Heute in den Feuilletons

Milieuschutz, Bestandschutz, Mieterschutz, Quartierschutz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.09.2011. Was ist mit Google Plus? Die Statistiken weisen nach unten, meldet TechCrunch, während Slate Mark Zuckerbergs Kopiertalente preist. In The Daily Beast klagt Benny Morris: Israel geht's schlecht - und wer profitiert? Berlin! Laut turi2 muss Gruner und Jahr seine freien Journalisten frei lassen. Die Welt betrachtet die Zürcher Hochhausausstellung und hat keine guten Nachrichten aus New York. Die NZZ schildert den vom chinesischen Regime veranstalteten Erinnerungskult um die japanische Besatzung. Und FR/Berliner Zeitung murren: Die linken Parteien in Berlin sind die Avantgarde des Stillstands.

Aus den Blogs, 16.09.2011

(Via Hemartin) Hm, ist das eine Wachstumskrise, oder entpuppt sich Google Plus als Flop? Robin Waters bezieht sich in Techcrunch auf eine kleine Untersuchung des Dienstes 89n.com (dem wir auch die Grafik entnehmen), wonach die Nutzung recht erheblich zurückgegangen sei: "According to its data, the average number of public - i.e. not private - Google+ posts per day has decreased from 0.68 per day between 19 July 2011 and 19 August 2011 to 0.40 public posts per day between 19 August 2011 and 14 September 2011. This represents a decrease of 41 percent, which could lead one to believe the early adopters are quietly turning their backs on Google+."

Die beste Idee von Google Plus war die Zuweisung der "Freunde" in Gruppen. Das gibt's bei Facebook jetzt auch. Und Farhad Manjoo kommentiert in Slate: "This is Facebook's greatest strength: Zuckerberg and his minions copy everyone else's best ideas freely, unashamedly, and really, really well."

Israel geht's schlecht und wer profitiert? Benny Morris schreibt bei The Daily Beast: "Israel suffers from a steady brain drain, with tens of thousands of university graduates and wannabe academics moving abroad for lack of adequate positions or pay. Berlin has a community of more than 10,000 young Israelis, many of them working in the arts, who found creativity in Israel impossible."

Ein Gericht nach dem anderen kassiert die Total-Buy-Out-Verträge deutscher Printinstitute für freie Journalisten ein, berichtet turi2 mit Verweis auf eine Entscheidung des Landgerichts Hamburg zu Verträgen von Gruner und Jahr: "Vor allem die Klausel, nach der freie Journalisten G+J die Rechte an allen denkbaren Nutzungsarten übertragen sollten, wurde vom Gericht als 'aus sich heraus unangemessen benachteiligend und unwirksam' verboten."

Welt, 16.09.2011

Sarah Elsing betrachtet die Hochhaus-Ausstellung im Zürcher Museum für Gestaltung und lernt unter anderem: "Seit den Terroranschlägen wurde in New York kein Hochhaus mit Ausnahmecharakter mehr gebaut. Nach der Finanzkrise wurden vielversprechende Projekte abgesagt, Jean Nouvels spektakulärer MoMA-Turm vom Planungsamt kurzerhand um 60 Meter gekappt. Das liegt nicht nur an der Wirtschaftskrise und gültigen Baurichtlinien. New York scheint saturiert, was Hochhäuser angeht."

Weitere Artikel: Nach zwei Schmidt-Shows bei Sat 1 konstatiert Iris Alanyali: "Ein mittelmäßiger Harald Schmidt ist immer noch besser als der Durchschnitt seiner Kritiker." Der Berliner CDU-Spitzenkandidat Frank Henkel versichert in einem Gastbeitrag, dass er durchaus einen Kulturbegriff und Ideen für die Berliner Kulturpolitik habe. In seiner Feuilletonkolumne begutachtet Marc Reichwein mit der "Knallcharge" einen weiteren Liebling der Kritiker ("In der Süddeutschen Zeitung, das lernt jeder Feuilleton-Scanner schnell, treten überdurchschnittlich viele Knallchargen auf"). Matthias Heine liest den neuen Roman des Verlegers Alfred Neven-Dumont, "Vaters Rückkehr", als verkappte Botschaft an den aus der Art geschlagenen Sohn. Hans-Joachchim Müller flaniert über die Kunstbiennale von Lyon. Jan Küveler verfolgte den Deutschen Kongress für Philosophie in München mit Ehrengast Slavoj Zizek.

FR/Berliner, 16.09.2011

Harald Jähner war gut in Form. Vor den Berliner Wahlen beschreibt er das, was man sich unter dem Glück der Stadt vorstellen muss, so: "Mit Veränderung werben nur die Konservativen und die Piratenpartei, beide chancenlos. Ausgerechnet das breite linke Spektrum will dagegen, dass bleibt, was ist, und die Mehrheit der Bürger fühlt genau so. Von der Zukunft möchte man vor allem eins: von ihr verschont bleiben. Milieuschutz, Bestandschutz, Mieterschutz, Quartierschutz sind Berliner Lieblingsvokabeln. So beschleicht einen der Eindruck, dass Berlin, hätte es wirklich die Wahl, den Stillstand wählen würde. Genau hier, auf dem gefühlten Scheitelpunkt einer Übergangszeit, würde die Stadt Halt machen wollen und in Ruhe ihren Umbruch genießen."

Weiteres: Ziemlich uninteressiert fertigt Markus Schneider Mick Jaggers Allstar-Group Superheavy ab, die Dave Stewart, Damian Marley, Joss Stone und A.R. Rahman zusammenbringt, also "einen Zuspätkommer, einen Erben, eine Nachbauerin und einen weltmusikalischer Zufallsgast." Georg Imdahl berichtet, dass das Sprengel Museum in Hannover noch ein Gemälde von der Kölner Fälscherbande gekauft hat, als diese schon längst aufgeflogen war.

Besprochen werden Ulrike Ottingers poetische Film-Erzählung "Unter Schnee", eine Golo-Mann-Ausstellung in der Nationalbibliothek Frankfurt und Kate Atkinsons Krimi "Das vergessene Kind".

NZZ, 16.09.2011

Der Historiker Sören Urbansky widmet sich dem in China zunehmenden offiziellen Erinnerungskult um den 18. September- dem Beginn der japanischen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Urbansky sieht darin eher eine nationalistische Selbstinszenierung mit weltpolitischem Hintergrund : "Die Suche nach einer legitimen Ideologie, nachdem die Sowjetunion und die marxistischen Regime Osteuropas kollabiert waren, die Hoffnung, den Einfluss der Vereinigten Staaten und Japans in Ostasien zu schmälern, und der Wunsch nach einem Anschluss Taiwans sind weitere zentrale Faktoren, die zu dieser geschichtspolitischen Neuorientierung führten. Die Idee, China als ein Opfervolk des japanischen Imperialismus zu stilisieren, entstand somit zur gleichen Zeit, zu der auch die Volksrepublik als ernst zu nehmende Großmacht auf die Weltbühne zurückkehren sollte."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann hat Paris in seiner Spätsommerleere erkundet und den von David Lynch gestalteten Club "Silencio" besucht. In Berlin hat sich Sieglinde Geisel eine Ausstellung mit Bilder der Berliner Mauer aus den sechziger Jahren angesehen.

Besprochen werden die neuen Alben der beiden ehemaligen Bandkollegen Ry Cooder und John Hiatt.

TAZ, 16.09.2011

Julian Weber unterhält sich mit dem britischen Autor Simon Reynolds, der mit "Retromania" ein Buch über die Vergangenheitsversessenheit von Pop geschrieben hat, über guten und bösen Retro und die Zukunft des Pop. Über seine eigene Retrowerdung bekennt er: "Ich gehöre zu den vielen Menschen, die alte Musik obsessiv aus dem Internet heruntergeladen haben. Es war klar, dass ich mir all die Tracks nie würde anhören können. Ich hatte irgendwann darüber die Kontrolle verloren. Es war reine Zeitverschwendung. Ich bin sozusagen im Internet-Poparchiv ertrunken."

Besprochen werden die Werkschau "Carlo Mollino - Maniera moderna" im Münchner Haus der Kunst, in deren Zusammenhang die Sommerausgabe des Magazins 032c an die erotischen Fotografien des Architekten erinnern, und das Album "s/T" der dänischen Band The Late Great Fitzcarraldos.

Und Tom.

SZ, 16.09.2011

Mit einiger Begeisterung spricht der türkische Kurator Vasif Kortun über die Blüte, die Istanbul gerade erlebt. Zu verdanken sei das in erster Linie der regierenden AKP, die er durchaus kritisiert, aber nicht ihres Islamismus wegen: "Das Herumgereite auf ihrem angeblichen Islamismus ist Propaganda. (...) Sie sind Superneoliberale, das ist das Problem. Alles dreht sich um Profit. Istanbul wird noch einmal aufgeteilt und neu gebaut, dabei gibt es Gewinner und Verlierer."

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld hat bei Spiegel online Sibylle Lewitscharoffs Buchpreis-kurzgelisteten Roman "Blumenberg" als "hochliterarischen Liebling der Feuilleton-Germanisten akademischer Prägung" abqualifiziert gesehen und muss sich darüber erstens grundsätzlich und zweitens ohne Nennung der Quelle erregen (auch dieser Artikel von Richard Kämmerlings aus der gestrigen Welt dürfte gemeint sein). Im kurdischen Nordirak besucht Susanne Gmür das National Youth Orchestra of Iraq bei den Proben.

Besprochen werden Robert Carsens Wiener Inszenierung von Benjamin Brittens Oper "Turn of the Screw", die Ausstellung "Dürer, Cranach, Holbein" in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München und Bücher, darunter Michael Buselmeiers "Wunsiedel"-Roman (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 16.09.2011

Constanze Kurz nimmt den Titel ihrer Kolumne "Aus dem Maschinenraum" diesmal besonders wörtlich, nämlich metaphorisch, wenn sie die technische Architektur des Internets aufs Nautischste beschreibt: "Das Internet ähnelt einem großen Kreuzfahrtschiff, das nur von weitem betrachtet strahlend und stolz daherschwimmt. Wenn man ganz nach unten steigt, stellt man mit Erschrecken fest, dass das Schiff eigentlich eine Ansammlung notdürftig miteinander vertäuter Flöße ist, auf denen von findigen Kulissenbauern der Rumpf und nach und nach Sonnendecks und Salons errichtet wurden. Ganz unten sind nur modernde Holzstämme und einige leere Fässer, die das Schiff oben halten."

Weitere Artikel: Den von Tayyip Erdogan mit großem Erfolg gepflegten "türkischen Neo-Osmanismus, in dem sich islamische Überlegenheitssehnsucht mit patriotischer Ermutigung verbindet", analysiert Karen Krüger. Dass die Türkei wegen ihres Laizismus von den muslimischen Gruppierungen in Ägypten und Tunesien eher nicht als Vorbild gesehen wird, schildert im Gegenzug Joseph Croitoru. In höchsten Tönen lobt Dieter Bartetzko den Münchner Doppelneubau von Filmhochschule und Ägyptischem Museum im Museumsviertel der Stadt. Andreas Kilb nimmt mit Bedauern zur Kenntnis, dass das Berliner Literaturfestival in diesem Jahr nicht sonderlich gut besucht war. Hintergründe zur britischen Erfolgs-Adelsserie "Downton Abbey" schildert Gina Thomas, die auch den Drehbuchautor Julian Fellowes getroffen hat. Sehr unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Glücksspiel in Kiel und Wien glossiert Hannes Hintermeier. In Edo Reents' Sprachkolumne geht es ums "Artige".

Besprochen werden ein Auftritt von Matthew Golding und Anna Tsygankova mit Het Nationale Ballet in Amsterdam, Jan Schomburgs Thriller "Über uns das All" (mehr) und Bücher, darunter Jacques Chessex' letzter Roman "Der Schädel des Marquis de Sade" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).