Heute in den Feuilletons

Schmerzenskult

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2011. Die NZZ untersucht die Rolle von Blogs in China. Und Wilhelm Genazino nimmt sich Zeit und denkt nach über Langeweile. Die Welt staunt über Roger Willemsens tiefe Einsichten zum 11. September. Laut Buchreport plant Amazon eine Flatrate für E-Books. Die Kritiker sind zufrieden mit dem Filmjahrgang in Venedig, aber sie fragen auch: Was wird aus dem Festival? Und Spiegel Online fragt mit Günther Jauch, ob die Amerikaner den 11. September überhaupt verstehen können.

NZZ, 12.09.2011

Die Fotos aus Ai Weiweis Blog sind jetzt im Fotomuseum in Winterthur zu sehen, das Blog selbst macht gerade als Buch Furore. Aus diesem Anlass schreiben die Kunsthistorikerin Marianne Burki und der Kurator Li Zhenhua über Blogs als politisches und künstlerisches Ausdrucksmittel: "'Warum sieht sich das westliche Kunstsystem immer in der Rolle des Interpreten oder Übersetzers?' So lautet eine der Fragen, die sich das chinesische (Online-)Publikum stellt. Das klassische Museum braucht immer eine Verwandlung des kulturellen Kontextes in den Kunstkontext. Im Falle von Ai Weiwei wurden oft in erster Linie seine klassischen, kaum mit politischen Inhalten aufgeladenen Kunstinstallationen gezeigt. Gleichzeitig sprach man jedoch vor allem von Politik und führte das Blog von Ai Weiwei als Beweis für seine politische Haltung an. Niemand aber verstand dieses Blog als ein Kunstwerk."

Wilhelm Genazino nimmt sich Zeit und denkt nach - über Langeweile, die er so traurig findet "wie eine Tankstelle nachts um halb vier". In Büchners "Leonce und Lena" sieht er einen argumentativen Ausweg aus der Ereignislosigkeit: "Denn das Trauma der endlos wuchernden Langeweile ist nichts anderes als die Angst vor einer überraschend eintretenden Spracharmut. Nur wer seine Trauer ausdrücken kann, ist ihr gewachsen. Leonce und Lena können sagen, was ihnen fehlt, und sie können deswegen auch sagen, was der Welt fehlt, damit wir uns endlich mit ihr abfinden können."

Besprochen wird der diejährige Gewinner des goldenen Löwen in Venedig: Alexander Sokurovs Film "Faust" (mehr).

Spiegel Online, 12.09.2011

Laut Stefan Niggemeier ging es in Günther Jauchs neuer Talkshow folgendermaßen zu: "Als Elke Heidenreich forderte, man müsse auch sehen, was zu den Angriffen des 11. September 2001 geführt habe, fragte Jauch Klinsmann, ob 'ein Amerikaner' das überhaupt verstehen könne."

Welt, 12.09.2011

Henryk Broder hat sich an den Kopf gefasst, als er ein 3sat-Kulturzeit-Interview mit Roger Willemsen zum 11. September anhören musste, das er so protokolliert: Moderatorinnenfrage: "Das Gefühl ist überhaupt unglaublich wichtig. Es gibt einen Schmerzenskult um diesen Tag herum, und insofern ähnelt er dem Holocaust. Gibt es da... Parallelen, Ähnlichkeiten?" und Willemsens Antwort: "Ohja, es gibt die Parallele darin eben, dass beide Ereignisse gefühlt werden müssen, das heißt der Opferbegriff bekommt eine eigene Heiligkeit, und er wird auch zur politischen Währung."

Im Feuilleton erlebte Matthias Heine die Inszenierung von Elfriede Jelineks "Winterreise" durch Andreas Kriegenburg als "Staatsbegräbnis": "Zum Glück klappt der Sargdeckel hin und wieder auf, und der Text erhebt sich dank der Kunst einiger Ausnahmeschauspielerinnen als strahlend Wiedergeborener."

Weiteres: Manuel Brug spekuliert über die James-Levine-Nachfolge an der Met. Ekkehard Kern und Thomas Lindemann lesen die erste deutsche Wired-Ausgabe. Besprochen werden die Ausstellung "Unser Schwarzwald: Romantik und Wirklichkeit" im Freiburger Augustinermuseum und dazu passend Jürgen Lodemanns Freiburg-Roman "Salamander".

Und Alexander Sokurow, dessen "Faust" den Goldenen Löwen in Venedig gewann, zeigt sich im Interview schockiert von den Deutschen: "Wissen Sie, was ich immer wieder aus Deutschland gehört habe: 'Faust? Was für ein langweiliges Buch!' Dazu fällt mir gar nichts mehr ein."

FR/Berliner, 12.09.2011

Der Goldene Löwe für Alexander Sokurows "Faust" in Venedig lässt Daniel Kothenschulte einmal mehr an der deutschen Filmindustrie verzweifeln: "Sokurow trifft einen wunden Punkt: 'Warum hat kein deutscher Regisseur vor mir Faust gedreht?' Multimillionenbudgets und die Wunder der modernen Tricktechnik fließen hierzulande eher in 'Jerry Cotton' und 'Wickie' als in die klassische Filmkunst." Auch Anke Westphal schreibt zur Löwenvergabe in Venedig. Hier alle Preise.

Weiteres: Zum Einschlafen fand Dirk Pilz Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Elfriede Jelineks "Winterreise" am Deutschen Theater in Berlin: "Wie hübsch hier alles ist! Die bunten Blumen!" Kaum mehr als "Edelboulevard" entdeckt Stephan in Thomas Vinterbergs Inszenierung der "Kommune" an der Wiener Burg. Jens Balzer berichtet vom Berlin Festival im Flughafen Tempelhof. Und Günter Marks interviewt den Archäologen Michael Mackensen, der über seine frühere Arbeit in Libyen nichts Schlechtes sagen kann: "Die Erfahrungen mit der libyschen Denkmalpflegebehörde waren auf allen Ebenen ohne jede Einschränkung ausgezeichnet."

TAZ, 12.09.2011

Einen deutlichen Linksruck in der polnischen Kulturpolitik bemerkte Uwe Rada beim Europäischen Kulturkongress in der Jahrhunderthalle in Breslau: "Also sprach auch Staatspräsident Bronislaw Komorowski vom Europa der Vielfalt, und Jerzy Buzek, der Präsident des Europaparlaments, entpuppte sich gar als Freund der Anarchie. 'In der Politik ist sie kein guter Ratgeber', lobte er, 'in der Kunst hingegen ist sie die Voraussetzung für Kreativität.' Kein Wunder, dass Polens nationalkonservative Opposition tobte."

Weiteres: Cristina Nord ist mit dem Löwen für Alexander Sokurows "Faust" ganz einverstanden, bedauert aber trotzdem, dass Andrea Arnold ("Wuthering Heights") und David Cronenberg ("A Dangerous Method") leer ausgegangen sind. Auf dem Berlin Festival ist Julian Weber ganzen Airbusladungen aus England, Spanien und Italien begegnet. Marcus Bensmann meldet, dass die usbekische Diktatorentochter Gulnara Karimowa ihre Modekollektion nun lieber doch nicht auf der New Yorker Fashion Week zeigen soll. Falk Lüke gratuliert dem mittlerweile etablierten Chaos Computer Club zum Dreißigjährigen.

Und Tom.

Weitere Medien, 12.09.2011

Amazon plant eine Flatrate für E-Books, meldet der Buchreport: "Wie das Wall Street Journal berichtet, orientiert sich Amazon an dem Netflix-Modell der Filmebranche: Kunden zahlen eine Jahrespauschale und erhalten Zugriff auf einen Katalog an E-Books, in erster Linie Backlist-Titel. Im Zentrum der Initiative stehen laut WSJ die 'Amazon Prime'-Kunden, die jährlich 79 Dollar für eine schnellere Belieferung und den Zugriff auf eine digitale Filme- und TV-Show-Bibliothek bezahlen."

SZ, 12.09.2011

Es war ein guter Jahrgang in Venedig, meint Susan Vahabzadeh, aber es stellen sich dem Festival wegen des angesagten Abgangs von Marco Mueller trotzdem existenzielle Fragen: "Einen namhaften Festivaldirektor, der der Regierung genehm ist, wird man schwerlich finden - und jeder Nachfolger übernimmt auch die Probleme, die sich verschärft haben in den acht Jahren, in denen Mueller das Festival leitete: Die Geldsorgen sind größer, und vor der Tür tut sich ein Krater wie nach einem Meteoriteneinschlag auf, die asbestverseuchte Grube für den neuen Palazzo del Cinema, für den inzwischen kein Geld mehr da ist."

Weitere Artikel: Andrian Kreye verfolgte in Potsdam eine Tagung über den Umbruch in arabischen und in osteuropäischen Ländern. Jörg Häntzschel hat die Eröffnung der Maison Symphonique de Montreal, eines Lieblingsprojekts von Kent Nagano, miterlebt. In den "Nachrichten aus dem Netz" schreibt Michael Moorstedt über neue Formen der Internetkriminalität. Eine ganze Seite ist den stets etwas ratlosen Kunstwerken auf Mittelinseln in Kreisverkehren gewidmet.

Besprochen werden die Ausstellung zum Preis der Neuen Nationalgalerie mit den Werken von vier jungen Künstlern (mehr hier), die Saisoneröffnung am Deutschen Theater Berlin mit Elfriede Jelineks "Winterreise" unter Andreas Kriegenburg (und es ist bereits die dritte Inszenierung von Jelineks "Überstück", die Till Briegleb scheitern sieht), neue DVDs und Bücher, darunter Navid Kermanis Roman "Dein Name" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 12.09.2011

Dmitry Krymov hat am am Theatre National de Chaillot Iwan Bunins "In Paris" inszeniert, mit Michail Baryschnikow in der Hauptrolle. Wiebke Hüster schmilzt: "Baryschnikows dunkle, weiche Stimme im Russischen kostet jedes Wort aus wie sein Tanz sonst die Musik."

Weitere Artikel: Dirk Schümer beklagt den Verfall des musikalischen Wissens in Italien. Marcus Jauer erklärt, was Renate Künast im Berliner Wahlkampf falsch macht. Dietmar Dath findet in Venedig in jedem Film einen Fehler, nur nicht im Drehbuch von "Alpis". Frank Lübberding erklärt, warum die Politik des jetzt zurückgetretenen Chefs der Europäischen Zentralbank, Jürgen Stark, falsch war. Rolf Dobelli erklärt, warum Ihre Erinnerungen an den 11. September falsch sind. Joseph Croitoru berichtet von einer Erklärung israelischer Intellektueller, die einen Palästinenserstaat unterstützen.

Besprochen werden die Aufführung von Thomas Vinterbergs Stück "Die Kommune" am Wiener Akademietheater ("mittelprächtiges Stück", aber "hinreißendes Schauspiel", meint Martin Lhotzky), ein Konzert der Bamberger Symphoniker beim Edinburgh Festival und Götz Alys Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" (von Patrick Bahners als "unhistorisch" verrissen, mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).