Dichter und Übersetzer Valery Larbaud, ein Zeitgenosse von Joyce und Proust, und ein Mann, der in jedem europäischen Land, das er besuchte, zum Einheimischen wurde. "Später, wenn Larbaud längere Zeit im Ausland lebt, wird er in Spanien zum (englisch schreibenden) Spanier, in England zum Engländer. Selbst wenn der Aufenthalt nur wenige Wochen dauern soll, geht er ungern in ein Hotel, mietet lieber eine Wohnung, manchmal mit Familienanschluss. ... Davon abgesehen sucht er sich ganz pragmatisch jeweils die passende Geliebte zu der Persönlichkeit, die er in Paris oder London verkörpern will (Alicante war für ein solches Arrangement vermutlich zu provinziell)."

Der Komponist Edu Haubensak stellt den italienischen Komponisten Giacinto Scelsi vor, der erst im Stil der Zweiten Wiener Schule komponierte und dann, nach einer schweren Lebenskrise, musikalisch mehr als die halbe Welt umarmte: "Die 'Quattro pezzi per orchestra, ciascuno su una nota sola' ('Vier Orchesterstücke, jedes über eine einzige Note') sind alles andere als ein Zelebrieren eines einzigen Tones. Da werden mit den sechsundzwanzig Musikern im Orchester mächtige Klangskulpturen errichtet, es entstehen klingende Säulen von unterschiedlich zusammengesetzten Spektren in schillernder Intensität. Jeder Ton des viersätzigen Werkes bleibt in gespannter Bewegung am Ort und wird durch plötzliche Oktavstürze in die Höhe oder in die Tiefe instrumental umgefärbt."

Hier der erste Teil der "Quattro Pezzi per Orchestra":



Außerdem: Im Aufmacher blickt Andrea Köhler zurück auf 10 Jahre 11. September. Herfried Münkler denkt über die Folgen des Terroranschlags nach.

Im Feuilleton blickt Martin Meyer ebenfalls zurück auf 10 Jahre 11. September. Jon McGregor erinnert sich an die Band Pulp. Und Brigitte Kramer besucht die Palmenoase im spanischen Elche.

FR/Berliner, 10.09.2011

Aufmacherwürdig ist Sibylle Lewitscharoffs neuer Roman "Blumenberg". Judith von Sternburg ist von vorkommenden und abwesenden Löwen, vom Protagonisten Blumenberg (wie der Philosoph, nur vornamenlos) sowie und erst recht vom Erzähler begeistert: "Ein solch kecker Souverän über den 'Absolutismus der Wirklichkeit' (Hans Blumenberg) ist der Erzähler, dass er weit aus- und eingreifen kann. Auch in die Zeit nach dem Tod, wobei Lewitscharoff eine maßgebliche Schilderung des frühen Totseins gelingt, zu der neben dem Löwen ein Rebhuhn gehört. So dass kurzzeitig ein wattiger Paradieszustand entsteht am Ende dieser fantastischen Hommage und vor der letzten Pointe."

Weitere Artikel: Angst vor erneuten Skandalen angesichts aktueller Kartenvergabe-Klagen vermutet Peter Michalzik hinter dem Siemens-Rückzug aus Bayreuth. Wie eine Spiegel-Serie im Jahr 1949 zur Reinwaschung ehemals nationalsozialistischer Kriminalpolizisten im Nachkriegsdeutschland beitrug, daran erinnert Andreas Mix. Kito Nedo begutachtet mit wenig Enthusiasmus die Kandidaten für den Preis der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof. Thomas Bauer berichtet vom Frankfurter Lucas Jugendfilmfestival. Bert Hoppe gratuliert dem Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler zum Achtzigsten.

Markus Schneider hört im Radio Indiepop mit Frontfrauen, darunter die russisch-kanadische Chinawoman. Hier ihr "Show me the face":



Besprochen werden ein Frankfurter Konzert mit Musik von George Benjamin und Bücher, darunter DBC Pierres neuer Roman "Das Buch Gabriel" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Tagesspiegel, 10.09.2011

Sehr gelungen fand Christiane Peitz den diesjährigen Wettbewerb in Venedig, auch wenn ihr immer wieder eine "grausame, verrottete Welt" präsentiert wurde - "die Verlierertypen häufen sich". Alexander Sokurows "Faust", dessen Acht-Millionen-Budget angeblich von Putin persönlich freigegeben wurde, kann sie allerdings nicht ganz ernst nehmen: "Habe nun, ach, Philosophie: Farbfilter, verzerrte Bilder, russischer Symbolismus, niederländische Genremalerei, Stummfilm-Expressionismus, geschwätzige Dialoge, dazu die wispernde innere Stimme von Faust und mengenweise ästhetischer Schnickschnack - ein vor Kunstanstrengung schwitzendes, bei aller hypnotischen Wirkung doch quälendes Werk."

Welt, 10.09.2011

"So sieht sie also aus, die neue Suhrkamp-Kultur", zieht Tilman Krause in der Literarischen Welt den Hut vor Sibylle Lewitscharoff und ihrem neuen Roman "Blumenberg": "Sie sieht nicht den geringsten Grund, sich an den Nicht-Leser ranzuschmeißen, den ja heute jedermann erreichen will, sondern setzt selbstbewusst auf fortgeschrittene Literaturenthusiasten."

Der israelische Historiker Tom Segev kommt noch einmal auf sein Interview mit Günter Grass zurück, findet aber die inkriminierte Passage mit den angeblich sechs Millionen ermordeten deutschen Kriegsgefangenen immer noch nicht entscheidend, jedenfalls nicht so schlimm wie den selbstmitleidigen Ton in Grass' Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel": "So wie ich das Buch gelesen habe, kommt nicht allein Grass, sondern die ganze deutsche Nation darin als Opfer daher, das Mitleid verdient."

Außerdem gibt Ulrich Wickert Exkanzler Gerhard Schröder die Gelegenheit, vom 11. September 2011 aus seiner Sicht zu erzählen. Besprochen werden unter anderem Josef Bierbichlers Roman "Mittelreich" und Didier Daeninckx' famoser Krimi "Tod auf Bewährung".

In der Kultur: Vor allem Männer in der Krise hat Peter Zander in Venedig gesehen, wie ihm zum Abschluss des Filmfestivals auffällt. Sascha Lehnartz geht mit dem Fotografen Denis Westhoff essen, dem seine Mutter Francois Sagan einen Haufen Steuerschulden hinterlassen hat. Eckhard Fuhr gratuliert dem Gesellschaftshistoriker Hans-Ulrich Wehler zum Achtzigsten und frohlockt: "Männer machen doch Geschichte!" Gerhard Gnauck meldet aus Warschau den Ausbruch eines Pola-Negri-Fiebers: ein bisher verschollen geglaubter Fiilm mit dem polnischen Ufa-Star wurde wiederentdeckt (hier ist sie als "Frau von Welt"). Gerhard Midding empfehlt Mathieu Amalrics New-Burlesque-Film "Tournee" ("Hüften in Breitwandformat"!). Und Tim Ackermann möchte den Preis der Nationalgalerie gern an den französischen Künstler Cyprien Gaillard vergeben.

TAZ, 10.09.2011

Die sonntaz steht im Zeichen von 9/11. Julian Weber ist nach New York gefahren und hat sich mit "Künstlern und Musikern, Medienschaffenden und Intellektuellen" über die Gegenwart und die letzten zehn Jahre unterhalten. In Kreuzberg spricht Andreas Fanizadeh mit dem irakischen Schriftsteller Najem Wali, der nach den Anschlägen auch nur bedingt komische Erfahrungen gemacht hat: "Ich hatte einen kommunistischen Freund, Peter. Der hatte auf einmal die fixe Idee, ich wäre ein Schläfer. Das war zum Lachen." Stephan Wackwitz bringt es fertig, die Veränderungen in New York mit genderpolitischen Korrekturen in Verbindung zu setzen: "Strenger Beobachtung beispielsweise untersteht spätestens seit Beginn des Jahrhundert etwas so vergleichsweise Harmloses wie die männliche Heterosexualität an und für sich."

Weitere Artikel: In Venedig staunt Cristina Nord, wie viel Gegenwart, Algebra und Welthaltigkeit in Thrillern wie Tomas Alfredssons Le-Carre-Verfilmung "Tinker, Tailor, Soldier, Spy" oder Johnnie Tos Triadenfilm "Life Without Principle" Platz haben: "Statt der üppigen Fleisch- und Fischgerichte vergangener Jahre wird eine Menüfolge aus vegetarischen Speisen beschlossen. Auch den Triaden geht das Geld aus." Über das Aufblühen rechtsnationaler Boulevardblätter in Polen vor den Parlamentswahlen berichtet Gabriele Lesser.

Besprochen werden die Ausstellung "unheimlich vertraut. Bilder vom Terror" bei c/o Berlin und Bücher, darunter W.J.T. Mitchells Bildstudie "Das Klonen und der Terror" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 10.09.2011

In ihrer Zusammenfassung der letzten Venedig-Tage lobt Susan Vahabzadeh die Papstwahlbeobachtungen Romuald Karmakars von 2005 und macht sich Gedanken dazu, wie deutsch oder russisch Alexander Sokurovs "Faust" eigentlich ist: "Er spielt mit dem Stück, und hat doch ordentlich so ziemlich alle gängigen Zitate untergebracht - am faszinierendsten aber ist, dass dies letztlich doch ein durch und durch russischer Film ist: Die Sprache, die als deutsches Kulturgut in Stein gemeißelte Vorlage, die Schauspieler machen nicht aus, in welches Kino ein Film gehört - es sind die verwaschenen Farben, die Inszenierung, die Kameraführung, der russische Rhythmus langsamer Schwenks."

Weitere Artikel: Wenn nun schon Wolfgang Schäuble im Bundestag sich höchst nachdenklich zum "extremen Pumpkapitalismus" äußert, dann, so Johan Schloemann, seien die "Zweifel am Gesamtversprechen wachsenden Wohlstands und wachsender sozialer Sicherheit" ja wohl ins Innerste des Staates vorgedrungen. Die "Berlin Krisenblues Week", auch als Popkomm bekannt, resümiert Jan Kedves. In seiner Kairo-Kolumne schildert Khaled al-Khamissi einen im Fußballstadion losbrechenden Streit zwischen Zuschauern und Publikum. Von einem Besuch im Atelierhaus des 1994 verstorbenen Künstlers Ed Kienholz berichtet Jörg Häntzschel. Gustav Seibt gratuliert dem Historiker Hans-Ulrich Wehler zum Achtzigsten.

Die SZ am Wochenende ist ein special zum 11. September. Es geht darin unter Überschriften wie "Die Zeugin" oder "Die Nachbarin" unter anderem um Julie von Kessel, die als erste vom Anschlag nach Deutschland berichtete, um Osama Bin Ladens langjährigen Leibwächter Nasr al-Bahri und um ein am 11. September 2001 geborenes Mädchen, das beim Anschlag auf die US-Senatorin Gifford in diesem Jahr ums Leben kam.

Besprochen werden Bücher, darunter Sibylle Lewitscharoffs Roman "Blumenberg" und neu Übersetztes von Gilbert Keith Chesterton (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 10.09.2011

Anne-Sophie Mutter hat für ihre neue CD Stücke bei Sebastian Currier, Krzysztof Penderecki und Wolfgang Rihm in Auftrag gegeben und für ihre Geige vor allem um eins gebeten: Virtuosität und Wohlklang. Ist daran was falsch? Überhaupt nicht, findet Eleonore Büning und beschreibt den Wohlklang am Beispiel von Wolfgang Rihms Violinkonzert "Lichtes Spiel", in dem es sogar ein bisschen Traurigkeit gibt. Aber nicht zu viel. "Sie beißt nicht, sie tut nicht weh. Es ist eine schöne Kunst-Traurigkeit, wie sie einen zwischendurch überfallen kann, wenn man allzu glücklich ist. Löst sich auf in Wohlgefallen, in eine wechselnde Folge von Reflexen, Licht und Schatten, schwebt und fliegt, pausendurchweht, als hätte diese Musik gar kein Korsett aus Taktstrichen..."

Weitere Artikel: Ganz Frankreich hat sich mit Anosognosie infiziert, meldet Jürg Altwegg. Lena Bopp geht das Gejammer in Nina Pauers Buch "Wir haben keine Angst" auf die Nerven. Jürgen Dollase kostet Bodenständiges in Claus-Peter Lumpps Restaurant "Bareiss" in Baiersbronn. Frank Lübberding findet es völlig verständlich, dass die Abgeordneten bei Finanzkrise nicht mehr durchblicken. Mirka Borchardt berichtet von der Verleihung des M100 Medienpreises an den chinesischen Blogger Michael Anti. Jan Wiele berichtet über die von der EU geplante Verlängerung des Leistungsschutzrechts für Musikaufnahmen von 50 auf 70 Jahre. Klaus Jarchow besucht das Provinzstädtchen Rethem, das sich zwar nach besten Kräften wandelt, die Abwanderung in die Großstädte aber dennoch nicht aufhalten kann.

Besprochen werden 22 Episoden zu 9/11 am Londoner Headlong-Theatre, eine Ausstellung zum Terrorthema in der Kunst im c/o Berlin, CDs von Beirut (hier) und Pat Metheny und Bücher, darunter Judith Schalanskys Roman "Der Hals der Giraffe" und Jan Brandts "Gegen die Welt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In Bilder und Zeiten hört Louis Begley seinem Romanhelden in "Schmidts Einsicht" zu, der gerade den 11. September durchlebt, und erklärt ihm, 9/11 sei mit keiner anderen Katastrophe des 20. Jahrhunderts - von der Schlacht um Leningrad bis zum Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki - vergleichbar ist. Nicht wegen der Zahl der Opfer, sondern weil er "schlimmste Folgen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß" hatte: Angriff auf Afghanistan, Irakkrieg, Guantanamo, Haushaltsdefizit.

Weitere Artikel: Andreas Kilb besucht das neue, von Daniel Liebeskind entworfene Militärhistorische Museum der Bundeswehr, das im Oktober in Dresden eröffnet wird. Hubert Wolf überlegt, warum Papst Pius XI. Francos Bürgerkrieg unterstützte. Dirk Schümer besucht das Künstlerhaus in Gugging. Hanns Zischler spricht im Interview über Samuel Becketts Hörspiel "Words and Music", das vom 23. bis 26. September im Funkhaus Berlin Nalepastraße aufgeführt (aber nicht mitgeschnitten) wird.

In der Frankfurter Anthologie stellt Gert Ueding ein Gedicht von Peter Rühmkorf vor:

"Der Ursprung von drei Weltreligionen
eine Dünendrift aus verminten Zonen -
Da empfiehlt es sich schon
in gemäßigten Ländern
durch ein selbstverfaßtes Idyll zu schlendern.
..."